eJournals PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL 31/2

PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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UVK Verlag Tübingen
10.2357/PM-2020-0028
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2020
312 GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.

Von einer Fehlerkultur, die uns stark und agil macht

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2020
Petra Krug
Nur wer nichts macht, macht keine Fehler – so viel steht fest. Wenn es uns gelingt, konstruktiv mit ihnen umzugehen, können wahre Chancen daraus werden. Dieser Fachbeitrag möchte einen Einblick in eine konstruktive Fehlerkultur geben und deutlich machen, wie und warum diese wichtig ist – auch und insbesondere in einem agilen Projektumfeld. „Fehler passieren“ – das sagt sich so leicht. In der Praxis aber zeigt sich, dass der Umgang mit Fehlern ein Minenfeld sein kann. Dieses ist mit allerhand Sprengsätzen bestückt: von der Verleugnung der Tatsachen über das klassische Blame Game bis hin zu teuren Rechtsstreitigkeiten ist jeder einzelne von ihnen eine Heimsuchung für den Projekterfolg.
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Fallen, aufstehen, Krönchen richten-- und es-in Zukunft besser machen Von einer Fehlerkultur, die uns stark und agil macht Petra Krug Für eilige Leser | Nur wer nichts macht, macht keine Fehler-- so viel steht fest. Wenn es uns gelingt, konstruktiv mit ihnen umzugehen,-können wahre Chancen daraus werden. Dieser Fachbeitrag möchte einen Einblick in eine konstruktive Fehlerkultur geben und deutlich machen, wie und warum diese wichtig ist - auch und insbesondere in einem agilen Projektumfeld. „Fehler passieren“ - das sagt sich so-leicht. In der Praxis aber zeigt sich, dass der Umgang mit Fehlern ein Minenfeld-sein kann. Dieses ist mit allerhand Sprengsätzen bestückt: von der Verleugnung-der Tatsachen über das klassische Blame Game bis hin zu-teuren Rechtsstreitigkeiten ist jeder einzelne von-ihnen eine Heimsuchung für den Projekterfolg. Schlagwörter | Unternehmenspraxis, Werte, Potenzialkultur, Reflexion, Beurteilung Fehlerkultur: Eine Geschichte von Schuld und Sühne Fehler galten lange und gelten vielerorts auch heute noch als Sündenfall. Wem ein Fehler unterläuft, muss mit Konsequenzen rechnen. Das zugrundeliegende Rechtsverständnis ist so alt wie die Menschheit: das Verursacherprinzip. Es beruht auf dem Bedürfnis, den Verantwortlichen in die Pflicht zu nehmen, für Vergeltung zu sorgen und Wiedergutmachung herbeizuführen. Gespeist wird dieses Bedürfnis aus etwas eigentlich Gutem: dem allgemeinen und individuellen Wunsch nach Gerechtigkeit. Und der ist ein wichtiger Baustein unserer Gesellschaft - sein Motto lautet: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu“. Wer gegen diesen Grundsatz verstößt, muss mit einem Echo rechnen. Problematisch wird es dann, wenn das Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit nicht von weiteren rechtsstaatlichen Prinzipien begleitet wird - wie z. B. der Beweispflicht, dem Recht auf Verteidigung oder dem Prinzip von Versöhnlichkeit und Rehabilitation. Im Kontext unseres Berufsalltags im Projektgeschäft mag das vielleicht zu hochtrabend klingen, dennoch ist es wichtig, auf solche Prinzipien hinzuweisen - einfach, weil sie als Teil unseres Wertesystems, bewusst oder unbewusst, für unseren Umgang miteinander bestimmend sind. Und auch im Projektgeschäft ist eine rein strafende Fehlerkultur bedenklich, weil sie Ängste schürt. Schon in der Schule lernen wir sehr klar, was richtig und was falsch ist - und dass schlechte Leistungen mit schlechten Noten bestraft werden. Zwar kann man argumentieren, dass schlechte Noten zu besseren Leistungen anspornen sollen - in der Realität begünstigen sie aber oft das Gegenteil: Selbstzweifel, Angst und Demotivation. Was wir also eigentlich brauchen, ist ein Umfeld, das Fehler nicht als persönliches Versagen brandmarkt, sondern als Ermutigung sieht, es künftig besser zu machen. Im Folgenden beleuchten wir zunächst, wo die Gefahren einer toxischen Fehlerkultur liegen, um dann für den Projektalltag alternative Wege aufzuzeigen. Toxische Fehlerkultur und ihre Folgen Der Kern des Problems: Eine in erster Linie strafende Fehlerkultur führt dazu, dass viele Menschen nicht mehr zu ihren Fehlern stehen. Sei es, dass sie versuchen, sie zu vertuschen oder auch die Verantwortung dafür auf andere abzuwälzen. Wissen Von einer Fehlerkultur, die uns stark und agil macht DOI 10.2357/ PM-2020-0028 31. Jahrgang · 02/ 2020 51 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 31. Jahrgang · 02/ 2020 DOI 10.2357/ PM-2020-0028 09_Krug.indd 51 28.04.2020 14: 37: 48 Richtig und Falsch. Motivation oder Frustration? (Foto: privat) Eine fatale Fehlentwicklung. Denn sie fordert gleich vier Todesopfer: a.) gegenseitiges Vertrauen und ein positives Arbeitsklima b.) intrinsische Motivation und Eigenverantwortung c.) kritisches Denken und individuelle Kritikfähigkeit d.) Kreativität und Innovation a.) Sind Arbeitsklima und gegenseitiges Vertrauen schlecht, bauen die Mitarbeiter keine positive Bindung an das Unternehmen auf. In einem Umfeld, das als Schlangengrube oder Haifischbecken erlebt wird, hält es keiner lange aus. Die Folge sind hohe Fluktuation, wenig Loyalität, Talentflucht. b.) Klar kann man fehlende intrinsische Motivation durch externe Anreize ersetzen: Geld, Privilegien, Vergünstigungen. Die Folge sind Strukturen, in denen die Ambitionierten den eigenen Status höher gewichten als den Erfolg des großen Ganzen und die Genügsamen Dienst nach Vorschrift tun. Die Eigenverantwortung ist je nach Typ dann nur noch auf das eigene Fortkommen oder das eigene Überleben beschränkt, bleibt also auf persönliche Interessen begrenzt. c.) Dieser dritte Punkt ist insofern der heikelste, als er insbesondere auch Führungskräfte betrifft. Ist hier die Kritikfähigkeit schlecht ausgeprägt, wird Kritik eher unterbunden als gefördert. Kritiker werden als Querulanten deklassiert, kritisches Denken als Quertreiberei gebrandmarkt. Und Kritik ist in gewisser Weise wie Wasser: Wenn der direkte Weg zum Empfänger verstellt ist, bahnt sie sich einen anderen: Flurfunk, üble Nachrede, Lästerei. Und auch Führungskräfte, die offene Kritik scheuen, sind im Konfliktfall selbst auf toxische Führungsinstrumente angewiesen: Günstlingspolitik, Hinterzimmerabsprachen, Manipulation, Mikroaggressionen, Mobbing/ Bossing. Eine schlechte Führungskultur wirkt sich messbar negativ auf den Erfolg von Unternehmen aus (Foto: Pixabay) All das sind schwerwiegende Risiken für den wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen. Die Gallup-Studie von 2018 beziffert den volkswirtschaftlichen Schaden dieses toxischen Gemischs auf mehrere Milliarden Euro [1] und weist im Gallup Engagement Index 2019 insbesondere auf die Gefahren von „Dienst nach Vorschrift“ und innerer Kündigung hin [2]. d.) Die digitale Transformation lebt davon, dass ihre Akteure innovativ sind. Grundvoraussetzung für Innovationskraft ist Kreativität. Grundvoraussetzung für Kreativität wiederum ist gedankliche Freiheit. Gedankliche Freiheit gedeiht derweil nur auf dem Boden von Vertrauen - und Vertrauen ist nichts anderes als die Abwesenheit von Angst. Und weil eine toxische Fehlerkultur der beste Nährboden für Angst ist, ist sie einer der stärksten Widersacher von Innovation. Von einer Fehlerkultur zu einer Lern- und Potenzialkultur Das Konzept der lernenden Organisation gibt wichtige Impulse für eine konstruktive Fehlerkultur; und zwar in Form folgender Kausalkette: • Menschen lernen aus Erfahrung • Grau ist alle Theorie. Echtes Wissen generieren wir nicht aus Büchern allein, sondern aus unserem praktischen Erleben. Wenn wir also dazulernen wollen, brauchen wir Raum für neue Erfahrungen: Experimentierfelder, Spielräume, Risikobereitschaft. • Menschen lernen aus Fehlern • Versuch und Irrtum sind legitime Lehrmeister beim explorativen Lernen. Erlauben wir uns also ein gewisses Maß an Risikofreude! Denn Fehler sind eine wichtige Ursache dafür, dass wir uns überhaupt weiterentwickeln. • Menschen lernen durch Reflexion • Voraussetzung für das Lernen aus Fehlern ist die menschliche Selbstreflexion und die Bereitschaft, das eigene Denken und Handeln kritisch zu hinterfragen. Manche Menschen können das von sich aus gut, andere können es lernen. Gehen wir ihnen mit gutem Beispiel voran! • Menschen lernen, wenn sie vertrauen • Selbstreflexion basiert auf Vertrauen: zu anderen und zu uns selbst. Unterstützen wir uns gegenseitig, wächst das Vertrauen - zum Beispiel dadurch, dass wir Kritik an uns selbst zulassen und andere so ermutigen, das gleiche zu tun. Letztlich machen es uns kleine Kinder vor: Egal, wie oft sie hinfallen - stets stehen sie wieder auf und versuchen es erneut. Mit destruktiven Gefühlen wie Selbstzweifeln oder schlechtem Gewissen halten sie sich gar nicht erst auf, vielmehr besteht hier ein Urvertrauen, dass es irgendwann schon klappen wird, folglich ist hier Trial-and-Error die Devise. Die unbegrenzte Freiheit von Kindern haben wir im Projektgeschäft natürlich nicht. Da viele Fehler aber auch für uns unvermeidbar sind, trennen wir uns doch zumindest von den Selbstzweifeln und Schuldgefühlen! Dann lernen wir auch viel befreiter. Zum Beispiel, wie wir die vermeidbaren Fehlerursachen unschädlich machen können, um mehr Energie für die Lösung der unvermeidbaren zur Verfügung zu haben. Typische, vermeidbare Fehlerquellen sind zum Beispiel: mangelnde Kommunikation, Überheblich- Wissen | Von einer Fehlerkultur, die uns stark und agil macht 52 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 31. Jahrgang · 02/ 2020 DOI 10.2357/ PM-2020-0028 09_Krug.indd 52 28.04.2020 14: 37: 50 keit, fehlende Standards, Personalmangel bzw. falsche Qualifizierung von Mitarbeitern. Die Fehlerursachen liegen also nicht nur im Menschen selbst, sondern auch im Management bzw. in den Rahmenbedingungen. Nur selten können wir folglich Projekte an einem fehlerhaften Gantt-Diagramm scheitern sehen, aber an einer schlechten Kommunikation und ungelösten Konflikten durchaus. Doch wie kann ein konstruktiver Umgang mit Fehlern aussehen? Die Kunst der konstruktiven Kritik Zu den Aufgaben- moderner Projektleitung sollte es deshalb gehören, destruktiven Reflexen Einhalt-zu gebieten und eine Fehlerkultur zu etablieren, welche die Tragweite von- Irrtümern oder Versehen minimiert und stattdessen ihre geheime Kraft als Fortschrittstreiber freisetzt. Dazu wollen wir hier der Frage nachgehen, welche methodischen Ansätze und Best Practices es- gibt, die Risiken von Fehlern in Potenziale umzumünzen. Wir fragen uns, was es- braucht, um eine gute Fehlerkommunikation zu ermöglichen - und welche- Werkzeuge Führungskräften- helfen können, eine Kritikkultur zu pflegen, die nicht noch mehr Schaden- anrichtet als der Fehler selbst. Denn wir brauchen eine Fehlerkultur, die 1. Ross und Reiter offen- nennt, ohne das Gegenüber in die Abwehr zu treiben, 2. sachliche Ursachenforschung- zulässt, ohne Schuldige an den Pranger zu stellen, Von Kindern lernen heißt: Hinfallen, aufstehen, Helmchen richten … und es in Zukunft besser machen (Foto: Pixabay) 3. klare Lektionen-für die Zukunft ableitet und diese auch in der Praxis beherzigt, 4. Zersetzungskräfte-bannt und alle Beteiligten neu auf das gemeinsame Ziel einschwört, 5. die Eigenverantwortung- und den Teamgeist gleichermaßen stärkt, 6. kurz: aus-Kryptonit positive Energie zu machen versteht. Die Punkte 1. und 2. sind entscheidende Grundvoraussetzungen für das Gelingen konstruktiver Kritik und für viele Führungskräfte hoffentlich längst eine Binsenweisheit: Poltern Sie niemals einfach drauflos! Stellen Sie erst einmal sicher, dass Ihre Kritik berechtigt ist. Verlassen Sie sich dabei nicht auf das Hörensagen Dritter, sondern prüfen Sie den Wahrheitsgehalt dessen, was Ihnen so erzählt wird - durch eigene Anschauung oder gezieltes, sachorientiertes Nachfragen. Mindestens genauso wichtig: Begegnen Sie Ihrem Gegenüber mit Respekt - in Wortwahl, Ton und innerer Haltung. Nutzen Sie dabei erprobte Kommunikationstechniken, die Ihnen die Sache erleichtern werden. Als hilfreich erweisen sich dabei zum Beispiel die Faustregeln des Standardwerks „Getting To Yes“ [3]. Eigentlich als Anleitung für Verhandlungen gedacht, sind die Kernthesen leicht abgewandelt auch auf ein konstruktives Fehlergespräch übertragbar: 1. Sachlichkeit: Trennen Sie Person und Sachverhalt. • Beschreiben Sie ausschließlich den Sachverhalt. Beschränken Sie sich dabei auf das, was Sie sehen (Ich-Botschaft) und verzichten Sie auf Praktiken der schwarzen Pädagogik, als da wären: Unterstellungen, Suggestionen, Doppelbotschaften oder (versteckte) Drohungen. 2. Versöhnlichkeit: Beharren Sie nicht auf Positionen, betonen Sie stattdessen gemeinsame Interessen. • Stellen Sie Verbindendes in den Vordergrund. Heben Sie hervor, warum Sie Ihr Gegenüber schätzen und signalisieren Sie bei aller berechtigter Kritik auch Fairness und Wertschätzung. 3. Flexibilität: Erarbeiten Sie verschiedene Handlungsoptionen, bevor Sie eine Lösung festlegen. • Bereiten Sie sich auf den Dialog vor, indem Sie verschiedene Lösungsansätze erwägen und nur die besten mit Ihrem Gegenüber besprechen. 4. Messbarkeit: Stellen Sie sicher, dass die gefundene Lösung auf objektiven Kriterien basiert. • Je solider das Fundament, desto tragfähiger die Lösung. Tragen Sie deshalb Sorge, dass die gefundene Lösung auf Fakten basiert, anhand derer ihre Wirksamkeit auch evaluiert werden kann. Fehlerkultur vs. Fehlermanagement Ein Fehler ist immer etwas, das von einem definierten Zustand abweicht. Auch komplexe Softwareprojekte verlaufen zumeist nicht linear, sondern sind häufig von Kurven oder auch Umleitungen geprägt. Im Kontext einer iterativen und agilen Entwicklung ist ein Spurwechsel unproblematisch - aber es liegt in unserer Verantwortung, dass daraus keine kompletten Irrfahrten werden. Und: auf einer gut ausgebauten Autobahn mag ein Spurwechsel kein Problem sein, auf einem Drahtseil können Millimeter fatal sein. Die Schadenshöhe eines Fehlers ist also immer abhängig vom Inhalt der Tätigkeit und den potenziellen Folgen: Bei ei- Wissen | Von einer Fehlerkultur, die uns stark und agil macht 53 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 31. Jahrgang · 02/ 2020 DOI 10.2357/ PM-2020-0028 09_Krug.indd 53 28.04.2020 14: 37: 51 ner falschen Regalbestückung ist sie zum Beispiel gering und ohne große Auswirkungen leicht zu beheben. Bei einem fehlerhaften Tattoo sieht die Sache dann schon anders aus, ganz zu schweigen von einer Herz-OP oder einem Flugzeugabsturz (z. B. der Softwarefehler bei Boeing im Jahr 2019). Und wie überall gilt Murphy’s Law: Es tritt immer das ein, was NICHT von der Risikobewertung erfasst wurde. Eintrittswahrscheinlichkeiten von Fehlern sind einfach schwer zu berechnen. Insbesondere, wenn wir Neuland betreten und Routinen und Gewissheiten keine Sicherheit geben können. Bei Innovationen zum Beispiel wird die Fehlerwahrscheinlichkeit deutlich höher sein. Dem Kunden aber einen „Puffer“ für potenzielle Fehler in Rechnung zu stellen, ist indes eine schwierige Angelegenheit. Das heißt: Auch wenn wir Fehler enttabuisieren, wollen und müssen wir ihre schadhaften Folgen reduzieren - das gebietet allein der ökonomische Sachverstand. Fehlerkultur und Fehlermanagement sind folglich nicht das Gleiche - eine konstruktive Fehlerkultur entlässt uns nämlich nicht aus der Verantwortung, die negativen Folgen unserer Fehler so gering wie möglich zu halten. Fehlermanagement in der agilen Entwicklung Im Umfeld der agilen Entwicklung zeichnet sich insbesondere Scrum durch ein pragmatisches Fehlermanagement aus. Hier drei wesentliche Eckpunkte dafür, warum das so ist: • Fehlertoleranz • Scrum ist ausgesprochen fehlertolerant und lässt kleinere Fehler und Bugs im Laufe der Produktentwicklung zunächst zu. Wer jetzt glaubt, dass das zu einer höheren Fehlerquote im Endprodukt führt, muss sich sagen lassen: Das Gegenteil ist der Fall. Die Erfahrung zeigt vielmehr: Wer Fehler zunächst machen darf, geht auch offener mit ihnen um und trägt konstruktiv zu ihrer Lösung bei. • Zyklisches Testen • Die agile Entwicklung schreibt zwar keine konkreten Testprozesse vor, folgt aber prinzipiell der iterativen Idee von Continuous Integration und Test Driven Development, zum Beispiel in dieser Form: • Entwicklertest: findet während der täglichen Entwicklungsarbeit statt. Ziel ist die Validierung der täglichen Entwicklungsergebnisse gegen die Sprint Tasks. • Inkrement-Test: wird gegen Ende eines Sprints durchgeführt. Er dient a.) der Kontrolle über das ideale Zusammenspiel mit früher entwickelten Inkrementen und b.) zur Prüfung, ob nicht aus Versehen Kooperation statt Konfrontation (Foto: Pixabay) ein anderes Inkrement verändert wurde. Getestet wird dabei das komplette Sprint-Backlog. • Release-Test: ist bei Scrum nicht zwangsweise vorgesehen, empfiehlt sich aber laut Geisen und Güldali unbedingt, um das Produkt in seiner Gesamtheit final zu testen [4]. - Entlang des gesamten Entwicklungsverlaufs wird getestet, die zu testenden Einheiten sind kleiner, die Tests häufiger, die Testabdeckung höher. Auch das minimiert die Fehlerquote. • Kosten-Nutzen-Orientierung • Agiles Fehlermanagement mit Scrum basiert auf der Erfahrung, dass der Aufwand für die Korrektur kleinerer Fehler inkl. der nötigen Tests wesentlich geringer ist als der Aufwand, der in ihre Vermeidung investiert werden müsste. Zum einen, weil Fehler schlicht nicht vermeidbar sind, zum anderen, weil viele Fehler gar nicht antizipiert werden können und eine Vermeidungsstrategie sie folglich gar nicht abdeckt. Oops … Fehler haben immer zwei Seiten: auf der einen Seite Gefahren wie z. B. Kosten oder Vertragsverstöße. Auf der anderen Seite Potenziale, die teils große Zukunftschancen in sich bergen. Die folgenden Beispiele sind nicht als Einladung zu verstehen, mehr Fehler zu machen. Sie sollen uns vielmehr verstehen helfen, dass Fehler nicht immer von Übel sind und uns so zu einem konstruktiveren Umgang mit ihnen verhelfen. • Kolumbus wollte den Seeweg nach Indien finden - und entdeckte Amerika. Das hat nicht nur den Lauf der Geschichte, sondern unser Weltbild insgesamt radikal verändert. • Pfizer wollte ein Mittel gegen Bluthochdruck und Angina Pectoris auf den Markt bringen. Und erfand mit Viagra aus Versehen das erfolgreichste Mittel gegen erektile Dysfunktion. • Alexander Fleming vergaß, vor dem Urlaub ein paar Petrischalen zu reinigen. Das auf diese Weise entstandene Penicillin wurde zum Durchbruch in der Medizingeschichte. • Dr. Spencer Silver suchte einen starken Klebstoff mit rückstandsloser Ablösung. Das Post-it, eigentlich ein Abfallprodukt dieser Versuchsreihe, ist heute ein Klassiker - insbesondere für Scrum-Enthusiasten. • Charles Goodyear verzweifelte 1839 fast bei dem Versuch, Kautschuk elastisch und dehnbar zu machen. Bis ihm der Rohstoff ungewollt auf die heiße Herdplatte fiel und er so Scrum. Pragmatismus - auch im Fehlermanagement (Foto: Nina Skripietz für Micromata) Wissen | Von einer Fehlerkultur, die uns stark und agil macht 54 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 31. Jahrgang · 02/ 2020 DOI 10.2357/ PM-2020-0028 09_Krug.indd 54 28.04.2020 14: 37: 54 Quellennachweis [1] Gallup-Studie (2018): https: / / interne-kommunikation. net/ gallup-studie-2018/ , Abruf am 17.03.2020 [2 Gallup Engagement Index 2019: https: / / www.haufe.de/ arbeitsschutz/ gesundheit-umwelt/ arbeitsklima-fast-6-millionen-haben-innerlich-gekuendigt_94_501446.html, Abruf am 17.03.2020 [3] Fisher, Roger / Ury, William / Patton, Bruce: Das Harvard-Konzept (Originaltitel: Getting To Yes), jüngste und erweiterte Ausgabe bei DVA, Stuttgart 2018. [4] Geisen, Silke / Güldali, Baris: Agiles Testen in Scrum - Testtypen und Abläufe, in: OBJEKTSpektrum, Ausgabe Agility/ 2012. Eingangsabbildung: Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen - so entfalten Fehler verheerende Kraft (Foto: Pixabay) versehentlich die Vulkanisierung entdeckte und damit das Rad praktisch völlig neu erfand: das Gummi war geboren. So gelingt der Wandel zu einer Potenzialkultur Aber wie schaffen wir es, eine konstruktive Fehlerkultur bzw. eine Potenzialkultur in einem Umfeld zu etablieren, das von großem- Leistungsdruck und hohen Qualitätsansprüchen geprägt ist und wo starre-Zielsysteme-und Leistungsbeurteilungen eher ein autokratisches Regime von Angst und Unsicherheit begünstigen? Hier einige Vorschläge, wie das gelingen kann: • Vertrauen schaffen - z. B. durch kleine unterhaltsame Formate wie „Der Bock des Monats“: Hier stellt reihum jedes Team einen Fehler vor, der ihm unterlaufen ist und der konstruktiv gelöst werden konnte. Das baut Vertrauen auf und Ängste ab und sorgt zugleich für organisationales Lernen. • Vorbild Führungskräfte: Wir schaffen keinen Kulturwechsel, wenn wir die Verantwortung auf den einzelnen Mitarbeiter „abwälzen“. Vielmehr sind die Führungskräfte hier in der Pflicht, die gewünschte Kultur exemplarisch vorzuleben. Und zu eigenen Fehlern zu stehen. • „Wir“ statt „Du“ sagen: Die „Wir“-Perspektive hilft nicht nur dem Einzelnen, über seinen Schatten zu springen, sondern stärkt den Teamgeist insgesamt. • „Was und wie? “ statt „Wer und warum? “ fragen: Machen wir uns immer wieder bewusst, dass wir nicht den Schuldigen suchen, sondern die Lösung. Und hören wir auf zu rechtfertigen, „warum“ etwas passiert ist, sondern fragen wir uns stattdessen „wie“ es passieren konnte - damit wir ableiten können, „wie“ wir es folglich besser machen können. • Rollen im Team: Je nach Projekt kann es hilfreich sein, die Rolle eines Feuermelders zu vergeben, der ausdrücklich beauftragt ist, auf Gefahren hinzuweisen, ohne dafür als Meckerpott hingestellt zu werden. • Prozesse und Standards: sind nicht prinzipiell schlecht. Im Kontext einer Potenzialkultur erweisen sich z. B. Reviews oder das Vier-Augen-Prinzip als nützliche Freunde und Helfer. Fazit Fehler passieren. Zwar müssen wir sie ja nicht ausdrücklich einladen. Aber wo sie schon mal da sind, sollten wir sie nutzen, daran zu wachsen und besser zu werden. Gemeinsam und im Team gelingt der Wandel von der Fehlerkultur zur Potenzialkultur (Bild: Pixabay) Petra Krug Petra Krug arbeitet als Projektleiterin und interner Coach bei der Micromata GmbH. Als Senior Project Manager- (GPM) und PSPO verbindet sie Methoden und Kenntnisse aus der klassischen und der agilen Welt. Sie verfügt über einen- betriebswirtschaftlichen Hintergrund und umfassende systemische Weiterbildungen in Organisationsentwicklung und Change- Management. Ihr Fokus liegt auf den Schwerpunkten Kommunikation und Führung. Sie ist zudem freiberuflich als Beraterin, Moderatorin und Coach tätig. Ihr Ziel ist es, die Gratwanderung zwischen- betriebswirtschaftlich Notwendigem und menschlich Sinnvollem zu meistern. Wissen | Von einer Fehlerkultur, die uns stark und agil macht 55 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 31. Jahrgang · 02/ 2020 DOI 10.2357/ PM-2020-0028 09_Krug.indd 55 28.04.2020 14: 37: 57