PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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UVK Verlag Tübingen
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GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.„Upload“ für Projekte!
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Oliver Steeger
Nach der Pandemie werden Mitarbeiter in die Büros zurückkehren. Projektteams treffen sich wieder „face-to-face“. Dennoch: Fachleute erkennen einen Paradigmenwechsel bei Kommunikation, Zusammenarbeit und Lernen. Homeoffices, verteiltes Arbeiten und digitale Kollaboration werden im Arbeitsalltag bleiben. Markus Herkersdorf, Spezialist für virtuelles Lernen und Kollaboration, erkennt einen fundamentalen „Shift“ in der Zusammenarbeit – von dem alle nach der Pandemie profitieren werden. Ginge es nach ihm, würden sich Mitarbeiter künftig in virtuellen Spaces treffen, die bisher ungeahnte Möglichkeiten für Zusammenarbeit und Lernen eröffnen. Im Interview erklärt er, weshalb sich das Rad der Zeit nicht zurückdrehen lassen wird, wie Konzerne wie AUDI oder Bayer mit den neuen Lösungen bereits arbeiten – und weshalb wir uns dennoch weiterhin auch in der realen Welt treffen werden.
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10 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0042 Projekte im virtuellen Space-- ohne zeitliche und räumliche Limits „Upload“ für Projekte! Oliver Steeger Nach der Pandemie werden Mitarbeiter in die Büros zurückkehren. Projektteams treffen sich wieder „face-to-face“. Dennoch: Fachleute erkennen einen Paradigmenwechsel bei Kommunikation, Zusammenarbeit und Lernen. Homeoffices, verteiltes Arbeiten und digitale Kollaboration werden im Arbeitsalltag bleiben. Markus Herkersdorf, Spezialist für virtuelles Lernen und Kollaboration, erkennt einen fundamentalen „Shift“ in der Zusammenarbeit-- von dem alle nach der Pandemie profitieren werden. Ginge es nach ihm, würden sich Mitarbeiter künftig in virtuellen Spaces treffen, die bisher ungeahnte Möglichkeiten für Zusammenarbeit und Lernen eröffnen. Im Interview erklärt er, weshalb sich das Rad der Zeit nicht zurückdrehen lassen wird, wie Konzerne wie AUDI oder Bayer mit den neuen Lösungen bereits arbeiten-- und weshalb wir uns dennoch weiterhin auch in der realen Welt treffen werden. Remote und Digital-- das wird das neue Normal. Viele Experten sind überzeugt: Digitale Kollaboration wird nach der Pandemie weiterhin zum Alltag gehören. Vielfach wird die Videokonferenz durch noch bessere Tools für digitale Kommunikation abgelöst, etwa durch virtuelle Räume, in denen Menschen fast wie in der realen Welt kommunizieren. Stehen wir Ihrer Einschätzung nach vor einer Entwicklung, die das persönliche Treffen in einem Besprechungsraum obsolet macht? Markus Herkersdorf: Nein, das persönliche Zusammenkommen wird mit Sicherheit nicht verschwinden. Direkt nach Ende der Pandemie werden die Menschen natürlich an ihre Arbeitsplätze zurückkommen; die Büros werden voll sein. Langfristig dagegen gilt: Wer sich persönlich mit seinem Team treffen will, wird dies zu begründen haben. Mit welchen Begründungen etwa? Solche Zusammenkünfte werden vielleicht eine Art „Quality time“ sein. Man wird Beziehungen zu pflegen, Teams aufbauen und formen, vielleicht auch an Messen teilnehmen oder gemeinsam Erfolge feiern. Wir werden nicht vereinsamen. Aber-- wir werden nicht an einem physischen Ort zusammenkommen, um etwa Projektdetails zu erörtern. Das kann man sehr gut digital und remote erledigen. Die Pandemie hat gezeigt, dass man von zuhause sehr gut arbeiten kann. Unternehmen haben gelernt, dass sie durchaus erfolgreich sein können- - selbst dann, wenn ihre Büros leer sind. Physische Präsenz und das An-einem-Ort-Zusammenkommen der Menschen ist offenbar keine notwendige Bedingung für Unternehmenserfolg. Nicht alle waren begeistert, über Monate im Homeoffice zu sitzen und an Videokonferenzen teilzunehmen. Mitarbeiter und Manager nutzten diese digitalen Kommunikationstools, weil es nicht anders ging. Das ist richtig. Dennoch ist die breite Akzeptanz hinsichtlich Remote Work und Remote Kommunikation jetzt vorhanden-- und zwar auf allen Feldern, angefangen von Schulung und Training bis hin zu Teamkollaboration. Auch wenn es nach wie vor Skepsis gibt: Viele Menschen erklären sich zur Remote Arbeitsweise bereit, auch viele, die vorher diese Art der Arbeit abgelehnt haben. Sogar Unternehmen erkennen die Vorteile. Es kostet sehr viel Geld, Menschen in die Metropolen zu bringen und dort arbeiten zu lassen. Zudem sind die Raumreserven in der Regel knapp. Aus Platzmangel können viele Besprechungen überhaupt nicht stattfinden. Man muss häufig ausweichen-- was zu zusätzlichen Kosten führen kann. Das sind ja häufig geteilte Kosten. Das Unternehmen stellt Büros, die Mitarbeiter zahlen für das Pendeln-… Reportage „Upload“ für Projekte! DOI 10.24053/ PM-2021-0042 32. Jahrgang · 03/ 2021 Reportage | „Upload“ für Projekte! 11 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0042 …-und gerade die Mitarbeiter zahlen nicht nur mit Geld, sondern auch mit Lebenszeit und Familienzeit. Manche verbringen täglich zwei Stunden und mehr, um zum Büro zu pendeln. Geschäftsreisende müssen oft morgens um vier Uhr aufstehen, um den ersten Zug am Bahnhof zu nehmen- - und um spät am Abend wieder heimzukehren. Das alles wegen einer zweistündigen Besprechung. Das kostet ja nicht nur Zeit, sondern spielt auch stark in Fragen von Klimaschutz und Nachhaltigkeit hinein. Unternehmen meinen es heute mit Nachhaltigkeit ernst, das höre ich in Gesprächen immer häufiger. Umweltschutz ist längt kein Lippenbekenntnis mehr. Aber für mich sind Kosten, Zeitersparnis und Nachhaltigkeit nicht einmal die wichtigsten Vorteile digitaler Kommunikation. Sondern? Aus meiner Sicht bildet Agilität den Dreh- und Angelpunkt. Innovative digitale Kommunikation unterstützt agiles Arbeiten. Unsere Wirtschaft und Gesellschaft haben sich in den vergangenen Jahren stark beschleunigt. Diese Beschleunigung und Dynamik verträgt sich nicht gut mit der Pflicht zur Präsenz. Augenblick! Agiles Projektmanagement setzt intensive Kommunikation im Team und mit Auftraggebern voraus. Da gibt es sehr engmaschige Kommunikationsschleifen, manchmal im Tagesrhythmus. Gerade beim agilen Projektmanagement ist es ein Vorteil, wenn das Team zusammensitzt. Digitale Kommunikation ist aus meiner Sicht deutlich besser für agiles Arbeiten geeignet als unsere klassische Präsenzkultur. Wie gesagt, Menschen werden nach wie vor zusammenkommen- - aber nicht immer physisch, etwa in einem Büro und einem Konferenzraum. Teams können sich auch virtuell treffen, etwa in virtuellen Räumen, wie dies beispielsweise bereits bei AUDI geschieht. ( Hinweis d. Red: siehe Interview „ Unterwegs in ‚Audi spaces‘“ ) Viele Mitarbeiter berichten, dass Videokonferenzen nicht nur Wegezeit sparen, sondern auch Besprechungen effizienter machen. Man kommt schneller auf den Punkt. Man ist eher bereit, sich auch kurzfristig abzustimmen, wenn dies erforderlich scheint. Profitiert davon die agile Arbeit? Das hängt immer individuell von den Einzelnen ab. Es kann ein Vorteil sein- - wenn man richtig damit umgeht. Digitale Besprechungen sparen Zeit. Wer aber statt bislang täglich zwei Abstimmungen dann fünf oder sieben hat, wird wenig gewinnen. Weil Videokonferenzen anstrengender sind als persönliche Gespräche? Videokonferenzen sind anstrengend. Ein Beispiel: Viele Teilnehmer haben keine Kamera eingeschaltet, aus welchen Gründen auch immer. Dann schaut man auf eine Reihe mit schwarzen Kacheln-- und nicht in Gesichter. Man weiß häufig nicht, wer gerade spricht. Und man hat keine Idee, ob überhaupt noch jemand zuhört. Das heißt, die Videokonferenz ist nicht das optimale Tool für die Zukunft? Das würde ich nicht so pauschal sagen. Für schnelle Abstimmungen sind Videokonferenzen sicherlich geeignet. Aber allein mit Videokonferenzen kommen wir aus meiner Sicht nicht voran. Eben sprachen Sie von digitalen, virtuellen Räumen. Mitarbeiter treffen sich zum Beispiel mit ihrem Team in digitalen Konferenzräumen, Kaminzimmern, Messehallen oder Seminarräumen. Das wirkt alles sehr natürlich, etwa wie in Videospielen. Mit diesen virtuellen Räumen befassen Sie sich seit vielen Jahren. Sie entwickeln in Ihrem Unternehmen digitale Lösungen beispielsweise für Trainings, Schulungen oder Workshops. Wer an solch einer Besprechung im digitalen Raum teilnimmt, wird einen fundamentalen Unterschied zur Videokonferenz feststellen: Er und die anderen Teilnehmer sind nicht persönlich zu sehen, also etwa in einem kleinen Fenster auf dem Bildschirm. Man ist mit Avataren vertreten. Welche Vorteile bieten diese virtuellen Räume aus Ihrer Sicht? Im Vergleich zu Videokonferenzen bieten virtuelle Räume eine immersive Umgebung. Der Begriff Immersion beschreibt das Eintauchen in eine virtuelle Umgebung mit dem Gefühl, dass man wirklich präsent ist in diesen Räumen und tatsäch- Gesprächsrunde im virtuellen Space. Abbildung: TriCat Reportage | „Upload“ für Projekte! 12 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0042 lich an einer Besprechung, Schulung oder an einem Training teilnimmt. Das gesamte Erleben der Kommunikation und der sozialen Interaktion wirkt echt und überzeugend. Aus psychologischer Sicht wird das als „sense of presence” bezeichnet. Weshalb ist Immersion so bedeutsam? Das Gefühl der wahrgenommen virtuellen Präsenz unterstützt die Kommunikation vor allem, wenn es um mehr als reinen Faktenaustausch geht- - etwa Vertrauen aufbauen, soziale Nähe wahrnehmen oder eine Situation aus anderer Perspektive betrachten, etwa aus der von Kunden oder Nutzern. Für diese Art hat man bislang immer physische Präsenz vorausgesetzt. Präsent heißt, dass man nicht selbst im Raum ist, sondern mit seinem digitalen Stellvertreter, dem Avatar. Beispielsweise sitzt man mit den Avataren der anderen Besprechungsteilnehmer an einem Konferenztisch und diskutiert Entwürfe. Erstaunlicherweise interpretiert das menschliche Gehirn solche Avatare als real. Es wertet die Situation als echte Gesprächssituation. Das ist genau dieser „sense of presence“, den ich eben erwähnt habe. In den virtuellen Räumen kommt tatsächlich soziale Nähe auf, dies zeigt die Forschung. Man interagiert frei mit einer Gruppe, geht auf Menschen zu, spricht sie an; allein die Bewegungen der Avatare zeigen, was wir sozial ausdrücken wollen. Die menschliche Interaktion mit Körpersignalen wie Zuwendung, Annäherung, Lächeln wurde evolutionär über Jahrtausende entwickelt. Sie ist uns in Fleisch und Blut übergangen. Im virtuellen Raum kann sie ganz genutzt werden. Ebenfalls wichtig ist der Raum selbst: Die drei Dimensionen, die wir hier erleben, kommen unserem Gehirn auf vielen Ebenen entgegen. Wir kehren beim Arbeiten gewissermaßen in die dritte Dimension zurück. Inwiefern zurück in die dritte Dimension? In den vergangenen Jahrzehnten haben wir die Arbeitswelt quasi flach gemacht. Wir haben sie in Tabellen, Zeichnungen und Präsentationen gepresst. Damit kommen Menschen, die über mathematisches Abstraktionsvermögen verfügen, zurecht. Für viele andere geht aber etwas verloren. Was könnte man im Raum gewinnen? Unser Gehirn ist evolutionär auf räumliches Erkennen, Denken und Interagieren trainiert. Beispielsweise sind wir in der Lage, Informationen im Raum sehr schnell und intuitiv zu erfassen. Führen Sie sich mal den Unterschied zwischen einer Videokonferenz und einer virtuellen Besprechung vor Augen. Bei der Videokonferenz sehen Sie viele winzige Fenster mit Ihren Gesprächspartnern. Das ist zweidimensional. Dagegen sitzen Sie im virtuellen Raum mit Ihren Besprechungsteilnehmern zum Beispiel um einen Tisch. Sie können wesentlich schneller erfassen, wer gerade spricht. Sie ordnen die Stimme räumlich zu; sie kommt aus der Richtung des Sprechenden. Ein anderes Beispiel: Betreten Sie einen Raum, erfassen Sie in Sekundenbruchteilen die Situation. Sie finden schnell heraus, wie die Personen zueinanderstehen und wie die Stimmung ist. Wir wissen, was es bedeutet, wenn jemand auf uns zukommt. Das heißt, unser Gehirn ist Meister im Analysieren räumlicher Daten? Das hat man wissenschaftlich sehr gut mit Versuchen untermauert. Ein Beispiel: Stellen Sie sich ein Flugzeugcockpit mit sehr vielen Anzeigen vor. Alle Anzeigen signalisieren Normwerte, nur eine Anzeige weicht ab vom Sollwert. Es ist nun die Aufgabe, unter allen Anzeigen diejenige mit der Abweichung schnell zu erkennen. Bei rein numerischen Anzeigen ist dies schwierig. Anders bei analogen Zeigern. Man sieht sofort, welcher Zeiger in eine andere Richtung weist als alle anderen. Lebhafte Interaktion im virtuellen Raum. Menschen werden sich künftig immer häufiger „digital“ begegnen-- sei es, um zu lernen oder an einem Projekt zu arbeiten. Abbildung: TriCat Reportage | „Upload“ für Projekte! 13 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0042 Das heißt, dass wir buchstäblich Informationen verorten. Je plastischer, desto besser-- und leichter für das Gehirn. Richtig. Ein weiteres Beispiel: Stellen Sie sich einen Design- Thinking-Workshop im virtuellen Raum vor. Die Gruppe versucht, einen typischen Nutzer einer Softwarelösung zu beschreiben: Eine berufstätige Akademikerin, um die dreißig, zwei Kinder, auf dem Karrieresprung-… Solche sogenannten „Personas“ beschreibt man klassisch oft auf Pinnwänden, also mit Notizen, Fotos oder einer Zeichnung. Im virtuellen Raum kann man diese Persona auftreten lassen mit allen Attributen, die ihr zugeschrieben werden. Sie wird wirklich verkörpert. Das hat auf den Design-Thinking-Prozess einen ganz anderen Effekt als Notizen auf Papier. Zumal diese virtuelle Persona sogar auf Fragen antworten könnte-- und dies mittels KI-basierter Verhaltens- und Emotionsmodelle auch emotional. Ein weiteres Beispiel? Gerne! Nehmen wir an, Mitarbeiter sollen für die Inbetriebnahme einer Maschine geschult werden. In den virtuellen Raum können Sie einen digitalen Zwilling dieser Maschine stellen und Mitarbeiter an das dreidimensionale Modell heranführen. Sie gehen mit ihren Mitarbeitern um diese Maschine herum und erklären ihnen die Features oder interagieren sogar mit der Maschine. Das ist vor allem dann spannend, wenn die Maschine bisher nur in der Planung besteht. Ein letztes Beispiel: Angenommen, Sie wollen einen Projektmanagement-Prozess schulen, der aus vielen Einzelschritten besteht. Das wird heute viel auf Papier oder mit Folien gemacht. Stellen Sie sich vor, Sie bauen diesen Prozess dreidimensional im virtuellen Raum nach. Jeder Prozessschritt ist eine Station im Raum. Sie führen Ihre Projektmanager durch diesen Prozess- - von Station zu Station. Die meisten haben sich soeben mit Videokonferenzen arrangiert. Das, was Sie beschreiben, klingt dagegen wie ferne Zukunft, wie Science Fiction. Ich denke nicht, dass wir hier Science Fiction diskutieren. Virtualisierung ist ein starker Technologietrend. Unsere reale Welt wird immer mehr virtualisiert- - in dem Sinne, dass sie einen virtuellen Zwilling bekommt. Es gibt bereits dreidimensionale, begehbare virtuelle Modelle von Häusern oder Fertigungsanlagen. Große Tech-Konzerne haben die Vision, die gesamte Erdoberfläche dreidimensional abzubilden. Denkbar sind virtuelle, dreidimensionale Städte, sozusagen als Erweiterung realer Städte, mit völlig neuen Begegnungs-, Erlebnis- und Interaktionsmöglichkeiten. Bedenken Sie, was das an neuen Geschäftsmodellen bedeuten könnte, an sozialer Teilhabe und Zugang oder einfach nur Reduktion von Verkehr. Das alles wird nicht von heute auf morgen da sein. Doch daran wird überall auf der Welt gearbeitet. Was erwarten Sie für die nahe Zukunft? Ich denke, wir werden im virtuellen Raum mehr KI-Agenten sehen, also Avatare, die künstliche Intelligenz nutzen und uns bei der Arbeit im virtuellen Raum unterstützen. Eine Art digitaler Butler? Sagen wir: Ein Assistent. Im digitalen Raum stehen uns ja jede Menge Daten zur Verfügung. Diese KI-Agenten werden diese Daten auswerten und uns mit Informationen versorgen. Also ein Assistent, dem man beispielsweise Fragen zum Projektstatus stellen kann oder der als Coach fungiert? Gut möglich! Wir arbeiten in dahingehenden Forschungsprojekten mit. Dort entwickeln wir zum Beispiel sprachgesteuerte Avatare. Sie sind befähigt, Emotionen zu erkennen und Stakeholder für eine Projekt-Präsentation im virtuellen Space treffen? Heute schon möglich, Zugeschaltet werden können Menschen aus aller Welt. Abbildung: TriCat Reportage | „Upload“ für Projekte! 14 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0042 auszudrücken. Man hat den Eindruck, dass man im virtuellen Raum mehr einem Menschen gegenübersteht- - und nicht einem Roboter. Der Agent könnte uns begrüßen, etwas erklären oder Begleitprozesse abnehmen. Natürlich verhält er sich noch nicht wie ein Mensch. Davon sind wir noch entfernt. Aber die heutigen digitalen Avatare haben bereits eine hinreichend gute Qualität, Menschen zu unterstützen. Haben Sie dafür ein aktuelles Beispiel? Für Bayer haben wir eine Lösung für On-Boarding entwickelt, also dafür, Mitarbeiter mit dem Unternehmen bekanntzumachen. Früher hat man dafür dutzende von Folien mit Organigrammen und Tabellen verwendet. Heute werden neue Mitarbeiter durch ein virtuelles Gebäude im typischen Bayer CI geführt. Dieses Gebäude bildet die Konzernstruktur ab; jede Division hat einen eigenen Raum. Charakteristische visuelle und akustische Eindrücke schaffen sofort eine unmittelbare Bindung zu dieser Division. In dem Raum für Agrarwirtschaft etwa bewegt man sich durch eine typische Landwirtschaftsumgebung. An diesen Eindrücken werden Informationen aufgehängt und beispielsweise über ein Video oder eine interaktive Landkarte vermittelt. Man kann dreidimensionale Produkte erleben oder an einem Wissensquiz teilnehmen. Das Lernen wird also zum echten und einprägsamen Erlebnis, begleitet und geführt durch einen digitalen Avatar-- dem persönlichen Guide. Denken wir diese KI-Agenten mal weiter. Sehen Sie die Möglichkeit, dass beispielsweise Project Management Offices solche virtuellen KI-Agenten als Berater für Projektmanager einsetzen? Das ist natürlich eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. Vielleicht könnte solch ein Avatar mit objektivierbaren Standard-Themen betraut werden, etwa der Vermittlung von prozessorientiertem Basiswissen, Best Practices, Kennzahlen und unternehmenstypischen Vorgehensweisen. Doch ein KI-Agent wird nicht Verhalten bewerten oder Situationen in allen Dimensionen analysieren und zu Entscheidungen kommen. Da sind Menschen nach wie vor unschlagbar. Das werden sie auch noch lange noch bleiben. Vorhin haben Sie davon gesprochen, dass die physische Welt virtualisiert wird. Sie bekommt einen digitalen Zwilling im virtuellen Raum, etwa eine Maschine. Wäre es denkbar, dass Projektteams künftig in virtuellen Räumen Maschinen entwickeln mit Hilfe solcher virtuellen Modelle? Quasi direkt am Modell arbeiten, Experimente durchführen und Studien machen? Hier muss man heute noch unterscheiden. Virtueller Entwurf, virtuelles Prototyping oder virtuelle Inbetriebnahme sind bereits gängige Verfahren. Aufgrund der vielfältigen, in Teilen hochpräzisen und komplexen Anforderungen sind dies aber noch ausgesprochene Spezialistenthemen mit anspruchsvoller Simulationssoftware. Denken Sie etwa an Temperatur- oder Schwingungsverhalten! Wo diese extreme Genauigkeit und hohe Detailierungstiefe nicht erforderlich ist, ergeben sich mit vereinfachten digitalen Zwillingen in virtuellen Umgebungen breite Einsatzmöglichkeiten. Audi arbeitet im virtuellen Trainingscenter-- einer virtuellen Akademie-- für Schulungen mit einem virtuellen Hochvolt-Fahrzeug. Das gleiche Fahrzeug könnte aber auch in anderen virtuellen Raumumgebungen stehen-- etwa auf einer virtuellen Online-Messe oder im virtuellen Autohaus. Das heißt-- der virtuelle Raum ist wie eine Plattform: Potenziell unendlich gestaltbar und unendlich skalierbar. Ja. Haben Sie einmal einen virtuellen Raum, können Sie den jederzeit ändern. Ob Sie darin Führungskräfte zum Kamingespräch einladen, Workshops durchführen, Schulungen, Verkaufsveranstaltungen oder Workshops für Problemlösungen-- das spielt anders als in der realen Welt gar keine Rolle. Im Grunde können Sie die gesamte Wertschöpfungskette eines Die virtuelle „Begehung“ von Fabriken ist keine Zukunftsmusik mehr. Abbildung: TriCat Reportage | „Upload“ für Projekte! 15 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0042 Unternehmens in den digitalen Raum auslagern- - mit Ausnahme der Produktion. Wie bitte? Fast die gesamte Wertschöpfungskette? Wir können nahezu alle Phasen der Produktentwicklung abbilden: Die erste Phase mit dem Entwurf des Produkts sowie der Marktanalyse und der Kundenbeteiligung. Die zweite Phase ist die Designphase, in der erste Modelle entstehen. Dann werden die Modelle verifiziert, es wird entwickelt und experimentiert. Dann geht es zum Prototyping. Parallel dazu bildet man Vertriebsmitarbeiter aus und bezieht das Marketing ein. Später geht es in die Herstellung, und dann geht’s weiter in den Verkauf. Heute ist dies oft das Ende-- bis der Kunde dann in drei Jahren oder noch später Interesse am nächsten Fahrzeug hat. Mit virtuellen Konzepten entstehen hingegen völlig neue Möglichkeiten für kontinuierliche Kunden Touch Points und erlebnisorientierte Kundenbindung sowie erweitertes Servicegeschäft. Mit Ausnahme der Fertigung und Montage gibt es keinen Bereich, den man nicht virtualisieren könnte. Wie gesagt, könnte. Es wird noch Jahre dauern, bis sich dieser Wandel breit durchsetzen wird. Doch ich gehe fest davon aus, dass die Arbeit nicht nur zeitlich entgrenzt wird, sondern auch räumlich. Räumliche Entgrenzung- - wie darf ich dies verstehen? Wir bekommen neue Möglichkeiten. Ein Beispiel: In der frühen Designphase kann man die Kunden einbeziehen. Man kann weltweit das Publikum in den virtuellen Raum holen und um Feedback zum digitalen Zwilling bitten. In der Spieleindustrie ist heute so etwas bereits üblich. Spieleentwickler bauen kontinuierlich für eine repräsentative Auswahl von Spielern-- bis zu einigen tausend! -- ein neues Feature ein und beobachten deren Reaktion. Kommt dieses Feature nicht gut an, wird die Weiterentwicklung sofort gestoppt. Da wird nicht gefragt, weshalb das neue Feature keine Resonanz gefunden hat. Man nimmt das Ergebnis zur Kenntnis und macht einfach mit einem anderen Feature weiter. Kommt es gut an, dann wird das Feature weiterentwickelt-… Das ist lupenreine agile Projektarbeit. Bei Scrum werden nach Sprints dem Kunden funktionsfähige Zwischenergebnisse vorgestellt. Sie können global und vor zahlenmäßig großem Publikum präsentieren. Diese Abläufe kann man im virtuellen Raum sogar automatisieren. Künstliche Intelligenz kann die Feedback- Ergebnisse auswerten. Mit einer Präsenzmaßnahme wäre dies kaum möglich- - nicht mit dieser Reichweite, qualitativ wie quantitativ. Sie sagten, auch die weitere virtuelle Produktentwicklung profitiert von der räumlichen Entgrenzung-… Anders als ein Büro ist der virtuelle Raum nicht unbedingt an ein einzelnes Unternehmen gebunden. Unternehmen können beispielsweise Zulieferer einbeziehen und auch räumlich ins Projekt holen. Oder das Unternehmen kann weltweit gesuchte Spezialisten ins Projekt integrieren. Diese Spezialisten arbeiten für ein paar Wochen am Projekt mit-- und zwar von ihrem jeweiligen Heimatort aus. Es gibt wirklich kaum noch Limits hinsichtlich der örtlichen Umgebung. Langsam, bitte! Sie haben Computerspiele genannt. Computerspiele finden ja ohnehin im virtuellen Raum statt. Es sollte kein Problem sein, Gamer für ein Feedback einzuladen. Doch was ist mit echten Gegenständen, etwa Autos? Autos wirken ja nicht nur durch ihr Design. Viele Kunden wollen sich zumindest mal ins Auto setzen, das Leder der Sitze berühren, den Sound des Motors hören. Solche Sinneseindrücke kann man in der virtuellen Welt nur eingeschränkt transportieren. Ich kann im virtuellen Raum halt nichts berühren und in die Hand nehmen-… Zwei Punkte dazu. Erstens, visuelle und akustische Signale sind für uns Menschen primär. Das heißt, beide Sinneskanäle können wir schon heute im virtuellen Raum abdecken. Zweitens, auch andere Sinne können durchaus angesprochen werden. Wie soll das gehen? Wir haben die Möglichkeit, etwa haptisches Feedback zu übermitteln und den Tastsinn anzusprechen. Ein Beispiel: Wir haben eine Lösung für virtuelle Notfallausbildung im Bereich Medizin entwickelt. Die Teilnehmer setzen sich virtuelle Brillen auf. Dann betreten sie eine virtuelle Einsatzsituation, eine Übungssituation mit einem Verletzten. Die Aufgabe besteht darin, die Anamnese durchzuführen, den Zustand abzuklären und die Behandlung einzuleiten. In dieser Situation müssen Ärzte oder Notfallsanitäter den Puls am Arm des virtuellen Patienten ertasten. Das Signal wird über einen Vibrationsmotor in den Controllern übertragen. Die Teilnehmer nehmen ihn aber wirklich als Puls wahr. Sie sagen nicht: Da vibriert etwas an meinem Finger. Sie sagen: Der Patient hat einen Puls von 72. Das Gehirn interpretiert das Signal als Pulstasten? Es verarbeitet es so, als handele es sich wirklich um einen Puls, den man fühlt? Ja. Es kompensiert das, was fehlt. Es ist grundsätzlich möglich, dass Signale von einem Sinn zum anderen überspringen. Wie bei der Synästhesie? In etwa. Es gibt Lösungen, bei denen akustische Signale als Berührungsgefühl in Fingern wahrgenommen werden. Damit wird derzeit experimentiert. Doch bis wir solche Effekte in der Breite nutzen können, wird noch Zeit vergehen. Bei physischen und virtuellen Räumen handelt sich immer noch um zwei völlig getrennte Welten. Gibt es Überlegungen, beide Welten irgendwann einmal miteinander zu verschmelzen? Kann man dann vielleicht Kollegen aus dem virtuellen und dem realen Raum in ein Besprechungszimmer setzen? Das ist tatsächlich das Ziel großer Softwareunternehmen. Da geht es um holographische Lösungen und Mixed Reality. So etwas kennen wir bereits beispielsweise von Navigationssystemen; man kann heute bereits 3-D-Objekte in die physische Welt projizieren. Das machen wir auch schon. Aha? Wo? Bei der virtuellen Notfallausbildung können wir den virtuellen Verletzten aus der virtuellen Umgebung herauslösen und ihn Reportage | „Upload“ für Projekte! 16 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0042 in die reale Umgebung bringen. Dann sieht man ihn auf dem Bildschirm etwa eines Tablets. Augenblick! Man schaltet die Kamera eines Tablets ein. Man betrachtet die reale Umgebung auf dem Bildschirm- - und kann dann den virtuellen Verletzten direkt vor sich etwa auf eine Liege setzen? Ja, die physische und virtuelle Welt verschmelzen auf dem Bildschirm. Dies setzen wir ein, wenn beispielsweise Aufsichtspersonen geschult werden, also medizinische Laien statt Mediziner. Auf diese Weise zeigen wir, welche Symptome etwa auf einen allergischen Schock oder einen Schlaganfall hinweisen. Wir können diese Menschen unterstützen, besser Erste Hilfe zu leisten. Darf ich dies alles weiterdenken? Angenommen, die physische und die virtuelle Realität verschmelzen immer weiter. Dann wären Projekträume denkbar, also für ein Projekt reservierte Arbeitsräume. Obwohl das Team über mehrere Standorte verteilt ist, kann es in diesem virtuellen Raum gemeinsam an seinem Projekt arbeiten. Agile Projektarbeit mit verteilten Teams wäre damit enorm erleichtert. So etwas wäre möglich. Die Projektdaten sind in einem solchen Projektraum prinzipiell verfügbar. Das Kernteam könnte auf solche Daten ganz zugreifen. Andere Gruppen bekommen Zugriff nur auf die Daten, die sie brauchen. Und ich halte es für denkbar, dass ein virtueller Assistent des Teams-… …-der eben angesprochene KI-Agent-… Richtig! Er könnte für Stakeholder, Auftraggeber und Top-Manager aktuelle Kurzzusammenfassungen des Projekts liefern. Man könnte sogar weltweit arbeiten und die Vorteile der Zeitzonen nutzen: Die Asiaten fangen morgens an zu arbeiten, die Europäer kommen im Laufe des Tages dazu, und abends übernehmen Amerikaner die Arbeiten. Eingangs sprachen Sie von der empfundenen Nähe, die virtuelle Spaces mit Avataren ermöglichen. Unser Gehirn interpretiert die Kommunikation im virtuellen Raum als natürlich. Zwischen den Menschen entsteht Nähe. Welche Vorteile hätte dies für die Projektarbeit? Die Menschen rücken näher zusammen, und dies kann das Silodenken in Unternehmen aufbrechen. Unternehmen sind ja häufig nicht nur nach Bereichen sozial getrennt, sondern auch nach Standorten. Durch den virtuellen Raum können neue, leistungsfähige Netzwerke entstehen, die über Abteilungen und Standorte hinweggehen. Wieder ein Beispiel: Stellen Sie sich vor, es ist Freitagnachmittag. Sie wollen gerade Feierabend machen und heimgehen. Ihr Telefon klingelt. Ein Kollege aus den USA will sie um Unterlagen bitten. Gehen Sie ans Telefon? Und: Wie schaut es aus, wenn der Kollege aus dem Nachbarbüro Sie um Unterlagen bittet? Schlagen Sie ihm dies ab? Soziale Nähe ist wichtig für Projektteams, besonders für agile Teams. In virtuellen Räumen kann man diese Nähe im Team über die Projektlaufzeit hinweg aufrechterhalten. Eine Abschlussfrage: Videokonferenzen, so sagten wir eingangs, sind durch die Pandemie vielen Menschen vertraut geworden. Anders der virtuelle Raum. Kommunikation, Kollaboration und Lernen in virtuellen Räumen ist bislang wenig bekannt. Wie reagieren Mitarbeiter auf das Angebot, sich in virtuellen Räumen zu treffen? Viele erkennen schnell die Chancen, die Erleichterungen und Vorteile. Sie unterstützen virtuelle Räume. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass viele Menschen gut in diesen Räumen arbeiten können, sei es mit VR Brille oder-- heute noch dominant- - am PC, Laptop oder Tablet. Sie können sogar in einen Flow-Zustand kommen, in dem sie völlig in ihrer Arbeit aufgehen und buchstäblich die reale Umgebung um sich herum vergessen. Auf der einen Seite begegne ich Enthusiasten, die annehmen, dass im virtuellen Raum alles möglich ist. Also Leute, die am liebsten direkt dort einziehen würden? Ja. Auf der anderen Seite halten viele dies noch für Spielerei-- obgleich Konzerne wie Audi, Bayer oder Bosch, aber auch Mittelständler wie Trumpf und sogar Einzeltrainer oder Coaches diese Lösungen bereits einsetzen. Was wird aus der physischen Begegnung? Wie vorhin gesagt, das wird Quality Time. Man wird sich treffen, um frei über alle Themen zu reden und um menschliche Beziehungen zu leben. Da geht es dann nicht um mühselige Prozessarbeit, sondern darum, mit anderen Menschen sozial in Kontakt und in Berührung zu kommen. Wichtig für uns ist es zu verstehen: Bei den virtuellen Räumen handelt es sich nicht um ein neues Tool für unseren Werkzeugkasten. Es geht um mehr als nur ein zusätzliches Werkzeug. Hier geschieht im Augenblick etwas Grundsätzliches und Disruptives, was einen großen Nutzen stiftet. Virtualität macht es möglich, Kollaboration, Kommunikation und Lernen neu zu denken. Eingangsabbildung: © iStock.com / gorodenkoff Markus Herkersdorf Markus Herkersdorf ist Gründer und Geschäftsführer der TriCAT GmbH, Ulm, ein seit 2002 bestehender Lösungsanbieter für virtuelles Lernen, Training und Kollaboration. Markus Herkersdorf studierte Luft- und Raumfahrttechnik; nach einer Pilotenausbildung und Offizierslaufbahn wandte er sich dem Thema Zukunft des Lernens und der verteilten Zusammenarbeit zu. Heute berät er zahlreiche Unternehmen zur digitalen Transformation. Sein besonderes Interesse gilt dabei unter anderem immersiven Lern- und Kollaborationsumgebungen sowie künstlicher Intelligenz.