PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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UVK Verlag Tübingen
10.2357/PM-2020-0102
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GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.Agile Unternehmensführung
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Andreas Schliep
Die meisten Unternehmen haben bereits erkannt, dass sie mit agilen Denkweisen und Vorgehensmodellen eine Vielzahl von Aufgabenstellungen wirksamer angehen können. Und doch erscheint es allzu oft schwierig oder gar unmöglich, die bestehenden Strukturen, den Webteppich des Unternehmens, an die neuen Konzepte anzupassen. Doch was ist der Schlüssel zur erfolgreichen und nachhaltigen Einführung?
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Agile Unternehmensführung Andreas Schliep Für eilige Leser | Die meisten Unternehmen haben bereits erkannt, dass sie mit agilen Denkweisen und Vorgehensmodellen eine Vielzahl von Aufgabenstellungen wirksamer angehen können. Und doch erscheint es allzu oft schwierig oder gar unmöglich, die bestehenden Strukturen, den Webteppich des Unternehmens, an die neuen Konzepte anzupassen. Doch was ist der Schlüssel zur erfolgreichen und nachhaltigen Einführung? Schlagwörter | Agil, Organisation, Bauchgefühl, Produktmanagement, Scrum, Produktdenken Bauchgefühl ist ein schlechter Ratgeber Ein Manager, der etwas auf sich hält, muss heutzutage „Agil“ in seinem Portfolio stehen haben. Man muss ja schließlich mit der Zeit gehen. Und was die anderen machen, kann ja auch nicht verkehrt sein? Von der Dotcom-Blase bis hin zu den neuesten Wirtschaftsskandalen: Wir dachten doch, dass die Gestaltung und Leitung von Unternehmen inzwischen nicht mehr auf den Bauchentscheidungen und egoistischen Bedürfnissen einiger weniger Lenker basieren sollte. Die wissenschaftlich orientierte Führung hat uns doch Analyse-Methoden, Erfolgsstrategien, Unternehmenswerte und Projektmanagement beschert. Und doch sehen wir immer noch gerade bei der Planung und Umsetzung sogenannter „Agiler Transformationen“ sehr viel Unwissen, Bauchgefühl, Gutdünken-- und wenig qualifizierte Herangehensweisen. Die Bandbreite der Einführungen reicht von gerade mal toleriertem Wildwuchs-- ein paar Teams machen irgendwelche Dinge anders als vorher- - über punktuell erfolgreiche, aber nicht skalierbare Pilotprojekte, bis hin zu massiven Umstellungen. Letztere zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie mit einem großen, vorgefertigten „Big Picture“ vor allem eines bedienen: das Bauchgefühl der Verantwortlichen. Die Misere kommt nicht durch einen Mangel an Qualifikation. Sie kommt auch nicht durch einen Mangel an Einsatzbereitschaft, Motivation oder Veränderungswillen. Manche Fürsprecher der „Agilen Szene“ haben den wesentlichen Faktor schnell identifiziert: Es fehle das richtige, agile Mindset -- im Grund genommen also wieder das Bauchgefühl. Wenn es sich richtig anfühle, auf Veränderungen zu reagieren, Individuen und Interaktionen voranzustellen, mit Kunden zusammenzuarbeiten und dabei das Produkt im Vordergrund zu haben, dann würde es auch funktionieren. Im Zweifelsfall findet man die Schuld für das Scheitern wieder bei den Führungskräften. Unternehmenslenker haben nicht die richtige Strategie, Projektmanager haben nicht das richtige Vorgehen, Lenkungsausschüsse verweigern sich dem Wandel. Ich war selbst viel zu oft der Überzeugung, dass ein Scheitern der Agilen Transformation vor allem am Management lag. Einem Management, das sich wissenschaftlichen Ansätzen gegenüber blind stellte. Führungskräfte, denen es mehr um Status und Ego als um die Unternehmensziele ging. Techniker, die in Leitungspositionen befördert wurden, für die sie in Wirklichkeit weder Eignung noch Neigung empfinden. Dabei bin ich in die gleiche Falle getappt wie die Menschen, die ich zu kritisieren pflegte. Ich habe mein Bauchgefühl über die wissenschaftliche Methode gestellt. Also noch einmal von vorne. Die Schlüssel zum gemeinsamen Vorankommen sind Verständnis und Verständigung. Wenn Unternehmen die Wirkung von agilen Vorgehensweisen für sich nutzen wollen, wenn die Einführung neuer Methoden im größeren Umfang als bei einzelnen Teams oder in Ausgliederungen funktionieren soll, braucht es einen neuen Führungsansatz. Wissen Agile Unternehmensführung DOI 10.2357/ PM-2020-0102 31. Jahrgang · 05/ 2020 29 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 31. Jahrgang · 05/ 2020 DOI 10.2357/ PM-2020-0102 Eine lernende, teamorientierte Organisation aufbauen Eine der ersten Fragen, die wir unseren Klienten stellen, ist: „Was möchten Sie mit der Agilität erreichen? “ Agile Methoden sind wie alle anderen Vorgehensweisen auch schließlich nicht Selbstzweck, sondern dafür da, bestimmte Ziele zu erreichen. Ohne eine klare Definition dieser Ziele sind wir wieder beim Bauchgefühl. Die erste Antwort auf diese Frage hängt natürlich ganz klar davon ab, mit welcher Führungsebene im Unternehmen wir sprechen. Eine Aussage wie „Das Management hat Agile als Zielsetzung innerhalb der Strategie zur Digitalisierung gesetzt und sucht jetzt nach einem Umsetzungsplan für die Agile Transformation“ lässt uns aufhorchen. Das klingt zu sehr nach „wir halten das für eine gute Idee“. Selbst uns als agile Vorreiter geht es nicht um den Erfolg von „Agile“, sondern um den Erfolg unserer Klienten. Und diesen Erfolg müssen Unternehmen für sich selbst definieren. Von den ersten Ansätzen des Scientific Managements über die Entwicklung des Toyota Production Systems und Lean Managements bis hin zur Familie der agilen Vorgehensweisen zieht sich ein roter Faden: Wir versuchen ein ganzheitliches Bild eines Arbeitssystems herzustellen, insbesondere der Bedürfnisse und Potenziale der beteiligten Menschen. In der heutigen Zeit geht es dabei spezifisch um Arbeitsumgebungen, die die richtigen Resultate für ihre Kunden hervorbringen, die ihre Zusammenarbeitsfähigkeit verbessern können, und dabei auch noch Individuen den Raum zur persönlichen Fortentwicklung bieten [1]. Eine solche Umgebung bereitzustellen, wäre demnach also das höchste Ziel eines Change-Vorhabens. Eine solche Klarheit hinsichtlich der Ziele erleben wir eher selten. Wie jeder Projektleiter aus eigener leidvoller Erfahrung bestätigen kann, ist es überaus mühsam mit beweglichen Zielen zu arbeiten. Daher kann es hilfreich sein, im Führungskreis über diese drei Punkte sehr klar und deutlich zu sprechen- - und die jeweiligen Erwartungen oder Hemmfaktoren festzuhalten. - Wert für den Kunden schaffen: Der Fokus von Mitarbeitern, Teams, Abteilungen, Bereichen wechselt von der Erfüllung von Plänen hin zur Lieferung von messbarem Nutzen. Kundenzufriedenheit oder gar Begeisterung sind keine exklusiven Ansprüche von Marketing oder Produktmanagement. - Zusammenarbeitsfähigkeit verbessern: Die Leistungsfähigkeit von Teams wird zu einer der Teamaufgaben selbst. Faktoren der Leistungsfähigkeit sind übrigens auch Vertrauen, Psychologische Sicherheit, Selbstmanagement und Konfliktfähigkeit. - Raum für Lernen schaffen: Es reicht nicht, Aus- und Fortbildungsmaßnahmen aufzusetzen. Die Entwicklung der einzelnen Mitarbeiter hängt auch davon ab, wie gut sie in ihrem eigenen Arbeitsumfeld dazulernen können. Warum Transformations-Projekte keinen Sinn machen Vor gar nicht so langer Zeit erreichte uns die Anfrage eines größeren Unternehmens zur Unterstützung ihrer Agilen Transformation. Es waren drei Gewerke zur Transformation ausgeschrieben: die strategische Ausarbeitung eines Konzepts, die Ausgestaltung eines entsprechenden Plans sowie die Durchführung der geplanten Umsetzungsmaßnahmen. Leider konnten wir dem potenziellen Klienten nicht klarmachen, dass schon ihre grundsätzliche Herangehensweise die falsche war. Dabei mag dieser Ansatz aus Projektmanagementsicht sinnvoll klingen. Schließlich wollen wir ja nicht planlos und nach reinem Bauchgefühl an die Sache herangehen. Diese Anfrage ist ein typisches Symptom einer hierarchischen Unternehmenskultur, bei der die Grundsätze und Ziele von der Executive-Ebene an das Management weitergegeben werden, die dann eine entsprechende Umsetzung konzipieren, gestalten und überwachen sollen. Dieses Verfahren hat sich für eine Vielzahl von Vorhaben bewährt- - nämlich diejenigen, die wir in der Sprache der Komplexität als kompliziert ansehen [2]. Bei komplizierten Problemen können wir die Zielvorstellungen und Lösungsansätze durch gutes Anforderungs- und Projektmanagement herausarbeiten, bevor wir uns an die Umsetzung machen. Leider funktioniert dieser Ansatz nicht, wenn uns zu viele Überraschungen und Wechselwirkungen auf unserem Weg begegnen. Hier sehen wir den fundamentalen Unterschied zwischen Projekt- und Produktdenken. Während wir bei komplizierten Projekten die grundsätzlichen Fragen initial klären können, haben wir es beim Management von komplexen Produkten mit einem dynamischen Prozess zu tun. Wir müssen uns bei der Produktentwicklung immer wieder mit den Änderungen der Kundenansprüche, des Marktes, der Umwelt und unserer eigenen Erkenntnisse auseinandersetzen. Das eiserne Dreieck des Projektmanagements wird zu einem flexiblen Viereck des Produktmanagements. Abbildung 1: Das „eiserne Dreieck“ des Produktmanagements und das flexible Viereck des Produktmanagements. Wissen | Agile Unternehmensführung 30 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 31. Jahrgang · 05/ 2020 DOI 10.2357/ PM-2020-0102 Im Produktmanagement haben wir es mit vier wesentlichen Risiken zu tun [3]: 1. Das falsche Problem: Wir arbeiten an den Problemen und Herausforderungen des Kunden vorbei. Leider kann uns der Kunde meistens seine Bedürfnisse nicht vorab explizit schildern-- wir brauchen also eine Vorgehensweise, die es uns ermöglicht, uns an die wahren Bedürfnisse anzunähern. 2. Die falsche Lösung: Wir haben den Kunden verstanden, kommen aber mit einer für ihn nicht umsetzbaren, passenden, bequemen Lösung. Auch die Sondierung der sinnvollen Lösungsansätze lässt sich im komplexen Umfeld am besten in kleinen, aufeinander aufbauenden Teilschritten angehen. 3. Scheitern an der Umsetzung: Das beste Produktkonzept nützt nichts, wenn es sich aufgrund von technischen oder sonstigen Rahmenbedingungen nicht umsetzen lässt. Ein Vorgehen, bei dem wir die größten Risiken sehr früh angehen, hilft eine teure Fehlentwicklung zu vermeiden. 4. Wirtschaftlicher Fehlschlag: Die Kunden sind glücklich, das Unternehmen ist pleite. Die wirtschaftliche Tragfähigkeit eines Geschäftsmodells muss frühzeitig herausgefordert und kontinuierlich betrachtet werden. Natürlich gibt es klassische Lösungsansätze für diese Herausforderungen. Genau genommen sind strukturierte Projektmanagement-Methoden in vielen Fällen den agilen Ansätzen vorzuziehen-- wenn wir es eben nicht mit beweglichen Zielen zu tun haben. Unternehmen an Produkten orientieren? Stellen wir uns für einen Moment ein rein produktorientiertes Unternehmen vor. Wie würde ein solches Unternehmen aufgebaut sein? Einen Ansatz bietet mein Kollege Peter Beck: Nach Scrum [4]. Der CEO gestaltet als Product Owner oder Leiter des Produktmanagements die Ausrichtung vor. Mittels der Produktvision und des Product Backlogs sorgt er dafür, dass alle Mitarbeiter jeweils an den wichtigsten Dingen arbeiten. Die Mitarbeiter arbeiten als echtes Team zusammen an den gemeinsamen Zielen, tragen die Verantwortung für ihre Arbeitsprozesse und die Koordination mit Lieferanten und Kunden. Die Strukturen für die Zusammenarbeit gestaltet ein Scrum Master-- wir sagen auch, der Scrum Master „fazilitiert“ die Arbeit des Teams (vgl. Abb. 2). Richtig, in einem rein produktorientierten Unternehmen entspricht die Aufbauorganisation der Ablauforganisation. Es gibt keine in der Matrix aufgehängten Projektteams, die aus zu unterschiedlichen Anteilen zu den einzelnen Kostenträgern zugeordneten Mitarbeitern bestehen. Es gibt nur das Team- - oder eben mehrere Teams, unter der Führung eines einzigen Product Owners. Peter Beck verwendet für dessen Position die simple Formel: Eigentümerschaft-= Führung plus Einfluss. Die Zusammenarbeit wird durch moderierte Selbstverwaltung geprägt. Eine schöne Utopie? Für viele kleinere Unternehmen, unter anderem uns selbst, ist diese Aufstellung Realität. Nach wie vor haben die meisten größeren Unternehmen Schwierigkeiten, die Umstellung von den bisherigen Strukturen auf einen neuen Arbeitsmodus-- und dann auch noch auf einen neuen organisatorischen Aufbau zu schaffen. Die Bandbreite der Fehlschläge reicht von einem Spagat zwischen agilen Vorgehen innerhalb der klassischen Organisation, über ausgegliederte Innovations-Zentren, deren Erkenntnisse und Ergebnisse sich oft nicht in das Mutterunternehmen integrieren lassen, bis hin zu massiven zentral gesteuerten „Rollouts“, sogenannter agiler Skalierungs-Rahmenwerke. Das produktorientierte Unternehmen scheint also eine Nischenerscheinung zu sein, beschränkt auf Start-ups oder nicht allzu große Unternehmungen. Oder könnte man sich vorstellen, innerhalb eines größeren Konzerns „agile Blasen“ zu schaffen, die miteinander und mit den anderen Unternehmensbereichen über Liefergegenstände kommunizieren? Eventuell, wenn diese separaten Bereiche weitestgehend autark Mehrwert für die Kunden schaffen können. Das Unternehmen als Produkt sehen Agile Arbeitsformen mit einer wirksamen Einbindung in das Gesamtunternehmen erreicht man also nicht durch Bauchgefühl, Projektmanagement oder vorgekaute Methodologien. Die Einführung dieser Arbeitsformen gestaltet sich derart komplex , weil wir mit jeder Änderung am System auch wieder neue, bislang unbekannte, Einflussfaktoren entdecken und berücksichtigen müssen. Dafür gibt es keinen 5-Jahres-Plan, und kein sinnvolles Anforderungsmanagement. Wenn wir Abbildung 2: Zusammenspiel der Rollen in Scrum Wissen | Agile Unternehmensführung 31 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 31. Jahrgang · 05/ 2020 DOI 10.2357/ PM-2020-0102 in diesem Feld methodisch vorgehen wollen, benötigen wir auch der Komplexität angemessene Arbeitsformen. Ansonsten kann es sein, dass wir - im Grunde genommen ganz andere Probleme im Unternehmen lösen müssen, zum Beispiel einen über viele Jahre entstandenen Vertrauensverlust, - agile Methoden dort einsetzen, wo sie nicht optimal wirken können, oder Vorhaben gar verkomplizieren- - gerade im komplizierten Bereich, - die Herausforderungen bei der Umsetzung komplett unterschätzen, insbesondere die erforderlichen Qualifikationen und Erfahrungen, - bei aller Agilität in den Teams das große Ganze aus den Augen verlieren und dadurch die gewünschte Wertschöpfungen oder Einsparungen nicht erreichen. Die hier aufgelisteten Risiken erinnern nicht zufällig an die Risiken beim Design und Management von Produkten. Die agile Organisation kann man als Produkt der kontinuierlichen Verbesserung betrachten. Durch diese Betrachtungsweise fallen natürlich schon einmal ein paar Schlussfolgerungen ins Auge: - Im Gegensatz zu einem Projekt ist eine Produktentwicklung niemals „fertig“. Es sei denn, das Produkt wird abgekündigt. Daher ist es fast schon absurd, von Transformations-„Projekten“ zu reden. - Ein erfolgreiches Produkt erreicht man durch kompetentes Produktmanagement, nicht durch sorgfältiges Projektmanagement. - Produktmanagement erfordert einen Produktmanager- - kein Gremium, keine Basisdemokratie, sondern eine Person. In Scrum nennen wir diese verantwortliche Person übrigens den Product Owner . - Das Produktmanagement für „Agilität“ muss auch das entsprechende Marketing betreiben. Die Kunden sind in diesem Fall die Mitarbeiter des Unternehmens, die mit dieser „Agilität“ besser die Ziele des Unternehmens erreichen sollen als vorher. Dadurch kehren sich natürlich auch die Führungsaufgaben um. Anstelle von Anordnung und Ausrollen treten Angebot und Unterstützung. Die nächste Version des Unternehmens ist das Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen dem Produktmanagement des Wandels und der beteiligten Mitarbeiter. Doch dieses Angebot müssen einem die Mitarbeiter erst einmal abkaufen. Es läuft also auf die Frage hinaus: was ist der Job to be Done für unsere agilen Bemühungen [5]; welchen funktionalen, emotionalen und sozialen Fortschritt erreichen die Mitarbeiter damit? Würden Sie eventuell mit einer besseren Gestaltung der vorhandenen Prozesse und Methoden besser fahren? Wenn wir vorher eine Situation haben, in der das Bauchgefühl einiger Entscheidungsträger die gesamte Methodik sabotiert-- würde sich das durch eine andere Methode wirklich ändern? Methodenvielfalt statt Vereinheitlichung Wir haben bereits festgestellt, dass traditionelles Projektmanagement bei komplexen Herausforderungen nicht funktioniert. Im Umkehrschluss sind agile Vorgehensweisen bei gut planbaren, komplizierten Vorhaben schlichtweg ineffizient. Bei der Renovierung eines Hauses verwenden wir ja auch nicht das gleiche Werkzeug für alle Aufgaben. Wir wählen das Werkzeug, dass die Aufgabe am besten erfüllt. Was wir suchen, ist ein breites Verständnis über die verfügbaren Methoden und die Kompetenz, die richtigen Methoden auswählen zu können. Im Marketing spricht man hierbei von Kundensegmenten. Eine der größten und wichtigsten Aufgaben bei der Platzierung von Produkten ist es herauszufinden, für wen sich dieses Produkt überhaupt nicht eignet. Mit dieser Erkenntnis lässt sich unser Produkt im Zielmarkt dementsprechend besser positionieren. Niemand würde auf die Idee kommen, eine Schlagbohrmaschine mit einem Farbroller zu kombinieren. Ein solcher Hybrid würde wahrscheinlich beide Jobs schlecht erfüllen. Deshalb sind Ansätze, agile und traditionelle Vorgehensweisen zu einem einheitlichen Prozess zu vereinen, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die Resultate, die wir in unserer Praxis schon erlebt haben, führen nicht zu den gewünschten Einsparungen oder Wettbewerbsvorteilen. Stattdessen gilt es, die Vielfalt zu unterstützen. Im Unternehmen entsteht ein Flickenteppich von verschiedenen Methoden für verschiedene Zielsetzungen. Dabei müssen Projektleiter und Produktmanager Hand in Hand arbeiten, um die Übergangspunkte der einzelnen Bereiche nicht zu bottlenecks werden zu lassen. Die Kompetenzen des Projektmanagements werden dabei nicht mehr vorrangig genutzt, um Arbeit zu organisieren, sondern um Arbeitssysteme weiterzuentwickeln. In kleinen, auf Produkte fokussierten Unternehmen, übernehmen Fazilitatoren oder Scrum Master die Verantwortung für die Weiterentwicklung des Arbeitssystems. Es gibt keine Trennung zwischen der Arbeit an Produktzielen und der Arbeit an Systemverbesserungen. Der CEO steuert als Product Owner, Abbildung 3: Entwicklung von agilen Transformationen Wissen | Agile Unternehmensführung 32 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 31. Jahrgang · 05/ 2020 DOI 10.2357/ PM-2020-0102 welche Maßnahmen zur Wertschöpfung, Steigerung der Produktivität, oder Erhöhung der Kompetenzen gerade im Fokus stehen. In Großunternehmen braucht es erst einmal Raum für den Aufbau von produktorientierten Zellen. Die Verbindung der Bereiche und Einheiten erfolgt über die Visualisierung der Wertschöpfung und Delegation von Verantwortung. Das lässt sich nur über die Einbindung der eigenen Kompetenzträger erreichen. Externe Berater können dabei unterstützend wirken- - aber sie können einem ebenso wenig die harte Arbeit an dem Wandel der Unternehmung abnehmen, wie ein Personal Trainer seinen Klienten das eigene Training abnehmen kann. Als Leitbilder für den so entstehenden organisatorischen „Flickenteppich“ lassen sich die Werte und Prinzipen des Lean Managements heranziehen (vgl. Abb. 3). Ein Unternehmens-Rahmenwerk um diese Eckpfeiler haben wir zusammen mit mehreren Ausbildern und Autoren versucht, in ScALeD festzuhalten [6]. Inzwischen sehen wir ScALeD nicht mehr als Skalierungs-Ansatz zur Produktentwicklung, sondern als generelle Orientierungshilfe für eine Unternehmenskultur, die Agilität einschließen kann, ohne dabei die eigene Identität zu verlieren. 1 Das Ruder herumreißen Für so manche Unternehmung könnte sich aus diesen Darlegungen der Eindruck ergeben, man hätte lieber mit der Einführung von agilen Methoden noch etwas gewartet. Der Ansatz, die neuen Kompetenzen als Produkt zu betrachten und zu managen, bietet aber auch Chancen für Unternehmen, die bereits agile Arbeitssysteme im größeren Stil im Einsatz haben. Es ist durchaus möglich, von einem projektorientierten zu einem produktfokussierten Ansatz zu wechseln. Was in der IT oder bei Consumer-Produkten funktioniert, kann auch in der Organisationsentwicklung klappen. Voraussetzung dafür sind ein gemeinsames, geteiltes Verständnis über die neue Ausrichtung, und die Integration der bisherigen Initiativen und Perspektiven. Selbst wenn man dafür wieder auf Schritt null der „Agilen Transformation“ zurückgehen muss. Denn unter Umständen hat man viel weniger erreicht, als man durch einen Projektfortschritt der „Transformation“ ablesen kann. ScALeD bietet auch zu diesem Bereich kritische Fragen: 1. Haben sich durch die Einführung agiler Methoden die Fokussierungen auf die Wertschöpfung, die Kundenzufriedenheit, die Reaktionszeit auf Veränderungen verbessert? 2. Gibt es einen spürbaren- - idealerweise messbaren- - Anstieg der Mitarbeiterzufriedenheit? 3. Verbessert sich die Zusammenarbeit der verschiedenen Bereiche und Teams, entsteht ein wirkungsvoller Fluss im Arbeitssystem? 4. Steigen Wissen und Kompetenz des Unternehmens? Wird genug Entwicklungsraum geboten? 5. Bieten die neuen Strukturen tatsächlich bessere Bedingungen für Teamwork und Selbstmanagement, oder wurden einfach bestehende Strukturen umbenannt, um „agiler“ zu klingen? Auch wenn die ehrliche Antwort auf diese Fragen frustrierend sein kann-- nur durch diesen harten Realitätscheck lässt sich die Grundlage für eine effektive Einbindung agiler Methoden in den Unternehmenskontext erreichen. Agilität ist kein Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck-- und den gilt es als Erstes zu bestimmen! Eine Unternehmensführung kann sich nicht darauf ausruhen, per Unterschrift mal eben Mittel für eine „Agile Transformation“ freizugeben und sich dann bequem zurücklehnen und die Früchte genießen. Den richtigen unternehmerischen Kontext zu setzen für eine Vielfalt von Vorgehensmodellen erfordert ein hohes Maß an Fokus, Mut, Offenheit, Respekt und Hingabe. Nicht zufällig sind dies die Werte von Scrum. Literatur [1] Hackman, J. Richard: Leading Teams. Setting the Stage for Great Performance, Harvard Business Review Press, Boston MA 2002. [2] Snowden, David J./ Boone: A Leader’s Framework for Decision Making, In: Harvard Business Review 11 / 2007. [3] Cagan, Marty: Inspired. How to Create Tech Products Customers Love, John Wiley & Sons Inc, Hoboken NJ 2017. [4] Beck, Peter: Scrum ist Agile Leadership, https: / / www. dasscrumteam.com / de / blog / scrum-ist-agile-leadership-teil-1, Stand 10. 09. 2020. [5] Christensen, Clayton M.: Competing Against Luck. The Story of Innovation and Customer Choice, Harper Collins, New York NY 2016. [6] Beck, Peter / Gärtner, Markus / Mathis, Christoph/ Roock, Stefan / Schliep, Andreas: ScALeD Agile Lean Development- - Die Prinzipien, http: / / scaledprinciples.org / de/ , Stand: 10. 09. 2020. Eingangsabbildung: © iStock.com / francescoch Andreas Schliep Andreas Schliep DasScrumTeam AG Bahnhofstr. 21 6300 Zug SCHWEIZ Telefon: +49 151 22 366 626 eMail: andreas.schliep@dasscrumteam.com Wissen | Agile Unternehmensführung 33 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 31. Jahrgang · 05/ 2020 DOI 10.2357/ PM-2020-0102