PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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UVK Verlag Tübingen
10.2357/PM-2020-0023
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GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.Wie sieht die Welt durch die „agile Brille“ aus?
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Oliver Steeger
Aufgrund sich wandelnder Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel einer hohen Veränderungsgeschwindigkeit und dem Bedarf auch während einer Projektlaufzeit immer wieder neue Einflussfaktoren und Lösungsansätze integrieren zu können, arbeiten immer mehr Unternehmen mit agilem Projektmanagement. Scrum, Kanban, Design Thinking & Co. versprechen schnellere, kundenorientierte Ergebnisse und verbesserte Anpassungsfähigkeit von Unternehmen.
Nach der anfänglichen Euphorie stellen viele Unternehmen fest, dass allein neue Methoden Projekte und Unternehmen nicht wirklich agil machen. Irgendwas fehlt noch, damit die Methoden vollumfänglich wirksam werden können.
Die nachhaltige Umsetzung agiler Methoden scheitert häufig am fehlenden „agilen Mindset“, einer inneren Haltung für agiles Arbeiten, Kooperieren und Führen. Die Berater und Trainer Sabine Hennig und Martin Merdes kennen diese Schwierigkeit. Sie unterstützen Unternehmen, Führungskräfte und Mitarbeiter bei der Transformation zur agilen Organisation. Im Interview erklären sie, weshalb das Mindset essentiell ist für die erfolgreiche agile Transformation, wie es mit agilen Werten, Prinzipien und Methoden zusammenhängt – und wie sie Menschen begleiten, sich selbst erfolgreich zu verändern.
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Der individuelle Lernprozess führt zum agilen Mindset Wie sieht die Welt durch die „agile Brille“ aus? Im Interview mit Oliver Steeger | Aufgrund sich wandelnder Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel einer hohen Veränderungsgeschwindigkeit und dem Bedarf auch während einer Projektlaufzeit immer wieder neue Einflussfaktoren und Lösungsansätze integrieren zu können, arbeiten immer mehr Unternehmen mit agilem Projektmanagement. Scrum, Kanban, Design Thinking & Co versprechen schnellere, kundenorientierte Ergebnisse und verbesserte Anpassungsfähigkeit von Unternehmen. Nach der anfänglichen Euphorie stellen viele Unternehmen fest, dass allein neue Methoden Projekte und Unternehmen nicht wirklich agil machen. Irgendetwas fehlt noch, damit die Methoden vollumfänglich wirksam werden können. Die nachhaltige Umsetzung agiler Methoden scheitert häufig am fehlenden „agilen Mindset“, einer inneren Haltung für agiles Arbeiten, Kooperieren und Führen. Die Berater und Trainer Sabine Hennig und Martin Merdes kennen diese Schwierigkeit. Sie unterstützen Unternehmen, Führungskräfte und Mitarbeiter bei der Transformation zur agilen Organisation. Im Interview erklären sie, weshalb das Mindset essentiell ist für die erfolgreiche agile Transformation, wie es mit agilen Werten, Prinzipien und Methoden zusammenhängt-- und wie sie Menschen begleiten, sich selbst erfolgreich zu verändern. Immer mehr Unternehmen arbeiten mit agilen Methoden. Dann stellen sie fest: Die Mitarbeiter setzen die neuen Methoden nur halbherzig um. Auch dann, wenn sie scheinbar alles richtig machen, greifen die Methoden kaum. Aus Ihrer Sicht- - wo liegt das Problem? Martin Merdes: Das Problem liegt häufig darin, dass man agile Methoden in der Organisation verwendet- - aber das entsprechende agile Mindset bei den Handelnden nicht etabliert ist. Unternehmen führen beispielsweise Scrum, Design Thinking, Kanban oder Dailies ein. Die Beteiligten nehmen die neuen Arbeitsformen anfangs mit Neugier und Experimentierlust auf. Die Mitarbeiter wollen sie ausprobieren. Vielleicht spüren sie auch, dass man mit diesen Arbeitsmethoden besser in einer dynamischen, komplexen Welt arbeiten kann. Wo liegen die Schwierigkeiten genau? M. Merdes: Die Methoden sind nur ein Teil der agilen Transformation. Nehmen wir als Beispiel die iterative Arbeitsweise. Mit dieser Vorgehensweise kommt das innere Bedürfnis vieler Mitarbeiter nach Klarheit in Konflikt. Sie wollen Dinge abschließen. Sie wünschen sich oft, einen vollständigen stabilen Plan bis zum finalen Ziel zu haben. S. Hennig: Mitarbeiter und Führungskräfte müssen lernen, innerlich mit „unklaren Situationen“ klarzukommen, die bei der agilen Transformation vermehrt auf sie zukommen-- auch wenn die agilen Methoden darauf ausgelegt sind, Orientierung durch einen entsprechenden Rahmen zu geben. Aber Agilität bedeutet, die Schein-Sicherheit von langfristigen Plänen aufzugeben, wenn man in einer nicht planbaren Situation ist. Also der Veränderlichkeit der Situation Rechnung zu tragen-- mit der entsprechenden Vorgehensweise! Viele Unternehmen meinen, Mitarbeiter und Führungskräfte müssten bloß den Umgang mit den Methoden besser lernen-... S. Hennig: Das ist eine häufige Schlussfolgerung in den Unternehmen. Das Problem liegt aber sehr oft nicht bei den Methoden und ihrer Anwendung. Ganz im Gegenteil, uns scheinen viele Unternehmen sogar zu fixiert auf die Methodik. Wir sehen die Schwierigkeiten sehr oft bei der Nachhaltigkeit und Konsequenz, mit der die Methoden angewendet werden. Vie- Wissen Wie sieht die Welt durch die „agile Brille“ aus? DOI 10.2357/ PM-2020-0023 31. Jahrgang · 02/ 2020 19 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 31. Jahrgang · 02/ 2020 DOI 10.2357/ PM-2020-0023 04_Neuland.indd 19 28.04.2020 14: 33: 30 le Unternehmen hoffen, dass sie für mehr Agilität nur neue Methoden und Prozesse einzuführen brauchen. Der Wandel zur Agilität muss aber auch in den Köpfen stattfinden. Sonst bleiben die Veränderungen an der Oberfläche. Wo liegt das Problem genau? Weshalb ist die agile Transformation eine so große Herausforderung? M. Merdes: Es geht um eine Verhaltensänderung. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Angenommen, ein Mitarbeiter will seine Kommunikation verbessern. Er- - oder sogar seine Vorgesetzte-- hat erkannt: Er lässt häufig andere nicht ausreden. Er versucht seinen eigenen Standpunkt klarzumachen. Er könnte in dieser Situation versuchen, seine Fähigkeiten zu verbessern. Er könnte Gesprächs- und Fragetechniken lernen. Danach würde er mehr auf den Redeanteil in seinen Gesprächen achten. Er würde üben, eine Pause auszuhalten, ohne sofort weiter zu reden, wenn der andere nicht sofort antwortet. Solche technischen und methodischen Werkzeuge und Verfahren helfen tatsächlich Gespräche besser zu machen-... Aber? M. Merdes: Hinter diesen Methoden und Techniken stecken auch Werte, Prinzipien und ein Mindset. Wenn der Mitarbeiter in Gesprächen bei seinem alten Mindset bleibt, wird er wahrscheinlich immer wieder Mühe mit den Methoden haben. Es fällt ihm schwer, sich zurückzuhalten. Er hat Sorgen, dass er nicht gehört wird oder der Dialog zu langsam ist. Er befürchtet, dass ihn der Gesprächspartner nicht richtig versteht und dass er noch mehr Erklärungen braucht. Was bewirkt das Mindset hier genau? M. Merdes: Der Mitarbeiter kommt zu der Einstellung, dass Gesprächspartner meistens sehr interessante andere Punkte ergänzen können, die dann auch die Lösungen und Vorgehensweisen besser machen. Er erkennt, dass der andere einen anderen Blick auf die Welt hat und es sich lohnt, diesen zu verstehen. Er sieht den anderen als gleichberechtigt-- und behandelt ihn auch als gleichberechtigt. Damit entwickelt er ein neues Mindset. Was ist dann mit den Methoden? M. Merdes: Die Techniken sind dann eine Bereicherung und eine Möglichkeit, wie man andere wirklich besser verstehen kann. Aber: Solange diese Techniken nur Werkzeuge sind und die Einstellung sich nicht ändert, wird ihre Anwendung immer mühsam bleiben. Man wird sie wahrscheinlich irgendwann beiseitelegen. Wie darf ich mir dies beim agilen Mindset genau vorstellen? S. Hennig: Ohne diese agile Haltung, die den Methoden zugrunde liegt, fallen beispielsweise Entscheidungsträger leicht in alte Muster zurück- - häufig direkt bei den ersten Schwierigkeiten. Das beschädigt dann die Glaubwürdigkeit der Veränderung. Bei den Transformationen müssen die Absichtserklärungen und die Einladungen zum Mitdenken von der notwendigen Glaubwürdigkeit getragen sein. Fehlt sie, ist die Einführung und Anwendung der Methoden nicht nachhaltig. M. Merdes: Der Wandel verlangt nicht nur neue Methoden, sondern auch ein neues Rollen- und Selbstverständnis sowie eine veränderte Denk- und Bewertungsweise. Das braucht oft viel mehr Zeit als das reine Verstehen der Methode. Inwiefern? S. Hennig: Agile Methoden werden aktuell viel diskutiert. Hinter diesen Methoden liegen aber bestimmte Prinzipien und Werte. Also Prinzipien für agiles Arbeiten, etwa: Experimentieren, iteratives Vorgehen, kontinuierliches Verbessern, Selbstorganisation, aktive Einbindung der Beteiligten, Verantwortung und Empowerment. Es geht darum, in Unternehmen diese Prinzipien zu realisieren. Darauf kommt es an. Zudem gibt es eine Reihe von agilen Werten, auf denen die Prinzipien beruhen. Zu diesen Werten zählen etwa Offenheit, Selbstverpflichtung, Vertrauen, Transparenz und Kommunikation. Agilität heißt, die Schein- Sicherheit von langfristigen Plänen aufzugeben, wenn man in einer nicht planbaren Situation ist. (Illustration: Leszek Skurski) Wissen | Wie sieht die Welt durch die „agile Brille“ aus? 20 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 31. Jahrgang · 02/ 2020 DOI 10.2357/ PM-2020-0023 04_Neuland.indd 20 28.04.2020 14: 33: 31 Das heißt, wir haben agile Prinzipien und agile Werte. Die Methoden sind ein Ausdruck dieser Prinzipien und Werte. M. Merdes: Richtig! Erst diese agilen Prinzipien und Werte machen den erwünschten Wandel nachhaltig. Sie ermöglichen es, in einem dynamischen, unsicheren und komplexen Umfeld Projekte durchzuführen. Ein Beispiel: In einem dynamischen, innovationsgetriebenen Umfeld ergibt langfristige Planung keinen Sinn. Es ist zielführender, sich im Dialog mit dem Kunden dem Projektziel iterativ, mit kleinen Schritten zu nähern. Die Scrum-Methode definiert eine Umsetzung von Prinzipien wie Iteration, Experimentieren und kontinuierlichem Verbessern in Mini-Schritten. Wo liegt die Herausforderung für Mitarbeiter? M. Merdes: Sie müssen nicht nur die Methoden beherrschen, sondern diese Prinzipien und Werte aktiv und glaubwürdig leben. Die Menschen müssen auf neue Weise kooperieren, kommunizieren und führen. Sie müssen Verantwortung übernehmen, aus Fehlern lernen und unternehmerisch denken. Wie darf ich dies genau verstehen? M. Merdes: Ich erkläre es an einem Beispiel. Denken Sie an die Umsetzung von Projektplänen. Im früheren, klassischen Projektmanagement waren Planabweichungen negativ besetzt. Projektmanager und Mitarbeiter haben alles drangesetzt, um sie zu vermeiden-- oder im schlimmsten Fall zu vertuschen. Mit einem veränderten, agilen Mindset blicken die Beteiligten anders auf solche Abweichungen. Anders-- in welcher Form? M. Merdes: Die Beteiligten versuchen neue Erkenntnisse zu gewinnen und daraus zu lernen. Mögliche Fragen könnten sein: Welche Informationen stecken in den Abweichungen- - etwa über den Kunden und dessen Bedürfnisse oder zu Annahmen über Randbedingungen, die erst jetzt bewusst werden? Welche Fehlannahmen liegen möglicherweise dahinter? Was lehren diese Abweichungen für die Zukunft? Wie kann man schnell und offen darüber mit anderen sprechen und passende Maßnahmen ergreifen? Solche Fragen sind Ausdruck eines agilen Mindsets. Die Methoden sind dann eher die Vorgehensweisen, etwa regelmäßige Meetings oder entsprechend strukturierte Dokumente, mit deren Hilfe die Fragen systematisch beantwortet werden. Sprechen wir näher über das agile Mindset. Was beschreibt diesen Begriff genau? Was ist mit dem Mindset gemeint? S. Hennig: Mindset beschreibt die persönlichen Haltungen, Grundannahmen und Glaubenssätze. Beispielsweise Glaubenssätze, wie professionelles Projektmanagement funktioniert. Zu diesen Grundannahmen und Glaubenssätzen kommen auch persönliche Bedürfnisse, etwa das Bedürfnis nach Planbarkeit, Sicherheit, Perfektion oder Zugehörigkeit. Angenommen, ein Projektmanager hat bisher in einem Umfeld gearbeitet, das die Prinzipien langfristiger Planung und linearer Optimierung fordert und belohnt. Der Projektmanager weiß aus seiner Erfahrung: Er führt ein Projekt dann gut, wenn er alles konsequent kontrolliert und zusammenhält. S. Hennig: Genau! Da ist es doch völlig menschlich, wenn es diesem Projektleiter schwerfällt, etwa iterativ in enger Zusammenarbeit mit dem Kunden vorzugehen. Er hat Schwierigkeiten, Änderungen wirklich als Beitrag zur Qualität zu betrachten, Selbstorganisation der Mitarbeiter zuzulassen, Experimente zu wagen und Fehler als Lernschritte zu nutzen. Wie wirkt da ein Mindset genau? M. Merdes: Ein Mindset, also eine Brille, durch die er aufs Leben schaut, hat jeder von uns. Das Phänomen „Mindset“ ist also nicht neu. Meistens sind wir uns dessen aber nicht bewusst. Auch das klassische Projektmanagement ist durch Offenheit, Selbstverpflichtung, Vertrauen, Transparenz und Kommunikation-- diese agilen Werte liegen hinter den agilen Methoden. (Illustration: Leszek Skurski) Wissen | Wie sieht die Welt durch die „agile Brille“ aus? 21 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 31. Jahrgang · 02/ 2020 DOI 10.2357/ PM-2020-0023 04_Neuland.indd 21 28.04.2020 14: 33: 31 Die Entwicklung des agilen Mindsets ist ein Lernprozess, der unter anderem Reflektion und Dialog erfordert. (Illustration: Leszek Skurski) ein bestimmtes Mindset geprägt. Nur: Wir haben nie darüber gesprochen. Es war nie ein Thema. Wir haben es immer stillschweigend vorausgesetzt-- auch, weil es für Projekte in weniger dynamischen Kontexten hervorragend funktioniert hat. S. Hennig: Es ist ja auch nicht falsch ... Was, bitte, ist nicht falsch? S. Hennig: Das Mindset, auf dem die klassischen Vorgehensweisen beruhen. Dieses Mindset hat ja lange zu guten Ergebnissen geführt. Es hilft in Situationen, die gut planbar sind- - oder wenn es genügend Reaktionszeit für Plankorrekturen gibt. Aber: In der so genannten VUCA-Welt stößt dieses Mindset an seine Grenzen. Die Frage ist daher nicht, welches Mindset „richtig“ ist, sondern welches Mindset zu dem „Spielfeld“ passt, auf dem man sich gerade bewegt und arbeitet. War das alte Mindset bisher ein Erfolgsgarant, so kann man es natürlich nicht von jetzt auf gleich ändern. Es handelt sich um einen Entwicklungsprozess, der Mut sowie die Bereitschaft für neue Erfahrungen und eigenes Wachstum erfordert. Weshalb halten sich alte Mindsets so zäh? M. Merdes: Hinter einem Mindset stehen tiefgreifende Glaubenssätze, zum Beispiel, dass lineare Optimierung der beste Weg zum Ziel ist. Plant der Projektmanager genug, strengt er sich an- - dann kann er einen guten, zuverlässigen Plan erstellen. Die ganzen Planungsmethoden, die im Projektmanagement entwickelt wurden, fußen auf diesem Glaubenssatz. Sie machen ein Teil dessen aus, was Projektmanager ihre Professionalität nennen. S. Hennig: Neben Glaubenssätzen geht es dabei auch um persönliche Bedürfnisse. Wir haben alle das Bedürfnis, sozial anerkannt zu werden und als professionell zu gelten. Angenommen, ein Projektmanager versteht Kontrolle und Wissensvorsprung als Teil seiner Rolle: Da ist es für ihn eine große Umstellung, dass sich im agilen Umfeld Teams selbst organisieren und eigenverantwortlich Entscheidungen treffen. Lässt sich ein agiles Mindset überhaupt lernen? Kann jeder Mitarbeiter, jede Führungskraft dieses Mindset entwickeln? M. Merdes: Prinzipiell ja. Unser Gehirn ist ein Leben lang enorm anpassungsfähig. Wir können uns weiterentwickeln, wenn wir neue Erfahrungen machen. Das ist eindeutig durch die Neurobiologie bewiesen und wird Neuroplastizität genannt. Die Frage ist, wie man Menschen dazu einlädt, am Gestaltungsprozess beteiligt und sie dabei begleitet. Wie geht man mit Einwänden und Widerständen um? Wie ernst nimmt man sie? Wie schafft man ein Umfeld, das es leicht macht, sich auf neue Erfahrungen einzulassen? Was ist hilfreich, um ein agiles Mindset zu entwickeln? Was sollten Mitarbeiter und Führungskräfte mitbringen? S. Hennig: Ganz am Anfang steht die persönliche Entscheidung, sich überhaupt auf einen Lernprozess einlassen zu wollen. Dann ist es sehr hilfreich, wenn Mitarbeiter und Führungskräfte ein dynamisches Selbstbild haben statt eines statischen. Menschen mit einem statischen Selbstbild gehen davon aus, dass sie sich nicht verändern können. Sie denken, dass sie eben sind, wie sie gerade sind. Was machen Menschen mit einem dynamischen Selbstbild anders? S. Hennig: Menschen mit einem dynamischen Selbstbild wissen, dass sie sich auch grundlegend verändern können. Man spricht da von einem Growth Mindset, eine Haltung, die persönliches Wachstum als erstrebenswert und sinnvoll bejaht. Carol Dweck, Psychologieprofessorin an der Stanford Wissen | Wie sieht die Welt durch die „agile Brille“ aus? 22 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 31. Jahrgang · 02/ 2020 DOI 10.2357/ PM-2020-0023 04_Neuland.indd 22 28.04.2020 14: 33: 31 University, hat dieses Konzept des „Growth Mindset“ entwickelt. Menschen mit einem Growth Mindset gehen davon aus, dass die Erfahrung, die sie machen, zu persönlichem Wachstum führt. M. Merdes: Menschen mit einem Growth Mindset haben Freude am Lernen. Sie wollen sich durch jede Art von Erfahrungen weiterentwickeln. Dafür nehmen sie auch Anstrengungen und Rückschläge in Kauf. Sie schätzen auch Fehler und Scheitern als Quelle für neue Erfahrungen, an denen sie wachsen. Auch hilft dieses Mindset mit Mehrdeutigkeiten besser umzugehen. Menschen mit einem Growth Mindset gehen offener auf diese Mehrdeutigkeit zu. Sie sehen diese als Chance. Werfen wir einen Blick in die Praxis. Die Entwicklung eines agilen Mindsets haben Sie vorhin als einen individuellen Prozess des Lernens und des Sammelns von Erfahrungen beschreiben. In Ihren Trainings arbeiten Sie mit Ihren Teilnehmern an ihrem agilen Mindset. Wie darf ich mir dies in der Praxis vorstellen? S. Hennig: Die meisten Teilnehmer haben starke Sympathie für die agile Arbeitsweise. Doch sie sagen häufig, dass sie sich selbst bei einer konsequenten Umsetzung im Wege stehen. Das gewohnte Verhalten gibt Sicherheit. In schwierigen Situationen kann es daher leicht passieren, dass man in altes Fahrwasser gerät. In unseren Trainings schauen wir, welche agilen Stärken und Verhaltensweisen jeder Einzelne bereits mitbringt. Es geht vorrangig darum, diese vorhandenen Ressourcen zu stärken und auch in schwierigen Situationen für den Einzelnen abrufbar zu machen. Dabei knüpfen wir an Situationen an, in denen agiles Arbeiten bereits gelungen ist. M. Merdes: Wir unterstützen unsere Teilnehmer, sich auf die agile Welt zunächst einzulassen. Wir erklären die Bedeutung des Mindsets und reflektieren mit unseren Teilnehmern, was das agile Mindset für sie bedeutet. Dann schaffen wir den Rahmen für Lernen und positive Erfahrungen, die wir dann weiter bestärken. Die Teilnehmer setzen versuchsweise die agile Brille auf und betrachten die Welt aus der agilen Perspektive. Das agile Mindset wird direkt erlebbar und erfahrbar. Wenn die Teilnehmer das agile Mindset auf diese Weise spüren, dann erkennen viele, dass sie damit ihre Ziele und die Ziele des Unternehmens besser erreichen. Dass sie auch mehr Befriedigung in der Arbeit finden und Spaß an der Kooperation haben. Dass alle Seiten davon profitieren. Augenblick! Eben haben Sie von tiefwurzelnden Glaubenssätzen und essentiellen Bedürfnissen gesprochen. Die kann man doch nicht von heute auf morgen ausradieren und ersetzen … S. Hennig: Genau dies wollen wir ja auch nicht! Ich fände es zutiefst respektlos, zu versuchen, Menschen zu verbiegen. Glücklicherweise begegnen die Menschen solchen Versuchen mit starkem Widerstand-- was völlig in Ordnung und gesund ist. Wir bieten an, neue Erfahrungen zu machen. Erleben die Teilnehmer wiederholt, dass sie mit veränderten Bewertungen und Entscheidungen erfolgreich sind-- dann werden neue Denkmuster und Sichtweisen gestärkt. Wir ermöglichen dabei alternative Perspektiven, und wir verstehen uns als Begleiter des individuellen Veränderungsprozesses. Das heißt? S. Hennig: Ich erkläre dies an einem Beispiel. Stellen Sie sich einen stark hierarchieorientierten Manager vor. Er ist es gewohnt, Anweisungen zu geben und Ergebnisse der Mitarbeiter zu kontrollieren. Damit hat er Erfolg gehabt und viel bewegt. Im Laufe der Zeit hat dieser Manager erkannt, dass sich die Welt um ihn herum verändert. Er sieht ein, dass es bei Projekten zu besseren Ergebnissen kommt, wenn er seine Mitarbeiter fördert, wenn er ihnen mehr Verantwortung und Entscheidungsspielräume überträgt. In unseren Trainings hat er Gelegenheit, diese agilen Anteile in seinem Mindset weiter zu stärken. Vielen Mitarbeitern ist die agile Arbeitsweise sympathisch. Sie stellen aber häufig fest, dass sie die Methoden nicht konsequent genug umsetzen können. Eine bewusste Entwicklung des individuellen agilen Mindsets würde sie dabei unterstützen. (Illustration: Leszek Skurski) Wissen | Wie sieht die Welt durch die „agile Brille“ aus? 23 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 31. Jahrgang · 02/ 2020 DOI 10.2357/ PM-2020-0023 04_Neuland.indd 23 28.04.2020 14: 33: 32 Sabine Hennig Sabine Hennig (Neuland Partners for Development & Training GmbH & Co. KG) ist seit 2009 Trainerin, Beraterin, Coach und Moderatorin. Die Diplom-Betriebswirtin (Wirtschaftsinformatik) hat einen Global Executive MBA (University of Toronto) und war über 16 Jahre in internationalen IT- und OE-Projekten tätig, unter anderem als Programm- und Projektmanagerin. Sie hat Führungserfahrung mit verteilten und multinationalen Teams. Heute bildet sie unter anderem Fachleute für Agilität aus und entwickelt dabei mit den Teilnehmern das agile Mindset. Martin Merdes Martin Merdes ist seit 2010 Coach, Trainer, Berater und Moderator. Zuvor hat der Diplom-Ingenieur über zehn Jahre internationale Produktionsoptimierungsprojekte geleitet, war Führungskraft bei der Fraunhofer-Gesellschaft und technischer Consultant in der Automatisierungstechnik. 2016 wurde er von Focus und XING zum Top-Coach des Jahres in den Kategorien „Führungskräfte-Coaching“ und „Work-Life-Balance-Coaching“ ausgezeichnet. Martin Merdes ist geschäftsführender Gesellschafter der Neuland Partners for Development & Training GmbH & Co. KG. Konkret? S. Hennig: Wir würden ihn ermutigen, diese Anteile zunächst in dem geschützten Raum des Trainings auszuprobieren. Er kann schauen, was für ihn funktioniert und wo er dieses im beruflichen Alltag vielleicht bereits umsetzt. Fühlt er sich gut damit, begleiten wir ihn, allmählich neue Gewohnheiten zu festigen. Aber: Das heißt nicht, dass wir das Bedürfnis nach Planbarkeit und Sicherheit ignorieren. Wir überlegen gemeinsam mit dem Teilnehmer, wie er dieses Bedürfnis auch in einer agilen Welt erfüllen kann. Es wird quasi ein agiles Mindset neben das klassische gesetzt? M. Merdes: So kann man dies beschreiben. Nehmen Sie beispielsweise die Glaubenssätze. Wir wollen und können diese nicht verändern. Was unserer Erfahrung nach allerdings möglich ist: Wir können ihnen Alternativen an die Seite stellen. Nehmen wir als Beispiel den verbreiteten Glaubenssatz, dass nur perfekte Planung zu einem guten Ergebnis führt. Wir können Erfahrungen ermöglichen, die zeigen: Unter bestimmten Rahmenbedingungen bringen Minischritte und iterative Vorgehensweise in enger Zusammenarbeit mit dem Kunden besser voran. S. Hennig: Dies kann man gut erklären anhand von Antreibersätzen, Sätzen, die oft mit „Ich muss“ beginnen. Ein solcher Antreibersatz ist beispielsweise „Ich muss mein Projekt perfekt planen.“ Bei unseren Trainings stellen Teilnehmer diesen Antreibersätzen Erlaubersätze zur Seite, die für sie persönlich stimmig sind. Beispielsweise: „Ich führe das Projekt sicher, indem ich mich oft und eng mit allen Beteiligten abstimme oder wir jederzeit reagieren können.“ M. Merdes: Antreibersätze sind in bestimmten Situationen sinnvoll. Dies ist wichtig zu respektieren. Aber in anderen Situationen brauchen sie einen „Buddy“ an der Seite, der sie ausbalanciert. Indem wir solche Erlaubersätze kultivieren, integrieren wir Vorhandenes wertschätzend. Die Teilnehmer ergänzen ihre Sichtweise. Solche Antreibersätze erzeugen bekanntlich auch Stress. Sie setzen Menschen unter inneren Druck. Wirkt ein agiles Mindset gewissermaßen auch entlastend für Menschen, die bislang ein klassisches Mindset hatten? S. Hennig: Mit Sicherheit! Besonders ein agiles Umfeld kann Menschen mit einem eher klassischen Mindset sehr unter Stress setzen. Für Menschen, die das Erbringen möglichst perfekter Ergebnisse gewohnt sind, sind Experimente und Fehler eine starke Belastung. Das agile Mindset macht es ihnen einfacher zu verstehen, dass Fehler zu neuem Wissen und zu besseren Ergebnissen für den Kunden führen. Mit dieser Stressreduzierung können wir viele Teilnehmer abholen. Das ist für viele ein stichhaltiges Argument, sich dem agilen Mindset zu öffnen. M. Merdes: Für einige Teilnehmer ist die Erkenntnis hilfreich, dass je nach Umfeld ein anderes Mindset erforderlich ist. In einem komplizierten Projektumfeld sind sie mit dem klassischen Mindset erfolgreich. Anders in einem komplexen oder gar chaotischen Umfeld. Dort sind sie besser mit einem agilen Mindset beraten. Wenn sie verstehen, dass das agile Mindset solch eine Erweiterung für sie ist-- dann steht die Tür offen für den persönlichen Entwicklungsprozess. Abbildungsnachweis: Alle Illustrationen in diesem Beitrag wurden erstellt von Leszek Skurski, das Copyright liegt bei der Neuland Partners for Development & Training GmbH & Co. KG. Wissen | Wie sieht die Welt durch die „agile Brille“ aus? 24 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 31. Jahrgang · 02/ 2020 DOI 10.2357/ PM-2020-0023 04_Neuland.indd 24 28.04.2020 14: 33: 32
