PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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UVK Verlag Tübingen
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GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.Projektmanagement mit künstlerischem Mindset
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Berit Sandberg
Der Beitrag beleuchtet das Potenzial des künstlerischen Sensemaking im Projektmanagement. Ausgehend vom Cynefin-Framework, der auf geeignete Handlungsmuster bei verschiedenen Graden von Unsicherheit verweist, stellt er Parallelen im künstlerischen Denken und Handeln vor und ordnet sie als Strategien zu Bewältigung von Unsicherheit ein. Künstler arbeiten prozess- und ergebnisoffen und sind in der Lage, chaotische und komplexe Situationen mit sensibler Wahrnehmung und im Dialog mit ihrem Material kreativ zu nutzen. Das macht künstlerische Arbeit zu einer zukunftsorientierten und verkörperten Form des Sensemaking, dessen Elemente Bifokalität, Multivalenz, Ambidextrie, Improvisation und Embodiment planungsorientiertes Projekt- und Krisenmanagement bereichern können.
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4 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0041 Spielerisch aus der Krise Projektmanagement mit künstlerischem Mindset Berit Sandberg Für eilige Leser | Der Beitrag beleuchtet das Potenzial des künstlerischen Sensemaking im Projektmanagement. Ausgehend vom Cynefin-Framework, der auf geeignete Handlungsmuster bei verschiedenen Graden von Unsicherheit verweist, stellt er Parallelen im künstlerischen Denken und Handeln vor und ordnet sie als Strategien zu Bewältigung von Unsicherheit ein. Künstler arbeiten prozess- und ergebnisoffen und sind in der Lage, chaotische und komplexe Situationen mit sensibler Wahrnehmung und im Dialog mit ihrem Material kreativ zu nutzen. Das macht künstlerische Arbeit zu einer zukunftsorientierten und verkörperten Form des Sensemaking, dessen Elemente Bifokalität, Multivalenz, Ambidextrie, Improvisation und Embodiment planungsorientiertes Projekt- und Krisenmanagement bereichern können. Schlagwörter | Kunst, Kreativität, Cynefin, Unsicherheit, Sensemaking, Improvisation, Embodiment Clint Eastwood und Kathryn Bigelow bleiben bei ihren Filmprojekten immer im Zeitplan und im Budget; oft reizen sie den Rahmen nicht einmal aus. Beide arbeiten auf hohem künstlerischem Niveau: Oscars für den besten Film und die beste Regie führen lange Listen von Auszeichnungen an. Wie gelingt ihnen das? Eastwood kommt mit einem Minimum an Planung aus. Er arbeitet meist ohne Drehplan und Storyboard. Am Drehort schätzt er vorläufig das Setting ein und arbeitet dann mit dem, was er am Drehtag vorfindet. Kamerawinkel und Bildaufbau legt er erst am Set fest. Sein Kameramann weiß, dass er die Szenerie so ausleuchten muss, dass alle Aufnahmemöglichkeiten offen bleiben. Eastwood ist sehr gut vorbereitet und probt selten. Er arbeitet aus dem Moment heraus und braucht für eine Szene normalerweise nur ein, zwei Takes. Über seinen Arbeitsstil sagt er: „I come to the set knowing what we need to do and with very clear ideas of what I think will work, but I don‘t like to walk in and impose on the setting with a lot of preconceptions. I like to see what we‘ve got on that day, what the lighting is like, what’s in the environment, what‘s interesting or can be made to become interesting and then to see where the actors are going to go.-… I like to be open to what I find.-… I like to respond to all that, work with it and bring it into the film.“ [1, S. 70 f.] Auch Bigelow verlässt sich auf ihren Instinkt, arbeitet aber anders als Eastwood. Sie nutzt Probenarbeit, um eine klare Vision des Films an ihre Crew zu vermitteln, und braucht ausgefeilte Drehpläne, denn sie dreht alle ihre Filme trotz ambitionierter Settings vor Ort und nicht im Studio. So hatte sie bei tagelangen Dreharbeiten auf dem Meer mehrere Dispos für jede einzelne Stunde des Drehtages. „If you have that level of organization, it enables you to have some freedom and spontaneity“, meint sie [2, S. 124]. „Working on water is an area that even a director can’t control. Once you relegate yourself to that, you realize that you’ve got to be painfully flexible. You’ve got to be ready to shoot anything.-… That kind of flexibility necessitates the need for improvisation.“ [2, S. 126] „So there is this planned disorder and orderly chaos that is constantly being balanced while you work.“ [2, S. 127] Der Schauspieler Harrison Ford, der mit Bigelow gearbeitet hat, sagt über sie: „I don’t remember ever facing the feeling of chaos. Directors have to be able to think on their feet when the time isn’t there, the light isn’t there, when the capacity of an actor to perform isn’t there-- and they have to find a way to make it work anyway. Kathryn never would have survived if she hadn’t been able to do that.“ [3, 5. Abs.] Reportage Projektmanagement mit künstlerischem Mindset DOI 10.24053/ PM-2021-0041 32. Jahrgang · 03/ 2021 Reportage | Projektmanagement mit künstlerischem Mindset 5 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0041 Bigelow lässt ihre Filme aus Details heraus entstehen und vergleicht diesen Prozess mit der Art, wie ein Maler Farbe auf eine weiße Leinwand aufbringt. Eine Analogie, die in Bigelows Biographie wurzelt: Vor ihrer Filmkarriere studierte sie Malerei. „In painting, there are no preconceived notions of what’s possible. You’re always starting with a blank canvas. And that’s what’s given me strength.“ [3, 7. Abs.] In diesen Statements stecken kreative Strategien zum Umgang mit Unsicherheit, die im Kern universell und auch jenseits von Filmprojekten für künstlerische Arbeit typisch sind. Ziel dieses Beitrages ist es, das Potenzial des künstlerischen Mindsets im Projektmanagement aufzuzeigen. Ausgehend vom Cynefin-Framework, der auf geeignete Handlungsmuster bei verschiedenen Graden von Unsicherheit verweist, stellt er Parallelen im künstlerischen Denken und Handeln vor und ordnet sie als Strategien zu Bewältigung von Unsicherheit und Modellierung der Realität ein. Aus den Eigenheiten des künstlerischen Prozesses werden Elemente eines künstlerischen Sensemaking abgeleitet, die auf konventionelles Projekt- und Krisenmanagement übertragen werden können. Unsicherheit als Kreativitätskatalysator Kritische Situationen, in denen die Verantwortlichen unter Zeitdruck und Informationsdefiziten handeln müssen, lassen sich im Projektmanagement kaum vermeiden, denn Projekte sind mit mehr oder weniger großer Unsicherheit verbunden. Wenn diese Unsicherheit so gravierende Ausmaße annimmt, dass sich weder die Ausgangssituation noch geeignete Handlungsalternativen vernünftig beurteilen lassen, entfaltet sich ein Krisenszenario, das die Ziele der Beteiligten und ihre Beziehungen untereinander akut gefährdet. In Krisen verschärfen sich Zeit- und Entscheidungsdruck; Zögern und Fehlentscheidungen haben existenzbedrohende Konsequenzen [4]. Unerwartete Ereignisse sind mit Planung nicht zu bewältigen. Sie erfordern nicht nur Flexibilität im Umgang mit Projektmanagementstandards und Routinen, sondern darüber hinaus auch Offenheit für unkonventionelle, situationsadäquate Lösungen [5, 6]. Erfahrene Projektmanager setzen auf Intuition und implizites Wissen, um handlungsfähig zu bleiben: Sie improvisieren [7] und nutzen damit einen Handlungsmodus, der in Tanz, Theater und Musik als Aufführungs- und Recherchepraxis eine wichtige Rolle spielt. Künstler sind zu Vorbildern für Innovation und Leadership geworden [8, 9], weil sie als kreative Berufsgruppe schlechthin gelten. Sie sind in der Lage, das Unbekannte und Unerwartete in neuartige Werke zu verwandeln. Unsicherheit und Ambiguität auszuhalten und kreativ zu bewältigen, ist eine notwendige Voraussetzung für künstlerisches Schaffen. Das hat den künstlerischen Prozess zur Blaupause für agile Methoden und disruptive Innovation gemacht [10, 11]. Über Handlungsmodelle aus dem Management lassen sich Besonderheiten künstlerischer Arbeitsweisen mit Projektmanagement verbinden. Kreatives Handeln im Cynefin In kritischen Situationen müssen Verantwortliche unter Zeitdruck Entscheidungen treffen, die eine hohe Tragweite haben können. Das Cynefin-Framework-- ausgesprochen kə'nɛvɪn aus dem walisischen für „Habitat“- - ist ein von Edward Snowden entwickeltes Sensemaking-Modell, das Entscheidern hilft, Situationen und Problemstellungen nach dem Grad ihrer Unsicherheit bzw. Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen einzuordnen und einen passenden Handlungsmodus zu finden. Der Begriff Cynefin verweist darauf, dass Entscheider sich mit vielfältigen Umwelteinflüssen und Wissenskategorien auseinandersetzen müssen, ohne diese vollständig rational erfassen zu können. Cynefin hat seine Wurzeln im Wissensmanagement, lässt sich aber auch auf Projektmanagement beziehen [12, 13, 14]. Der ursprüngliche Cynefin-Framework hat vier situative Bereiche: einfach ( simple ), kompliziert ( complicated ), kom- Abbildung 1: Domänen im Cynefin-Framework [in Anlehnung an 14, S. 72] Reportage | Projektmanagement mit künstlerischem Mindset 6 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0041 plex ( complex ) und chaotisch ( chaotic ). Jedem dieser Bereiche ist ein bestimmter Ansatz der Entscheidungsfindung, ein bestimmtes Handlungsmuster zugeordnet (siehe Abbildungen 1 und 2). Eine Situation ist einfach, wenn das Problem klar definiert ist und eine eindeutige, etablierte Lösung vorliegt. Da Problemursachen und Handlungsfolgen offensichtlich sind, orientiert sich das Handeln an einer problemadäquaten Best Practice. Das Problem wird erkannt ( sense ), in ein Schema eingeordnet ( categorize ) und mit einer passenden Reaktion gelöst ( respond ). Imperative für das Projektmanagement sind eine geradlinige Kommunikation und die Durchsetzung von Richtlinien und Routinen. Eine Situation ist kompliziert, wenn Zeit und Expertise erforderlich sind, um das Problem zu verstehen, und aus mehreren möglichen Alternativen eine geeignete Lösung auszuwählen. Es bestehen klare Ursache-Wirkungszusammenhänge, die jedoch nicht für jedermann ersichtlich sind. Das Handeln basiert daher auf einer Good Practice. Das Problem wird erkannt ( sense ), analysiert ( analyze ) und mit geeigneten Maßnahmen adressiert ( respond ). Komplizierte Probleme sind vor allem in Zusammenarbeit mit Experten gut lösbar. Eine komplexe Situation ist dadurch charakterisiert, dass sowohl das Problem selbst als auch seine Lösung unbekannt sind. Da sich Kausalitäten erst im Nachhinein erschließen, ist das Handeln von Experimentieren geprägt. Durch Versuch und Irrtum werden so lange Muster identifiziert ( emergent practice ), bis sich Lösungen abzeichnen und die Situation nur noch kompliziert ist. Auf ein erstes Sondieren ( probe ) und das Erkennen von Effekten ( sense ) folgt eine Aktion ( respond ). Bei komplexen Problemen sind flexible, ergebnisoffene Prozesse mit intensiver Interaktion, Offenheit für Meinungsvielfalt, gezieltem Perspektivwechsel und Fehlertoleranz erfolgversprechender als starre Planung. Chaotische Situationen zeichnen sich durch völlige Unkenntnis von Problem und Lösung aus. Ursache-Wirkungszusammenhänge sind und bleiben unbekannt, weil sie sich schnell verändern. Chaotische Lagen sind vorübergehende Zustände, da sich im Laufe der Zeit von selbst Strukturen herausbilden, doch zunächst liegen Lösungswege völlig im Dunkeln. Das Handeln zielt daher nicht darauf, die beste Lösung auszuwählen, sondern eine ganz neuartige zu finden, die funktioniert ( novel practice ). Die Sequenz beginnt mit einer Sofortmaßnahme, die ein Minimum an Ordnung und Stabilität wiederherstellt ( act ). Auf ein Assessment der daraus entstandenen Situation ( sense ) folgen weitere Maßnahmen ( respond ), die darauf abzielen, die Lage in den Bereich Komplexität zu bringen. Für das Management bedeutet die Konfrontation mit Chaos sofortiges Handeln und klare Topdown-Kommunikation. simple known knowns best practice sense-- categorize-- respond complicated known unknowns good practice sense-- analyse-- respond complex unknown unknowns emergent practice probe-- sense-- respond chaotic unknowables novel practice act-- sense-- respond Abbildung 2: Problemlagen und Handlungsmuster im Cynefin-Framework [14] Das Vorgehen, das das Cynefin-Framework für komplexe Situationen empfiehlt, ist in der soziologischen Handlungstheorie u. a. unter den Begriffen kreatives Handeln [15] und erfahrungsgeleitet-subjektivierendes Handeln [16] geläufig. Es zeichnet sich dadurch aus, dass sowohl die Ziele als auch die Wege, die dorthin führen, nicht vorab festgelegt werden, sondern sich erst in einem experimentellen, quasi spielerischen Handlungsprozess entwickeln [16]. Ziele und Handlungen konkretisieren sich, indem die Akteure eine Situation interpretieren, verschiedene Handlungsalternativen testen und aus ihrer Erfahrung neue Handlungsziele entstehen lassen [15]. Das Konzept des erfahrungsgeleitet-subjektivierenden Handelns, das herkömmliche Projektmanagement-Ansätze ergänzen soll, stellt die subjektive Wahrnehmung von Ereignissen in den Mittelpunkt. Nicht objektivierbare Verhaltensrichtlinien und Pläne lenken die Aktivitäten, sondern die individuelle Wahrnehmung und Reflexion der Situation. In einem fortlaufenden Wechselspiel zwischen Wahrnehmung und Handlung entwickelt sich das Vorgehen schrittweise, organisch, intuitiv und aus dem Moment heraus, so dass sich der Möglichkeitsraum erweitert und kreative Lösungen entstehen, die mit reiner Planung nicht zugänglich gewesen wären [6]. Bei einem Plädoyer für erfahrungsgeleitet-subjektivierendes Handeln kommen zwangsläufig Künstler ins Blickfeld, da sich künstlerische Arbeit in genau diesem Handlungsmodus vollzieht. Künstler liefern nicht nur Anschauungsmaterial für das probe-sense-respond der Komplexitätsbewältigung im Cynefin-Framework, sondern sogar für sofortiges Handeln im Sinne eines act-sense-respond angesichts chaotischer Zustände. Mit der kunstbasierten Analogie lässt sich der abstrakte Modellrahmen veranschaulichen und in Empfehlungen für das Sensemaking in Projekten übersetzen. Kunst als Chaos- und Komplexitätsbewältigung Unabhängig von der Kunstgattung verlaufen künstlerische Prozess ergebnis- und prozessoffen. Künstler beginnen die Arbeit an einem Werk mit einer Absicht und einem Thema. Dabei steht eine bestimmte Frage oder ein Problem im Raum, deren Lösung zunächst ebenso unvorstellbar ist wie die Arbeitsschritte, die zum abgeschlossenen Werk führen. Zwar bewegen sich Künstler vor allem in der darstellenden Kunst und Musik unter organisatorischen Rahmenbedingungen wie Zeit- und Raumplänen, doch für den Kern ihrer schöpferischen Arbeit gibt es weder ein vorab definiertes Ergebnis noch ein Prozessschema oder einen Plan. Künstlerische Ziele werden während des Arbeitsprozesses gefasst und modifiziert und in einem flexiblen Arbeitsstil verfolgt [17]. Die weiße Leinwand oder der leere Raum, mit der Künstler zu Beginn einer Arbeit konfrontiert sind, hat als weitgehend offene Situation chaotischen Charakter. Einen Anfang finden Künstler oft mit einer willkürlichen Setzung, einem ersten Farbauftrag oder einem inhaltlichen Impuls, der eine improvisatorische Materialsammlung anstößt, die weiterführt. Reportage | Projektmanagement mit künstlerischem Mindset 7 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0041 Künstler zwingen dem entstehenden Werk keine Absichten auf. Vielmehr ist es das Material, das Fragen aufwirft und den Prozess leitet [18, 19]. So sind es beispielsweise der Werkstoff in der bildenden Kunst, der Text im Schauspiel und der Körper im Tanz, die durch den Prozess führen. Künstler denken also in einem Medium. Die Idee, mit der der künstlerische Prozess beginnt, wird in diesem Medium erkundet und reflektiert. Sie nimmt eine konkrete Form an, während Künstler einen Dialog mit dem Material führen und schrittweise zum endgültigen Werk gelangen. Daher gibt es keinen objektiven, rationalen Ansatz und kein Muster für den künstlerischen Prozess. Er entwickelt sich aus der ganzheitlichen Wahrnehmung des Augenblicks und in der Reaktion auf das „Verhalten“ des entstehenden Werks [17, 19]. Die Arbeit am Material ist ein zyklisches Wechselspiel von Handlung und Wahrnehmung, in dem die Wahrnehmung dominiert. In diesem Prozess der Erkundung findet ein ständiger Wechsel zwischen Handeln und intuitiver Reflexion über die kontinuierliche Veränderung des Materials statt. Die Entscheidungsfindung ist in der Komplexität des künstlerischen Prozesses kein Ausdruck von Planung, sondern das Ergebnis einer Interaktion zwischen Künstler und Werk [17, 19]. Der künstlerische Prozess verläuft nicht linear. Künstler betrachten ihren Arbeitsprozess als ein Experiment, eine Suchbewegung, die zwar auf handwerklich-technischen Spielregeln und einem über Jahre erlernten Handlungsrepertoire beruht, aber abgesehen von selbstgewählten keinen inhaltlichen oder prozessualen Regeln folgt. In diesem Sinne gibt es für Künstler kein Richtig und kein Falsch, dafür aber eine große Bereitschaft zu scheitern. Arbeitskrisen sehen Künstler eher als Inspirationsquelle und Anstoß, sich von hinderlichen Denkmustern zu lösen [17]. Das künstlerische Mindset ist von Offenheit und Verspieltheit geprägt. Künstler tauchen bewusst in das Unbekannte ein, wobei sie Unsicherheiten in Kauf nehmen und sogar gezielt provozieren, um Möglichkeiten ausgiebig zu erkunden und etwas Originäres zu schaffen. Sie nähern sich sowohl bekannten als auch ungewohnten Situationen mit einer fast naiven, nicht wertenden Sichtweise und der Fähigkeit, sich überraschen zu lassen [17]. Wenn sie mit ihrer Arbeit beginnen, verzichten Künstler bewusst auf Ideen oder Konzepte. Sie ignorieren spontane Assoziationen, um sich der Gefahr der Wiederholung zu entziehen, und verwerfen naheliegende Schritte, um die ganze Bandbreite an Möglichkeiten zu erkunden [17, 19]. Sie vermeiden schnelle Wertungen, um mit ihrem Thema und ihrem Werk Erfahrungen machen zu können, und halten den Entstehungsprozess und damit ihre Ausdrucksmöglichkeiten so lange wie möglich offen. Für Künstler ist diese Art von absichtslosem Spiel eine Möglichkeit, Komplexität zu reduzieren [17, 20], weil sie wissen, dass sich mit der Zeit Strukturen und Bedeutungen herauskristallisieren, und sie über die nötige ästhetische Kompetenz verfügen, diese Strukturen zu erkennen. Damit vollziehen Künstler eine besondere Form des Sensemaking. Künstlerisches Sensemaking Sensemaking bezeichnet einen sozial konstruierten Vorgang, in dem Individuen und Gruppen eine „Vision“ oder ein mentales Modell ihrer Umwelt entwickeln. In Organisationen wird Sensemaking durch Ereignisse ausgelöst, die Routinen stören und einen Überschuss an Information oder Informationsdefizite, also Ambiguität oder Unsicherheit mit sich bringen. In solchen Situationen filtern Menschen Signale aus ihrer Umwelt, versuchen diese Informationen einzuordnen und sich dazu zu verhalten [21]. Als Sensemaking-Modell impliziert das Cynefin-Framework diese unterschiedlichen Wege, Realität zu interpretieren und zu gestalten. Sensemaking in Projekten zielt normalerweise auf Übereinstimmung, Objektivität und Verlässlichkeit im Sinne von Prognosen und Kontrolle und ist vor allem an Ratio und Sprache gebunden [22]. Künstlerisches Sensemaking dagegen ist Sinnfindung in einem Medium, das nicht zwangsläufig mit Sprache verbunden ist. Für den Transfer auf Projektmanagement sind fünf Elemente des künstlerischen Sensemaking Abbildung 3: Künstlerisches Sensemaking Reportage | Projektmanagement mit künstlerischem Mindset 8 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0041 interessant: Bifokalität, Multivalenz, Ambidextrie, Improvisation und Embodiment (siehe Abbildung 3). Bifokalität bezeichnet die Fähigkeit, kontinuierlich zwischen verschiedenen Sehweiten zu wechseln. Es ist ein Wechsel zwischen Detail und ganzheitlicher Wahrnehmung und eine Bewegung zwischen unterschiedlichen Sichtweisen auf ein Problem. Sie unterstützt die Früherkennung schwacher Signale ( weak signals ) und die Wahrnehmung von Aspekten an den Rändern der Wahrnehmung, die normalerweise unbeachtet bleiben. Bifokalität umfasst die Bereitschaft, andere, womöglich völlig konträre Perspektiven einzunehmen. Der gezielte Perspektivwechsel kann mit Metaphern und Analogien zur ursprünglichen Situation oder auch durch einen Bruch mit gewohnten Rollen und Schemata provoziert werden [23]. Multivalenz ist ein wesentliches Merkmal kollektiver künstlerischer Praxis, in der die Vielfalt von Wertvorstellungen und Verhaltensmustern geschätzt und in einem partizipativen Prozess ausbalanciert wird. Es geht um ein Spiel mit Ideen und Interessen der verschiedenen Akteure, in dem es nicht den einen festgelegten Rahmen gibt, um Umweltinformationen zu interpretieren und einzuordnen. Das Denken ist keiner selektiven Wahrnehmung unterworfen und nicht auf bestimmte Facetten einer Problemstellung beschränkt. Vorurteile und ein Denken in Kategorien von Richtig und Falsch weichen größtmöglicher Deutungsoffenheit, mit der organisch ein Gesamtbild der Lage entsteht [24]. Ambidextrie steht für das Nutzen bewährter Konzepte ( exploit ) und gleichzeitige Ausloten neuer Lösungen ( explore ) [25]. Künstlerisches Handeln beruht immer auf vorangegangenen Erfahrungen und einem persönlichen Repertoire an Ressourcenplanung, die funktioniert Projektportfolio-Management Ressourcenplanung Zeit-/ Leistungserfassung Kosten-Controlling Die Testumgebung in der Cloud steht für Sie bereit Scheuring AG CH-4313 Möhlin � +41 61 853 01 54 www.scheuring.ch � info@scheuring.ch www.ressolution.ch Anzeige Handwerk und Ausdrucksvermögen. Zugleich stellt es des Status quo systematisch in Frage, so dass sich ein Zusammenspiel aus Expertise und entdeckendem Lernen entfaltet [24, 26]. Die Auseinandersetzung mit einem Thema oder einem Problem beginnt mit jedem Werk von neuem und hat jedes Mal einen ungewissen Ausgang, weil Künstler bewährte Denkschemata und erfolgreiche Lösungen bewusst ignorieren. Schauspieler, Tänzer und Musiker nutzen Improvisation nicht nur als Aufführungspraxis, sondern auch als Rechercheinstrument, das eine vorurteilsfreie Materialsammlung zu einem Thema und damit mögliche Lösungsfacetten generiert. In diesem Prozess sind Wahrnehmung, Interpretation und spontane Kreation miteinander verwoben; auf Retrospektion folgt unmittelbar die nächste Handlung [27]. Improvisation erfordert ein „Ja, und- …“-Mindset, das offen für Impulse ist und mit der Bereitschaft einhergeht, diese Impulse bedingungslos aufzugreifen und spielerisch weiterzuführen. Obwohl Improvisation auf Expertise und vorher festgelegten Handlungsparametern beruht, entwickelt sie sich letztlich intuitiv aus dem Moment heraus [28]. Im künstlerischen Sensemaking-Prozess spielt Embodiment eine große Rolle, denn künstlerische Arbeit basiert zu einem großen Teil auf implizitem Wissen, das an den Körper und an Bewegung gebunden ist. Ein „Gespür“ für das Material ist Ausdruck kinästhetisch-körperlicher Intelligenz bzw. verkörperter Kognition, die nicht verbal vermittelt werden kann [29]. Künstlerisches Sensemaking geht über kognitive Informationsverarbeitung im Sinne von Kombinationsfähigkeit und divergentem Denken weit hinaus, indem es Gefühle, Körperwahrnehmung und sensorisches Wissen in logisches Denken integriert [22]. Für sich genommen ist keines der Elemente des künstlerischen Sensemaking wirklich neu, doch wenn alle Facetten zu einem Paradigma kombiniert werden, resultiert ein origineller Ansatz, der auch für das Projektmanagement fruchtbar gemacht werden kann. Alle fünf Elemente lassen sich mit kunstbasierten Methoden vermitteln bzw. trainieren. Besonderes Potenzial steckt in der Facette Embodiment, die ein Sensemaking jenseits von Sprache und Ratio impliziert und im Projektmanagement-Diskurs bisher völlig vernachlässigt wird. Literaturverzeichnis [1] Gentry, Rick: Clint Eastwood. In: Duchovnay, Gerald (Hrsg.): Film Voices. Interviews from Post Script. State University of New York Press, New York 2004, S. 63-90 [2] Elick, Ted: K-19-- The Windowmaker. A film by Kathryn Bigelow. In: Keough, Peter (Hrsg.): Kathryn Bigelow. Interviews. University Press of Mississippi, Jackson 2013, S. 120-128 [3] Natale, Richard: Her underwater canvas. Los Angeles Times, 14. 07. 2002, https: / / www.latimes.com / archives / la-xpm-2002-jul-14-ca-natale14-story.html, Stand: 12. 05. 2021 [4] Wiener, Anthony J./ Kahn, Herman: Crisis and arms control. Hudson Institute, Harmon-on-Hudson 1962 [5] Klein, Louis / Biesenthal, Christopher / Dehlin, Erlend: Improvisation in project management. A praxeology. 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Sie entwickelt Konzepte für Arts-based Learning und Artful Leadership und hat 2019 das Label Art Hacking® gegründet. Internet: art-hacking.com/ eMail: berit.sandberg@htw-berlin.de Orcid ID: 0000-0002-2097 - 0368