eJournals PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL 31/2

PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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2941-0878
2941-0886
UVK Verlag Tübingen
10.2357/PM-2020-0027
511
2020
312 GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.

Neue Perspektiven auf das Controlling in VUCA-Zeiten

511
2020
Helge F. R. Nuhn
Norbert Schaffitzel
Controlling-Systeme sind wichtig für Unternehmen, um Steuerung und Ausrichtung sicherzustellen. Diese Denkweise wird jedoch durch die moderne Wahrnehmung herausgefordert, da eine „VUCA-Umwelt“ andere Anforderungen an Steuerung und Ausrichtung stellt. Während bewährte Praktiken in Controlling-Systemen nahezu alle Unternehmensbereiche durchdrungen haben, plädieren wir für die kritische Reflexion einiger, besonders typischer Controlling-Praktiken. Wir argumentieren, welche negativen Seiteneffekte deren Nutzung in agilen Unternehmensformen haben und welche Ordnungsparameter man stattdessen verwenden sollte. Zugleich geht es um die möglichen Schritte in Richtung agiler Selbstorganisation wie in unserem Management 4.0-Ansatz beschrieben, ohne jedoch Controlling als Ganzes zu verpönen.
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Controlling und Management 4.0 Neue Perspektiven auf das Controlling in VUCA-Zeiten Helge F. R. Nuhn, Norbert Schaffitzel Für eilige Leser | Controlling-Systeme sind wichtig für Unternehmen, um Steuerung und Ausrichtung sicherzustellen. Diese Denkweise wird jedoch durch die moderne Wahrnehmung herausgefordert, da eine „VUCA-Umwelt“ andere Anforderungen an Steuerung und Ausrichtung stellt. Während bewährte Praktiken in Controlling-Systemen nahezu alle Unternehmensbereiche durchdrungen haben, plädieren wir für die kritische Reflexion einiger, besonders typischer Controlling-Praktiken. Wir argumentieren, welche negativen Seiteneffekte deren Nutzung in agilen Unternehmensformen haben und welche Ordnungsparameter man stattdessen verwenden sollte. Zugleich geht es um die möglichen Schritte in Richtung agiler Selbstorganisation wie in unserem Management 4.0-Ansatz beschrieben, ohne jedoch Controlling als Ganzes zu verpönen. Schlagwörter | Auslastung, Beyond Budgeting, Budgets, Controlling, Management 4.0, ToC, Umsatzsteigerung Die Fachgruppe „Agile Management“ der GPM macht sich Gedanken über die grundsätzlichen Zusammenhänge in Organisationen und inwieweit das Management die Agilität in Organisationen erhöhen kann. Controlling ist eine häufig genannte Herausforderung, wenn es die Agilität einer Organisation zu steigern gilt. Die Autoren des Artikels argumentieren, dass auch agile Organisationen Management und damit Controlling benötigen. Allerdings ein Management 4.0, d.h. ein Management der neuesten Generation, und damit auch ein anders ausgestaltetes Controlling sowie andere Ansätze der Steuerung. 1. Einleitung - Warum wir Controlling haben Mit der Erfindung des Prinzips der arbeitsteiligen Wertschöpfung wurde auch das Management von produktiver Tätigkeit relevanter. In dem Augenblick, in dem das Prinzip geboren war, wurde nämlich der Wert von Koordination von Arbeit, relativ betrachtet wertiger. Wenngleich der Effekt zu Beginn der Arbeitsteilung noch gering war, ist er im Laufe der Zeit und durch Epochen wie dem industriellen Zeitalter und nun dem Zeitalter der Digitalisierung zunächst größer geworden. Controlling-Systeme sind in Unternehmen weitverbreitete Management-Werkzeuge. Sie basieren häufig auf Leistungskennzahlen, oder „Performance Indicators“, und weisen eine Reihe von typischen Prozessen auf. Je agiler Organisationen werden, desto eher wird durch die Beteiligten die Inkompatibilität zwischen bestehenden Steuerungsmodellen einerseits und den Notwendigkeiten der Steuerung für und von selbstorganisiert arbeitenden Projekt-Teams andererseits festgestellt. Das Management produktiver Prozesse in einem Unternehmen hat sich zu einer eigenen Disziplin entwickelt. Seine Bedeutung und sein Wert spiegeln sich auch in der Ausbildung von künftigen Betriebswirten wider, die frühzeitig mit den Mechanismen von fundamentalen Produktionsfunktionen in Ausbildung oder Studium vertraut gemacht werden. Controlling-Systeme sollen die Koordinationsfunktion des Managements unterstützen und beispielsweise Manager von Produktionsprozessen in die Lage versetzen, diese unter Kontrolle zu behalten. Das Prinzip hinter Controlling-, oder Steuerungs-Systemen hat sich in viele Querschnittsbereiche von Unternehmen ausgeweitet. So sieht man vergleichbare Ansätze, Methoden und Kennzahlen auch in funktionalen Teilbereichen, wie beispielsweise dem Qualitätsmanagement, Wissen Neue Perspektiven auf das Controlling in VUCA-Zeiten DOI 10.2357/ PM-2020-0027 31. Jahrgang · 02/ 2020 46 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 31. Jahrgang · 02/ 2020 DOI 10.2357/ PM-2020-0027 08_Nuhn.indd 46 28.04.2020 14: 37: 03 Value Chain Management, Finanzen & Controlling, Vertrieb, HR/ Personalwesen, Marketing, Beteiligungsmanagement und vielen mehr. Auch in produktiven Fachabteilungen werden selbst gestaltete Controlling-Systeme verwendet, um die Produktion an sich zu steigern. Hinter allen diesen genannten Bereichen lässt sich ein „-controlling“ anhängen, und schon wird der Anspruch deutlich, dass etwas irgendwo begrenzt systematisch gesteuert werden soll. Wo ein Steuerungsanspruch im Großen („global“) besteht, da besteht mitunter auch einer im Kleinen („lokal“). Schließlich sind es auch Projektmanager und -controller die typischerweise eigene Controlling-Systeme entwickeln, um Planungs-, Kontroll- und Steuerungsunterstützung im Projekt zu erlangen. Dabei greifen sie auf bewährte Praktiken zurück. Aufgrund der Anforderungen des Unternehmenscontrollings bestehen jedoch häufig schon Strukturen außerhalb des Projektes, die zu bedienen sind. Wo Management ist, ist also auch Controlling. Fraglich ist, ob diese Ansätze, wenngleich altbewährt und „proven practice“, auch nach wie vor sinnhaltig und geeignet sind. In „VUCA-Zeiten“ ist dies nicht immer unmittelbar gegeben, weil Exploration wichtiger wird als Exploitation. Entwickelt sich ein neues Management, muss sich auch ein anderes Controlling entwickeln. Es stellen sich daher die zentralen Fragen: • Was sind die bedeutsamsten Probleme konventioneller Controlling-Systeme in einer neuen Management-Welt? • Wie sehen Controlling-Systeme im Management 4.0, also einer Führung zu Selbstorganisation, aus? • Wie werden Controller in Management 4.0-Umgebungen arbeiten? 2. Controlling im Kontext aktueller Herausforderungen Controlling ist nicht wertschöpfend per se, sondern zeigt seine wertschöpfende Wirkung nur indirekt. Daher ist nachvollziehbar, dass von Controlling-Prozessen hohe Grade der Effizienz abverlangt werden. Benchmarks über sämtliche Industrien beschäftigen sich mit der Frage, inwiefern Controlling-Strukturen zu groß oder angemessen ausgestaltet sind. Akteure, die in irgendeiner Weise „Controlling“ ausführen, kennen die Notwendigkeit der permanenten Rechtfertigung von Aufwand und Nutzen. Praktisch orientiert Handelnde machen sich in einem solchen Fall ein universell beobachtbares Muster zu eigen: Sie bringen Konzepte, Ansätze und Prozesse zur Anwendung, die nachgewiesenermaßen gut funktionieren. Da der Bedarf an solchen Mustern in ihrer Summe hinreichend groß ist, bilden sich Gemeinschaften, die diese Konzepte, Ansätze und Prozesse definieren, verwalten und vorhalten. Sie sind meist lange, intensiv, wohldurchdacht und von Experten gestaltet. Im Fall des Controllings gibt es beispielsweise das Prozessmodell des Internationalen Controller Vereins (ICV). Nicht nur „wie“ controlled wird, ist Gegenstand von Standardisierung, sondern auch „was“ und „mit welchen Mitteln“. Dies zeigt sich in der Ausgestaltung von Controlling-Systemen, die ebenfalls gut funktionierende Muster übernehmen: Prozesse, Kennzahlen, Industrie- oder Funktionen-individuelle Key Performance Indicators (z.B. Marketing- oder eCommerce-spezifische Kennzahlen) und unterschiedliche Analyseansätze haben lange Zeit die gewünschten Wirkungen gebracht und konnten im Zeitverlauf immer weiter optimiert werden. Sie haben vermeintlich ganz genau die gewünschten Effekte auf das zugrundeliegende System ausgeübt. Die Realität wurde abzubilden versucht, konzeptionelle Rahmen für Pläne und Forecasts entwickelt, die wiederum Grundlage von Abweichungsanalysen und Steuerungsimpulse sind. Durch ihre Ausgestaltungen bieten Controlling-Systeme einen modellhaften Überblick über den zugrundeliegenden realen Steuerungsgegenstand an. Sie helfen dem Betrachter vom Gesamtbild her zu beurteilen, welche Teilaspekte gerade von besonderem Interesse sind. Problematisch wird dieser Ansatz, bewährte Praktiken wiederzuverwenden und fortzuführen, wenn die Grundannahmen sich verändern. Dies ist jedoch das Paradigma unserer Zeit: Wir leben in einer vermeintlich komplexeren, unsichereren, schnelllebigeren und vor allem uneindeutigeren Welt, der derzeit vielbeschworenen „VUCA-Welt“. Konventionelle Controlling-Systeme haben sich nicht auf einen solchen Kontext einstellen müssen, da es maßgeblich bedeuten würde, dass vormals statische Ziele zu beweglichen Zielen werden. Die erwünschten einfachen, linearen Wirkungszusammenhänge, die man postulierte, stellen sich heute zunehmend als nicht mehr haltbar heraus. Je uneindeutiger die Ziele dazu werden, desto schwieriger werden die Ausgestaltungen von Controlling-Systemen, die eine Organisation heute benötigt. Obendrein kommt die Erkenntnis, dass Organisationen grundsätzlich komplexe, selbstorganisierte Systeme sind. Sie absolut kontrollieren zu können, würde bedeuten, ein mindestens ebenso komplexes System aufzubauen, das die Kontrolle ausübt. Der Manager, der gesehen hat, dass agile Organisationen oder zumindest Teile von Organisationen selbstorganisiert in bisher unvorstellbaren Geschwindigkeiten Erfolge produzieren, sehen sich in einem Dilemma: sie müssen offensichtlich den Herausforderungen des Kontextes an Geschwindigkeit, Flexibilität und Reagibilität Rechnung tragen. Die Frage ist für sie daher, wie kann ich Selbstorganisation fördern, gleichzeitig aber Kontrolle ausüben, so dass die Richtung weiter die Gewünschte bleibt? Standardisierte Prozesse, die auf maximale Effizienz ausgelegt sind, scheitern regelmäßig, wenn sie mit gesteigerter Komplexität, Geschwindigkeit, Unsicherheit und Uneindeutigkeit konfrontiert werden. Standardisierung zum Zweck der Effizienzerhöhung steht dann im Konflikt mit der Zielsetzung von Adaptivität und Agilität. Ein Management der neuesten Generation muss auch ein entsprechendes Controlling aufweisen. Dabei sei nicht behauptet, dass die bisher erarbeiteten Strukturen, Prozesse, Ansätze und Kennzahlen allesamt schlecht seien. Sie sind lediglich in anderen Kontexten nicht mehr so hilfreich wie zuvor. 3. Übliche Muster Die heutigen betriebswirtschaftlichen Ansätze der Kostenrechnung und des Controllings sind schon seit längerem in der Kritik in Bezug auf Ihre Qualitäten als Führungs- und Steuerungsinstrumente für die Unternehmen geraten. Die Kritikpunkte setzen an einer Vielzahl von verschiedenen Punkten an.Im vorliegenden Kontext eines Management 4.0 genügt es jedoch, wenn wir uns mit den folgenden Themenstellungen befassen: Wissen | Neue Perspektiven auf das Controlling in VUCA-Zeiten 47 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 31. Jahrgang · 02/ 2020 DOI 10.2357/ PM-2020-0027 08_Nuhn.indd 47 28.04.2020 14: 37: 04 1. Budgets - mit Fokus auf die Vorgehensweisen bei Budgetierung und Budgetplanung 2. Umsatzsteigerung - mit Fokus auf steigende Grenzkosten bei einseitiger Betonung von Umsatzzielen 3. Auslastung sowohl von Maschinen als auch von Menschen Budgets Budgetierung und die betriebswirtschaftliche Steuerung über Budgets kann ziemlich genau 100 Jahre zurückverfolgt werden [1]. Sie ist ein weitverbreitetes Management-Paradigma geworden, das auch aus keiner betriebswirtschaftlichen Ausbildung wegzudenken ist. Die Betrachtung der Planung und Steuerung über Budgets und deren Kritik, mündet heute in den verschiedenen Ansätzen eines „Beyond Budgeting“ (siehe hier vor allem [2]; aber zum Beispiel auch die entsprechende Themen-Seite der Fachplattform controllingportal.de/ Fachinfo/ Budgetierung). Die „Budgetproblematik“ tangiert vielfältige Bereiche des Führungs- und Planungsprozesses im Unternehmen. Aus der Perspektive eines Management 4.0 fokussiert sich die Betrachtung auf die folgenden Aspekte. Budgets und die damit verbundene Planungssystematik verfestigen unter anderem Zustände, weil sie als Planvorgaben in mehrerer Hinsicht gelten. Zum einen als Maximal-Begrenzung („Budgetdeckel“), zum anderen als Nachweis des Bedarfs („Aufbraucheritis am Jahresende“). Änderungen im Zeitablauf, die zwangsläufig auftreten, werden in rollierenden Ex-Post-Betrachtungen versuchsweise eingepflegt. Der mittlerweile sehr hohen Dynamik eines Marktgeschehens bzw. der Nachfrage wird das in vielen Fällen nicht mehr gerecht, wenn die Bedarfslage ex ante gar nicht mehr valide antizipiert werden konnte. Eine oft leidliche Diskussion zwischen Controlling und Fachbereich ist an dieser Stelle vorprogrammiert, wenn das Controlling ein konventionelles Mindset besitzt. Budgets sind grundsätzlich interessensgesteuert und scheinbar ein großes Hemmnis für Kollaboration über Budget-Grenzen hinweg. In ihnen sind häufig Puffer enthalten, die den Budgetplanern einerseits den Budgetdruck nehmen aber andererseits auch Handlungsspielraum für unvorhergesehene Aufgaben eröffnen. Obzwar Pufferung ein vernünftiges Element des Umgangs mit Unsicherheiten ist, werden sie im Budgetplanungsprozess nicht offengelegt. Ein offener, vertrauensvoller Umgang mit möglichen Investitionsressourcen wird so beträchtlich behindert. Budgetierung hilft daher eher in stabilen Verhältnissen. Sie passen damit in komplexeren Umwelten nicht mehr recht ins Bild. Fokus auf Umsatzsteigerung Typische Controlling-Systeme vereinfachen Abhängigkeiten ihrer Kennzahlen untereinander, manchmal in unzulässiger Art und Weise. So wird beispielsweise unterstellt, dass eine Steigerung des Umsatzes typischerweise eine lineare Abhängigkeit zum Deckungsbeitrag bewirkt. Entsprechend werden häufig Planungen zu Umsatzsteigerungen und die benötigten produktiven Faktoren einfach unabhängig voneinander betrachtet, oder unzulässig vereinfacht. Die implizit oder explizit zugrundeliegenden Annahmen dürften dann jedoch in den seltensten Fällen halten, wenn die Leistungserstellung dabei komplex ist. Wird Umsatz durch ein Projekt verursacht, sind zwangsläufig mehrere Beteiligte Ressourcen mit wechselseitigen Interdependenzen an der Leistungserbringung beteiligt. Dies führt regelmäßig zu Engpässen, Wartezeiten, Verzögerungen oder sogar Nacharbeiten. Und wenn es stimmt, dass unsere Welt immer mehr „VUCA“ wird, dann wird dieser Effekt eher größer als kleiner. Sofern die Projekte Pufferzeiten in ihren Plänen aufweisen, deren Ausnutzung sich nicht negativ auf den jeweiligen Deckungsbeitrag auswirkt, mag dies noch kein Problem darstellen - in der Realität ist dies jedoch selten der Fall. Jede Stunde, die auf ein Projekt geschrieben wird und nicht mit maximaler Effizienz einer Ressource verbracht wurde, ist aus der Perspektive der Steuerungslogik „nicht gut“. Die Umsatzsteigerung, die beabsichtigt wurde, ist zwar am Ende möglicherweise eingetreten, die Grenzkosten sind jedoch nicht gefallen oder gleichgeblieben, sondern möglicherweise gestiegen. Wissen | Neue Perspektiven auf das Controlling in VUCA-Zeiten 48 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 31. Jahrgang · 02/ 2020 DOI 10.2357/ PM-2020-0027 ibo Beratung und Training GmbH Im Westpark 8 • 35435 Wettenberg T: +49 641 98210-300 • www.ibo.de Wir organisieren Souveränität. Neue Herausforderungen selbstbewusst lösen. Schaffen Sie die Projektorganisation der Zukunft. Wir unterstützen Sie dabei mit Weiterbildung offen* und inhouse, Impulsen, Beratung, Coaching und pragmatischen Software-Lösungen. ibo: Wir organisieren Zukunft. *Alle Seminare finden wie geplant statt und werden als Live-Online-Kurs gehalten. Anzeige 08_Nuhn.indd 48 28.04.2020 14: 37: 04 Kapazitäts- und Auslastungsorientierung Im üblichen betriebswirtschaftlichen Kontext von Kostenstellen- und Kostenträgerrechnung ist der Ausweis von Minderauslastungen negativ belegt. Kapazitäten wie auch „Humanressourcen“ haben vermeintlich einen Mindestumfang an Leistungsverbräuchen auszuweisen. Freie Kapazitäten werden als brachliegende, nicht verwertete Ressourcen betrachtet, die vom Controlling ermittelt und folglich entsprechend einer Verwertung zugeführt werden sollen. In einer möglichen negativen Folge werden Humanressourcen angewiesen, ihre Stunden auf jeweils passenden Kostenträgern zu erfassen, um letztlich deren Beschäftigung ausweisen zu können. Einer vollbeschäftigten Ressource kann jedoch kein weiterer Auftrag zugewiesen werden, ohne dass Priorisierungserfordernisse entstehen. Und im heutigen betriebswirtschaftlichen Alltag kennt jeder das Problem der eigenen Priorisierung der Aufgaben. Diese Priorisierung selbst kostet bereits wiederum Aufwand. So erkennt man auch schnell das Dilemma der Auslastung als Kennzahl, sie sagt nichts über die Qualität der zugrundeliegenden Arbeit aus. Und des Weiteren ist jene Qualität auch gar nicht unmittelbar messbar. Ein Meeting mehr „passt in der Regel“ schon noch in den Arbeitsalltag, aber wird das bis Freitag zu liefernde Konzept dann nicht ein Quäntchen schlechter? Das ist unheimlich schwierig vorherzusagen. So kann es also durchaus möglich sein, dass bei einer Ressource noch Kapazitäten vorhanden sind, aber diese „qualitativen Kapazitäten“ berücksichtigt kein Controlling-System der Welt, indem es zum Beispiel noch „freie Belastbarkeiten“ ausweist. Die Crux dieser Auslastungserfassung ist es folglich, dass es zweierlei Dinge nicht angemessen zu erfassen hilft: Zum einen sind die verborgenen Potentiale noch immer vorhanden, werden aber aus controllingtechnischen Gründen nicht ausgewiesen. Damit wird letztlich nur eine Scheintransparenz über Kapazitäten erzeugt - welche möglicherweise hilft, die oben angesprochenen Budgets zu rechtfertigen. Zum anderen kann keine sinnvolle Verbindung zwischen der beschäftigten Ressource und dem erreichten Ertrag (Achtung! Nicht: Umsatz) hergestellt werden. Die wirklichen Stellhebel zur Ertragsgenerierung werden folglich nicht systematisiert, geschweige denn deren Ursachen identifiziert - und das alles, obwohl alle Organisationsmitglieder ausgelastet und „beschäftigt“ sind. 4. Ideen für die Ausgestaltung des Controllings Es gibt eine Reihe von Ansätzen, die helfen können, das Controlling positiv zu beeinflussen und es hinsichtlich steigender Komplexität und Geschwindigkeit hilfreich bleiben zu lassen. Wir greifen an dieser Stelle wieder drei besondere Ansätze heraus. Es sind jene, die am ehesten den oben skizzierten Problemen begegnen helfen. Eine neue Sichtweise auf Budgetierung Budgetierungsprozesse erscheinen vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern „gottgegeben“. Im Diskurs speziell mit jüngeren Menschen wird häufig Unverständnis darüber geäußert, wieso jährlich budgetiert werden müsse und wieso so ein Prozess überhaupt so lange dauern kann. Es gibt zwar Argumente für alles, oft erschöpfen sie sich jedoch in einem „weil wir das schon immer / letztes Jahr / … so gemacht haben“ [3]. Unserer Auffassung nach ist wichtig, sich das Warum und daher die Funktionen der Planung in Erinnerung zu rufen, bzw. auch überhaupt erst einmal zu verstehen und zu erklären. Budgets wurden genutzt, um eine Koordinations- und Zielsetzungsfunktion zu erfüllen. Da Budgets jedoch typischerweise als Zahlen dargestellt werden, sind sie tendenziell weniger geeignet, unklare Ziele qualitativ angemessen abzubilden. Da kann selbst die Herleitung der Budgetzahl, so sinnstiftend und agil sie auch verlaufen mag, nicht überzeugen. Eine Zahl wirkt nicht wie ein Narrativ einer Vision, sondern viel nüchterner. Eine qualitative (Budget-)Planung sollte also höher gewertschätzt werden als eine quantitative. Sie sollte einen Ordnungsparameter für das Team darstellen, dessen Sinn erkennbar ist und an dem sich ein Team ausrichten kann. Dies kann flankiert werden durch eine systematische Betrachtung des benötigten Grades an Agilität in Relation zur Kleinteiligkeit der Planung. Als Daumenregel sollte gelten: Je höher der angestrebte Grad der Agilität, desto weniger kleinteilig sollte geplant werden. Die Planungseinheiten sollten also gröber werden, je mehr Unsicherheit das Umfeld des Teams prägt. Dies erhöht den Spielraum, schafft Freiräume und verringert sinnlos getätigten Aufwand. Denn mit steigender Unsicherheit werden auch Budgets unzuverlässiger. Wem ist dann am Ende noch geholfen? Wenn jedoch Budgetpläne schon unantastbare Rahmenparameter sind, weil im Kontext eines Teams die oben genannten Argumente nicht verfangen oder verstanden werden, so hat man als Führungskraft einen Übersetzungsakt zu leisten. Am Ende dieses Übersetzungsprozesses sollten Begrifflichkeiten wie „Durchfluss“ und „Kundenwertschöpfung“ im Vordergrund stehen, statt Kostenrahmen und Plan-Umsätze. Ein denkbarer weiterer Ansatz wäre, statt kleinteiliger Kostenplanung, diejenigen Investitionen zu budgetieren und zu betrachten, die der Erweiterung des identifizierten Engpasses dienen. Weiter fortgeschrittene Ansätze ändern gar gänzlich die Perspektive auf die Steuerung, indem z.B. das „Throughput Accounting“ voll auf die Betrachtung des Durchsatzes der Wertschöpfung fokussiert. Umsatzsteigerung Werden Umsatzsteigerungen gefordert und beispielsweise durch Budgetausweitungen „mitgemeint“, so ist es die Pflicht des jeweiligen Budgetempfängers diese Pläne auf Umsetzbarkeit hin zu prüfen. Sinnvoller Ansatz ist das Durchspielen der Operationalisierung mit besonderem Fokus auf die identifizierte Engpassressource. Bei der Betrachtung wendet man sich weg von der Kennzahl Umsatz, und hin zur Kennzahl „Oktanzahl“. Sie betrachtet den Engpassfaktor in einem Prozess und reflektiert, wie viel „Wert“ gerade in diesem Engpass bearbeitet wird. Ist sie niedrig, arbeitet der Engpass nicht am profitabelsten und beschränkt damit die Profitabilität der gesamten Organisation. Das zu Grunde liegende Konzept erläutert Goldratt in seinen Ausführungen zur Theory of Constraints und des Throughput Accountings [3]. Aus Gründen des Verhältnisses von Leistungsverflechtungen zu Profitabilitätsbetrachtungen sollten Argumente sinkender Grenzkosten bei Umsatzsteigerung zurückgewiesen werden, wenn es sich nicht um reelle Kostensenkungen handelt. Sofern also eine Organisation eine Umsatzsteigerung incentiviert, und falls aus dieser Logik heraus mehr Projekte in einem Zeitraum gestartet werden, sollte zeitgleich nicht die Fähigkeit der Organisation ignoriert werden, die zusätzliche Wissen | Neue Perspektiven auf das Controlling in VUCA-Zeiten 49 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 31. Jahrgang · 02/ 2020 DOI 10.2357/ PM-2020-0027 ibo Beratung und Training GmbH Im Westpark 8 • 35435 Wettenberg T: +49 641 98210-300 • www.ibo.de Wir organisieren Souveränität. Neue Herausforderungen selbstbewusst lösen. Schaffen Sie die Projektorganisation der Zukunft. Wir unterstützen Sie dabei mit Weiterbildung offen* und inhouse, Impulsen, Beratung, Coaching und pragmatischen Software-Lösungen. ibo: Wir organisieren Zukunft. *Alle Seminare finden wie geplant statt und werden als Live-Online-Kurs gehalten. 08_Nuhn.indd 49 28.04.2020 14: 37: 05 Norbert Schaffitzel Dipl.-Volkswirt und Dipl.-Kfm, Studium von Volks- und Betriebswirtschaftslehre in Freiburg und Berlin, über 30 Jahre Tätigkeit in der IT-Branche - zuerst als Entwickler und seit 1996 als Projektmanager bei der DB Systel GmbH, seit 2007 zertifiziert nach GPM-Standard, seit 2015 Mitarbeit in der GPM-Fachgruppe Agiles Management. DB Systel GmbH Jürgen-Ponto-Platz 1 60329 Frankfurt am Main +49 69 265 18340 norbert.schaffitzel@deutschebahn.com Prof. Dr. Helge Nuhn Helge Nuhn ist Professor für Digital Business Engineering am Fachbereich Wirtschaftsingenieurwesen und Technologiemanagement der Wilhelm Büchner Hochschule in Darmstadt. Wilhelm Büchner Hochschule Darmstadt Hilpertstr. 31 64295 Darmstadt +49 6151 / 3842 - 315 helge.nuhn@wb-fernstudium.de Arbeit auch tatsächlich zu sinkenden Grenzkosten durchzuführen. Auslastungsfokussierung Auslastungsfokussierung ist nur sinnvoll bei direkter Umsetzung von Auslastung in Profit. Andernfalls sollte es lediglich eine sekundäre Kennzahl bleiben. Stattdessen: work-in-process (WIP). Aus einer Perspektive der just-in-time-Produktion und der zunehmenden Individualisierung von Endprodukten im Zuge der Digitalisierung des Handels sind ohnehin kleinere Losgrößen gefordert, um profitabel operieren zu können. Und ohnehin gilt ja eigentlich auch in konventioneller Management-Schule, dass WIP, d.h. Lagerbestände, ein zu minimierender Faktor ist, da hierdurch Kapital gebunden wird. Sehr häufig werden aber Controlling-Systeme nicht derart konstruiert, dass sie Auslastungssteuerung gegen Durchsatz/ Profitabilitätsströme abzugleichen helfen. Möglicherweise ist dies Ausdruck einer lokal optimierenden Haltung (siehe: Budgetierung). Aber möglicherweise sind die technischen Ansätze aktuell noch nicht hinreichend gut geeignet, effizient die Überleitung von Auslastung zu Produktivität und Qualität, zu Anforderungen und zu Kundennutzen anzustellen [4]. Es drängt sich die Frage auf: Was müsste geschehen, damit Durchsatz, WIP und Gesamtprofitabilität zu neuen Ordnungsparametern von Controlling-Systemen werden? Schätzungsweise müsste ein wesentlich umfassenderer Dialog über das Verhältnis eigener Aktivitäten, des eigenen Wertbeitrags zur Profitabilität des Gesamtunternehmens geführt werden. Vielleicht ist gerade dies eine der neuen Herausforderungen, denen sich ein Controlling mit Selbstanspruch im Kontext von Management 4.0 stellen könnte: Mehr Transparenz zum „großen Ganzen“ in den Dialog einfließen lassen, den es im Sinne einer zentralen Steuerung zu führen sucht. Betrachtet man Transitionen von traditionellen hin zu agilen Organisationen, ist mittlerweile die Erkenntnis gereift, dass das Mindset um Größenordnungen wichtiger ist als die Governance (d.h. auch: Controlling) und nochmal um weitere Größenordnungen wichtiger als die eingesetzten Techniken. Dadurch wird auch deutlich, dass das Mindset das verbindende Element sein kann zwischen operativen Einheiten und dem steuernden Controlling. Denn nur wenn die Perspektiven auf Vision, Werte und Glaubenssätze, Organisations-Identität und Fähigkeiten vereinbar sind, kann das darunterliegende Verhalten adäquat aufeinander angepasst werden. Am Ende des Anpassungsprozesses stehen im Optimalfall dann operative Einheiten die Höchstleistungen erbringen und ein Controlling, das den Organisatoren der Organisation die richtigen Informationen zur Verfügung stellt, um dies zu steuern. Und damit ist nicht notwendigerweise „zentral steuern“ gemeint, sondern „selbstorganisierend steuern“. Das muss auch bedeuten, dass das Controlling nicht mehr unidirektionaler Informationsweiterleiter ist, sondern viel mehr Adressaten gleichberechtigt anspricht. Fazit Wir haben im vorliegenden Artikel gezeigt, dass Controlling-Systeme historisch begründet sind und auch ihren Nutzen erbringen. Wir haben argumentiert, dass der Nutzen sich in VUCA-Welt-Zeiten anders darstellt. Dies liegt an den Eigenschaften der VUCA-Welt begründet und wir haben aufgezeigt, welche gängigen Praktiken vor diesem Hintergrund nicht mehr optimal funktionieren. Budgetierung, Umsatz- und Auslastungsfokussierung sind Beispiele dazu, denen wir Konzepte wie Engpass-Investitionen, Oktanzahl und limitiertes WIP gegenübergestellt haben. Auch wenn diese drei Konzepte alleine nicht das Controlling vor allen notwendigen Veränderungen der VUCA-Welt retten wird, so eröffnen sie jedoch gedankliche Wege der Anpassung von Steuerungssystemen, die dort benötigt werden, wo maximale Dezentralisierung und Selbstorganisation (noch) nicht funktionieren. Weitere gedankliche Ansätze beschreiben wir im Buch Management 4.0 [5]. Literatur [1] McKinsey, J. O.: Accounting as an Administrative Aid. In: Journal of Political Economy November, 1919, Seiten 759-781. [2] Pfläging, N.: Beyond Budgeting, Better Budgeting: Ohne feste Budgets zielorientiert führen und erfolgreich steuern. Haufe 2003. [3] Goldratt, E.M., Cox, J.: The Goal. Croton-on-Hudson,The North River Press, NY, 1984. [4] Nuhn, H. F. R., Schulze, M., Wallraff, B.: Künstliche Intelligenz im Controlling: Bedeutung, Anwendungsgebiete und Reifegradmodell. In: Gleisch, R., Tschandl, M. (Hrsg.), Digitalisierung & Controlling. Haufe, 2018. [5] Oswald A, Müller (Hrsg.) Management 4.0 - Handbook for Agile Practices, Release 3, BoD Verlag, Norderstedt, 2019. Eingangsabbildung: © iStock.com/ ipopba Wissen | Neue Perspektiven auf das Controlling in VUCA-Zeiten 50 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 31. Jahrgang · 02/ 2020 DOI 10.2357/ PM-2020-0027 08_Nuhn.indd 50 28.04.2020 14: 37: 05