eJournals PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL 32/3

PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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2941-0878
2941-0886
UVK Verlag Tübingen
10.24053/PM-2021-0049
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2021
323 GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.

Hybrides Projektmanagement und Selbstorganisation in einer klassisch hierarchischen Organisation

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2021
Markus Talay
Matthias Hümmer
Innerhalb der Ausführung eines Großprojektes der Framatome wurde bei einem Systemlieferanten die Lieferung von Dieselgeneratorensysteme beauftragt. Der Auftrag umfasste neben der Hardwarelieferung auch das erforderliche Engineering und die Dokumentation. Dabei war der vertragliche Projektausführungsrahmen (Budget und Zeit) knapp bemessen bei gleichzeitig hohen Anforderungen an die Qualität und vielen Schnittstellen. Es ist nicht verwunderlich, dass die Abwicklung nach klassischen Projektmanagementmethoden (PMM) das Projekt schnell in eine Krise führte. Durch einen Wechsel der PMM hin zu einem agileren Vorgehen mittels hybridem Projektmanagement und Selbstorganisation konnte eine signifikante Verbesserung des Projektergebnisses erzielt werden. Eine vollkommen neue Abwicklungsform, erfolgreich eingesetzt unter den Randbedingungen eines starren und hierarchisch organisierten Unternehmens. Grundvoraussetzung dafür sind Vertrauen, Exzellenz und Rahmenbedingungen (RVE-Konzept).
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37 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0049 Erläuterung anhand eines Projektes für Dieselgeneratorensysteme Hybrides Projektmanagement und Selbstorganisation in einer klassisch hierarchischen Organisation Markus Talay, Matthias Hümmer Für eilige Leser | Innerhalb der Ausführung eines Großprojektes der Framatome wurde bei einem Systemlieferanten die Lieferung von Dieselgeneratorensysteme beauftragt. Der Auftrag umfasste neben der Hardwarelieferung auch das erforderliche Engineering und die Dokumentation. Dabei war der vertragliche Projektausführungsrahmen (Budget und Zeit) knapp bemessen bei gleichzeitig hohen Anforderungen an die Qualität und vielen Schnittstellen. Es ist nicht verwunderlich, dass die Abwicklung nach klassischen Projektmanagementmethoden (PMM) das Projekt schnell in eine Krise führte. Durch einen Wechsel der PMM hin zu einem agileren Vorgehen mittels hybridem Projektmanagement und Selbstorganisation konnte eine signifikante Verbesserung des Projektergebnisses erzielt werden. Eine vollkommen neue Abwicklungsform, erfolgreich eingesetzt unter den Randbedingungen eines starren und hierarchisch organisierten Unternehmens. Grundvoraussetzung dafür sind Vertrauen, Exzellenz und Rahmenbedingungen (RVE-Konzept). Schlagwörter | VUKA, Großanlagen, Komplexität, Randbedingungen, Dieselgeneratoren Einleitung In einem von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität (VUKA) geprägten Markt- und Arbeitsumfeld stehen die Protagonisten des deutschen Großanlagenbaus (dGAB) mit dem Rücken zur Wand. Die Unternehmen im dGAB sind überwiegend projektorientierte Unternehmen, die eine hierarchische aufgebaute Matrixorganisation vorweisen. Die Projektierung erfolgt über eine hohe Anzahl an Vorgaben und Prozessen, die zu einer starren und unflexiblen Organisation führen. Scheinbar genügen diese Unternehmensformen, gepaart mit klassischen Projektmanagementansätzen, nicht mehr den heutigen VUKA-Anforderungen. Hinterfragt man nun, warum diese Situation auftritt, dann lassen sich die Unternehmensformen nach Mintzberg [1] nutzen. Über diesen Ansatz sieht man, dass dGAB Unternehmensformen nach Mintzberg im Bereich der Maschinenorganisation oder Berufsorganisation eingeordnet werden können (Abbildung 1). Diese Unternehmensformen sind für einfache und stabile Projekte sowie wiederkehrende Arbeiten ausgelegt. Betrachtet man weiter im gleichen Bild (Abbildung 1) die Projekte des dGAB, so zeigt sich, dass diese Projekte in den Bereich komplex und dynamisch zu kategorisieren sind. Es tritt ein Miss-Match von Unternehmensorganisation und Projektorganisation auf und führt vor Augen, warum unter diesen Voraussetzungen eine erfolgreiche Abwicklung von Großprojekten in der VUKA-Welt nur äußerst schwer zu erreichen ist. Ein Umdenken ist erforderlich. In diesem Artikel wird dazu eine real umgesetzte Vorgehensweise präsentiert und diskutiert, die zeigt, dass eine Entwicklung und ein Wechsel hin zu hybriden Projektmanagementmethoden und Selbstorganisation eine Lösung für diese Situation sein kann. Wissen Hybrides Projektmanagement und Selbstorganisation DOI 10.24053/ PM-2021-0049 32. Jahrgang · 03/ 2021 Wissen | Hybrides Projektmanagement und Selbstorganisation 38 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0049 1. Projektabwicklung unter realen Bedingungen 1.1 Projektüberblick Im Rahmen eines Megaprojektes der Framatome wurden vier Dieselgeneratorensysteme, ein Ersatzmotor und ein Ersatzgenerator geliefert. Die Dieselgeneratorensysteme wirken innerhalb eines Kraftwerks als Sicherheitsbarriere (dritte Sicherheitsbarriere) und springen bei einem Stromausfall ein, so dass notwendige Systemprozesse in der Anlage ihre Funktionalität behalten und die Anlage in den unkritischen Zustand geführt werden kann. Der Liefer- und Leistungsumfang (LuL) wurde bei einem Systemlieferanten inklusive dessen neun Zulieferern beauftragt. Der LuL beinhaltete die Erstellung der Fertigungsunterlagen (18 Dokumentenpakete mit insgesamt ca. 600 Einzeldokumenten), die Fertigung des Dieselaggregats und der notwendigen Systemkomponenten, um das Dieselsystem betreiben zu können, die Verpackung sowie die Erstellung der Enddokumentation. Es existierten viele Schnittstellen die koordiniert werden mussten, wie auch einen unabhängigen Gutachter im Auftrag des Kunden, welcher die Kundenanforderungen für den LuL zusätzlich überwachte und an verschiedenen Punkten der Abwicklung Freigaben für den nächsten Schritt zu geben hatte. 1.2 Planung und Realisierung Die Durchführung der Arbeiten wurde nach klassischen Projektmanagementansätzen (wie z. B. Project Management Institute) geplant. Die geplante Projektdauer wurde mit insgesamt 48 Monaten angesetzt, welche über drei sequenziell zu durchlaufende Phasen (Fertigungsunterlagen, Fertigung und Enddokumentation) mit einem Freigabepunkt durch Kunden und Gutachter untergliedert wurde. Aus Sicht der Projektbeteiligten beinhaltete die Abwicklung ausreichend Zeit und Budget zur erfolgreichen Abwicklung eines schon bekannten LuL. Allerdings wurde in der Projektausführung die Planung auf eine starke Probe gestellt, denn in der Projektabwicklung nach klassischen Projektmanagementansätzen traten etliche Störungen auf. Insbesondere die Erstellung und die Prüfung der Vorprüfunterlagen-- Unterlagen zur Fertigung welche vor Produktionsbeginn erstellt und freigegeben werden müssen-- benötigte immens mehr Zeit, was durch unterschiedliche Designvorstellungen bedingt wurde. Des Weiteren hat der erforderliche Dokumentationsaufwand den ursprünglich angedachten Rahmen gesprengt. D. h. eine Abarbeitung und Prüfung in der geplanten Zeit und am geplanten Ort waren nicht realisierbar. Es war schnell klar, dass wegen fehlender Freigaben die Fertigung blockiert und, bezogen auf die Planung, verspätet gestartet werden würde. Mit Blick auf den Endtermin führte dies zu einer Anpassung des Terminplans und insbesondere auch des Arbeitsablaufs sowie der Arbeitsweise. Diese Änderungen werden nun in der angepassten Abwicklung in den Phasen Fertigungsunterlagen, Fertigung und Enddokumentation betrachtet und die aufgetretenen Effekte auf die Arbeitsweise beurteilt. Fertigungsunterlagen Die sequenzielle Bearbeitung (d. h. Unterlagenerstellung für alle Pakete mit anschließender Freigabe) in der Phase der Fertigungsdokumentationserstellung wurde abgeändert. Dabei wurde von einer kompletten hin zu einer paketweisen Dokumentationseinreichung mit unvollständigen, aber sinnvollen Paketen gewechselt, d. h., eine Adaptierung der Rahmenbedingungen erfolgte. Darüber hinaus wurde in einen anderen Bearbeitungsmodus gewechselt zur Erstellung und Prüfung der Vorprüfunterlagen. Mithilfe von Workshops wurden die Dokumente durch Lieferanten, Firma und Gutachter gemeinsam geprüft. Die Vorgehensweise der Workshops erfolgte in einem agilen Modus. Die Workshops wurden in Sprintform wöchentlich mit allen beteiligten Parteien geplant und durchgeführt. Dadurch konnten Missverständnisse vermieden und die Dokumentenfreigabe beschleunigt werden. Daraus resultiert auch ein Wechsel vom klassischen in den hybriden Projektmanagementmodus. Der Effekt war eine Verminderung der Missverständnisse und eine Reduzierung der Aufwendungen / Iterationen für erneute Überarbeitung und Prüfung. Insbesondere wurde durch die enge Zusammen- und Teamarbeit über längeren Zeitraum Vertrauen aufgebaut. Vertrauensbildung und gemeinsames Zielverständnis ermöglichten somit eine Steigerung der Kapazitäten bei gleichzeitiger Adaptierung der Ausführungsrandbedingungen. Fertigung Nach der Dokumentationsfreigabe wurde die Fertigung gestartet. Auch hier wurde das ursprüngliche Vorgehen angepasst, und die Fertigungsplanung der Reihenfolge entsprechend der Unterlagenfreigabe adaptiert. Dabei wurde auf zeitkritische Langläufer geachtet, welche separate Teilfreiga- Abbildung 1: Kategorisierung der Organisationsformen und Einordnung des dGAB und seiner Projekte Wissen | Hybrides Projektmanagement und Selbstorganisation 39 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0049 ben für nicht erreichte Meilensteine unter Berücksichtigung von Risikomanagementaspekten erhielten. Die Terminkette wurde dazu den Gegebenheiten angeglichen und dabei dennoch die notwendige Fertigungs- und Produktionsreihenfolge eingehalten. In der Umsetzung war eine intensive Fertigungsverfolgung notwendig, welche den positiven Nebeneffekt ermöglichte, Abweichungen frühzeitig zu identifizieren. Im Falle von Abweichungen wurden Lösungsvorschläge unterbreitet und zwischen allen Parteien abgestimmt. Differenzen, wenn es denn welche gegeben hat, und diese durch die enge, zeitnahe Kommunikation nicht geklärt werden konnten, wurden in parteiübergreifenden Workshops diskutiert und durch gemeinsame Entscheidungsfindung beseitigt. Eine Koordination interner und externer Einheiten für eine schnelle Entscheidungsfindung war zwingend erforderlich. Dies führte zu einer Reduktion der Blockaden. Dies war nur über eine extrem hohe fachliche und methodische Exzellenz sowie eine Steigerung der Verantwortungen / Entscheidungsgewalt aller Beteiligten möglich. Das Ergebnis war eine verkürzte Dauer für die Entscheidungsfindung bei Abweichungen / Problemen und eine verbesserte Risikoidentifikation- - insbesondere Seitens der Lieferanten, weil eine zielorientierte und kooperative Arbeitsweise gelebt und gefördert wurde, und damit eine flexible Reaktion auf wechselnde Rahmenbedingungen erreicht werden konnte. Exzellenz und Steigerung der Verantwortungen innerhalb des Teams führten zu einer flexibleren Handhabung der Randbedingungen und damit zu einer Adaption der Ausführungsrandbedingungen im Vergleich mit klassischen Arbeitsmethoden. Dies führte in Konsequenz zu einer Reduktion der Anforderungen an die Ausführungskapazität der Protagonisten. Abschlussdokumentation Die Erstellung und Prüfung der fertigungsbegleitenden Dokumentation war die abschließende Arbeit beim Systemlieferanten im Projekt. Auch für die Erstellung der aus 92 Ordnern bestehenden Enddokumentation sah die ursprüngliche Planung eine sequenzielle Abarbeitung vor, d. h. Erstellung, Prüfung durch den Hersteller, Prüfung durch den Kunden und durch den Gutachter- - dies nach jedem gefertigten Teilsystem. Die Erfahrung der Fertigungsunterlagenerstellung wurden hier eingebracht und das Vorgehen analog gewählt. Insbesondere die Dokumentationskontrolle zeigte, wie sich eine Veränderung in der Abwicklung positiv auf das Projektergebnis auswirken kann. Dabei ist die Workshopmodus-Bearbeitung, in Anwesenheit aller Parteien, hervorzuheben. Hier ist im Beisein aller Parteien bei Identifikation von nicht anforderungskonformen Unterlagen (z. B. fehlender / mangelnder Zertifikate) über eine sofortige gemeinsame Diskussion eine schnelle Lösungsfindung möglich. Was durch Vertrauen und Steigerung der Einzelverantwortungen innerhalb des Teams begründet werden kann, das zu einer über eine flexiblere Handhabung der Ausführungsrandbedingungen führt. Das Ergebnis der Vorgehensweise war auch in dieser Phase eine signifikante Aufwandsreduzierung. Realisiert zum einen über die Prüfung der Dokumentation in einem kurzen Zeitraum von 5 Wochen und zum anderen durch Vermeidung von zusätzlichen Aufwendungen durch Nacharbeiten. Dies würde in einer sequenziellen, klassischen Abwicklungsform mit erheblichen Mehraufwendungen zu mehreren iterativen Prozessschritten sowie letztlich in höheren Kosten und längerer Abwicklungsdauer führen. Auch hier resultierte das Vorgehen in einer Reduktion der Anforderungen an die Ausführungskapazität, verglichen mit klassischen Arbeitsmethoden oder Projektmanagementansätzen. 1.3 Zwischenfazit Die Änderung von der nicht erfolgreichen, sequenziellen Projektabwicklung und tayloristischen Arbeitsabläufen hin zu einer hybriden, selbstorganisierten Projektabwicklungsform ist nur über erforderliche Anpassungen möglich. Über die drei Phasen des Dieselgenerator-Projektes lassen sich die erforderlichen Anpassungen fassen und in drei interagierende Bereiche unterteilen, welche durch ein zentrales Element noch gefördert werden (siehe Abbildung 2). Die in Abbildung 2 dargestellten Elemente (Ausführungsrahmenbedingungen, Vertrauen und Exzellenz der Beteiligten) lassen sich wie folgt verstehen: • Rahmenbedingungen-- Diese lassen sich über die Projektabwicklung (Liefer- und Leistungsumfang, Termine, Budget und Qualität), Informationssysteme (Computer Program- Abbildung 2: Interagierende Bereiche für selbstorganisierte Arbeitsweise. Quelle: Eigene Darstellung Wissen | Hybrides Projektmanagement und Selbstorganisation 40 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0049 me, Hilfsmittel etc.) Regelwerke, Prozesse und Einbindung von Gutachtern etc. angeben. • Vertrauen-- Neben Rahmenbedingungen ist das Vertrauen ein weiteres zentrales Element für eine Zusammenarbeit innerhalb des Teams. Vertrauen existiert aufgrund von Firmengrenzen nicht a priori, und muss über einen längeren Zeitraum oder wiederholte gemeinsame Zusammenarbeit erworben werden. • Exzellenz- - Stellt die Fähigkeiten der Protagonisten dar. Diese beinhalten insbesondere Intelligenz, Erfahrung, Wissen, Netzwerk und Softskills. Wie in Abbildung 2 dargestellt, werden diese über die Kultur (wie z. B. offene Fehlerkultur oder lernende Organisation) in der Firma und auch den ausführenden Ländern im internationalen Kontext zu einer Arbeitsumgebung verbunden. Die Unternehmenskultur entscheidet auch über die mögliche Reichweite der Ausführungsrahmenbedingungen. Beispielsweise investiert das Unternehmen in den Mitarbeiter, so entsteht Exzellenz, die wiederum zu mehr Vertrauen zwischen Führungskraft und Mitarbeiter führt. Dieses Vertrauen wiederum wirkt sich auf die Rahmenbedingungen aus. Die Interaktion der Ausführungsrahmenbedingungen beschreibt das Zusammenspiel zwischen Maschine, Material und Methode, bezogen auf die Fähigkeiten und Qualifikation des Menschen. Je nachdem, wie die Ausführungsrahmenbedingungen im betrieblichen Alltag umgesetzt werden, kann das RVE-Konzept (Rahmenbedingungen, Vertrauen, Exzellenz) als wünschenswerte Grundvoraussetzung zur Beherrschung von Komplexität innerhalb der Projekte verstanden werden. 2. Komplexität innerhalb des Projektes 2.1 Theoretische Betrachtung von Komplexität Abschnitt 1 zeigt klar, dass das Dieselgeneratorenprojekt (DGP) ein komplexes Projekt war. Betrachtet man die Abwicklung genauer, so lässt sich herausarbeiten, dass die Projektsituationen durch sich gegenseitig beeinflussende projektbezogene, strukturelle und personenbezogene Aspekte getrieben wurden. Diese Erkenntnis erlaubt nun den in Hümmer [2] neu entwickelten Ansatz zur Komplexität und deren Beherrschung zu übertragen. Denn Gesamtkomplexität besteht aus struktureller und subjektiver Komplexität, die verbunden sind und rückkoppeln. Dabei stellt strukturelle Komplexität die Anforderungen an die zur Ausführung erforderliche Kapazität (von Mensch, Maschine, Material und Methoden). Strukturelle Komplexität bildet den strukturellen Aufbau (Tiefe und Breite) sowie die Veränderlichkeit eines Projektes und der Umgebung über die Zeit ab. Sogenannte Komplexitätstreiber steigern die Anforderungen an die Projektausführung. Strukturelle Komplexität triggert dann über die Anforderungen subjektive Komplexität. Diese entsteht immer dann, wenn die Anforderungen der zur Verfügung stehenden Kapazitäten (Mensch, Maschine, Methode und Material (4M) in Anlehnung (ohne Mitwelt) an [3]) überschritten werden: Überforderung und Dysfunktionen sowie Änderungen an bzw. Auswirkung auf Struktur entsteht, d. h. eine Rückkopplung auf die strukturelle Komplexität. Für die Wirkweise von Komplexität auf Aufgabenerledigung muss zwischen Aufgaben- und Ausführungsebene differenziert werden. Auf der Aufgabenebene werden durch eine Adaption der Ausführungsrandbedingungen in der Ausführungsebene die an die 4M angeforderten Kapazitäten verändert. Das Resultat dieser Veränderung in der Aufgabenebene ist eine Veränderung der Kapazität oder der Anforderungen. Um mit diesen sich gegenseitig beeinflussenden Arten von Komplexität (strukturelle und subjektive) in der Organisation und der Projektabwicklung umzugehen, müssen diese bei den Strategien zum Management und Umgang mit Komplexität berücksichtigt werden. 2.2 Strategien zum Umgang mit Komplexität Über das Komplexitätsverständnis (Abschnitt 2.1) lassen sich nun zwei grundlegende, koexistente Strategien zum Umgang und Management von Komplexität in Projekten ableiten: • Reduktion der Kapazitätsanforderungen- - aktives Beeinflussen des Projektes und dessen Struktur über eine Veränderung der Randbedingungen. Es bedarf der Möglichkeit einer Einflussnahme durch aktives Hinterfragen der Ausführungsrandbedingungen, dies zu tun. Darunter fallen z. B. vordefinierte Anforderungen zu diskutieren, klarer Liefer- und Leistungsumfang, wenige Schnittstellen etc. • Kapazitätserhöhung-- aktives Reagieren auf eine komplexe Situation und Anpassen der eigenen Kapazitäten. Dies kann z. B. über optimale Mitarbeiterauswahl (Best for the job), Qualifizierung und Weiterentwicklung von Mitarbeitern erfolgen, sodass eine Kapazitätserhöhung durch Aufwandsreduzierung aus der Situation heraus erreicht werden kann. Diese Strategien umfassen eine Kombination der Elemente aus Anforderungsreduktion und Kapazitätserhöhung. Wichtig im Umgang mit Komplexität ist, dass nur eine ausgewogene Kombination beider Strategien zielführend sein kann. Denn die während der Projektabwicklung aufgetretenen Störungen unterscheiden sich situativ und daher sind die Herangehensweisen entsprechend passend auszuwählen und anzuwenden. Abbildung 3: Vertrauen, Rahmenbedingungen und Exzellenz im Zusammenhang mit PMM. Quelle: Eigene Darstellung Wissen | Hybrides Projektmanagement und Selbstorganisation 41 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0049 Erweitert man den Blickwinkel auf existierende PMM und deren Wirkung auf die Komplexitätsbeeinflussung, so zeigt sich, dass sich diese hinsichtlich Reduktion der Kapazitätsanforderungen und Kapazitätserhöhung differenzieren lassen. Klassische PMM wirken dabei nicht reduzierend auf die Komplexität in der Projektstruktur ein und erhöhen sogar bei Festhalten an den sequenziellen Abläufen die Kapazitätsanforderungen und schränken die Kapazitäten und damit die Flexibilität im Handeln der Beteiligten ein. Hybride oder agile PMM hingegen erlauben inhärent eine Reduktion der Kapazitätsanforderungen sowie eine Kapazitätserhöhung. Es lässt sich dadurch folgern, dass sich diese PMM besser zum Komplexitätsmanagement eignen können. Die situative Umsetzung der Strategien wird nun am Beispiel des Dieselgeneratorenprojektes genauer diskutiert. 3. RVE-- Grundlage der Transformation zu hybridem Projektmanagement und Selbstorganisation Die Projektabwicklung der Dieselgeneratoren unter VUKA- Randbedingungen zeigt klar, dass ein Wechsel von einer starren, prozessorientierten Abwicklung zu hybridem Projektmanagement und Selbstorganisation vorteilhaft für eine Komplexitätsbeherrschung ist. Darüber hinaus zeigt dieses Beispiel, dass solche Veränderungen auch in Unternehmen des deutschen Großanlagenbaus gelingen können, wie im Projekt der Framatome zu sehen. Um allerdings diese Transformation (Einführung von hybridem Projektmanagement und Selbstorganisation) zu ermöglichen, sind, wie in Abschnitt 1.3 hervorgehoben, drei miteinander in Verbindung stehende Elemente (Vertrauen, Rahmenbedingungen und Exzellenz) von besonderer Relevanz. Denn deren Gewichtung ändert sich abhängig von der PMM (siehe Abbildung 3). Wie in Abbildung 3 skizziert, stehen bei einer klassischen Projektabwicklung Rahmenbedingungen und Exzellenz im Vordergrund. Dies ändert sich beim hybriden Projektmanagement und Selbstorganisation. Hier stehen die Bereiche Vertrauen und Exzellenz im Fokus, welche eine flexible Projektabwicklung über Reduktion der Kapazitätsanforderungen sowie eine Kapazitätserhöhung ermöglichen. Möchte man nun einen Schritt weiter zu einem erfolgreichen Anpassen hin zu agilen Organisationsstrukturen in Unternehmen des deutschen Großanlagenbaus, so ist eine Transformation hin zur Selbstorganisation und zu hybriden Projektmanagementmethoden sowie eine flexiblere Arbeitsabwicklung möglich. Eine Veränderung zur flexiblen Arbeitsabwicklung und agilen Organisationsstrukturen muss über einen Changeprozess erfolgen. Die Kernaspekte einer entsprechenden Transformation sind in Abbildung 4 dargestellt. Wie die Abbildungen 2 und 4 darstellen, erfordert eine Veränderung offensichtlicherweise eine positive Unternehmenskultur, die sich über eine im Unternehmen gelebte Fehlerkultur und offene, transparente Kommunikation sowie auch über die individuellen Fähigkeiten (Exzellenz und Softskills) der Beteiligten ausprägt. Diese sind für eine Eigenkontrolle und -steuerung innerhalb des Teams eine Grundvoraussetzung. Für eine praktische Implementierung lassen sich dabei aus dem Dieselgeneratorenprojekt nachfolgende Hinweise für jedes Element des optimalen Arbeitsumfelds geben: • Teamorientierung Das Team muss sich bewusst sein, dass nur gemeinsam (sogar über Firmengrenzen hinweg) das Ergebnis erreicht werden kann, und eine Einzelleistung zwar gewürdigt, die Teamleistung jedoch in einem höheren Maße anerkannt wird. Dieser Erkenntnis zufolge werden Einzelvereinbarungen zwischen Führungskraft und Mitarbeiter abnehmen und im Wesentlichen durch die Projekt- und Teamvorgaben ersetzt. • Rahmenbedingungen Global definierte und fixierte Zielvorgaben durch das funktionale Management oder die Projektleitung sind erforderlich. Sie bilden einen groben Rahmen, der aber lokal und situativ durch die Protagonisten im Team angepasst werden kann. Dies erfordert einen hohen Exzellenzgrad und viel Vertrauen innerhalb des Teams und auch vom Management, d. h., wie am Beispiel des Dieselgeneratorprojektes gesehen, dass der Einfluss von Hierarchie bei Bedarf erfolgt und Management primär unterstützend wirkt. Schlussfolgernd verstehen sich Führungskräfte in diesem Zusammenhang als unterstützende und beratende Funktion, um dem Team die bestmöglichen Voraussetzungen zur Erreichung des Ziels zu gewähren. • Exzellenzgrad Die Kompetenzen und Fähigkeiten aller Mitarbeiter müssen aufgebaut und weiterentwickelt werden. Dies umfasst insbesondere die individuellen Fähigkeiten im Bereich Selbstorganisation, Empathie und Softskills. Maßnahmen die hier gezielt genutzt werden können, fallen unter Ressourcenentwicklung und -planung. Dabei sind insbesondere Trainings „on the job“ zum kritischen Hinterfragen und Reflektion von Arbeitssituationen als Lernerfahrung und Wissensbildung hervorzuheben. • Vertrauen Abbildung 4: Transformationsprozess mittels des neuen RVE-Konzeptes. Quelle: Eigene Darstellung Wissen | Hybrides Projektmanagement und Selbstorganisation 42 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0049 Entsteht aus der Unternehmenskultur über gelebte Fehlerkultur und offene, transparente Kommunikation. 4. Zusammenfassung und Fazit Der deutsche Großanlagenbau kämpft in einem preisgetriebenen Käufermarkt mit VUKA-Anforderungen. Um in dieser Situation zu überleben ist eine Anpassung der Unternehmen und der Projektabwicklungsform erforderlich, da die existierenden, starren Unternehmensstrukturen und die angewandten, klassischen Projektmanagementansätze eine Berücksichtigung der Anforderungen durch die Ausführungsrandbedingungen nicht in ausreichender Form zulassen. Die entstandene Komplexität wird dadurch nicht beherrscht. Dennoch kann die erforderliche Flexibilität in bestehenden großen Unternehmen wie der Framatome des deutschen Großanlagenbaus erreicht werden. Wie die retrospektive Betrachtung eines Dieselgeneratorenprojektes eindrucksvoll aufzeigt. Voraussetzung dafür ist eine Unternehmenstransformation weg von starren, prozessorientierten Abläufen hin zu flexibleren und anpassungsfähigeren Organisationen und Projekten. Dies kann über hybride Methoden und Selbstorganisation erreicht werden, durch die der Projektbedarfsgrad an die Agilität angepasst werden kann. Hier erfolgt eine Anpassung an die Situation über Strategien zur Komplexitätsbeherrschung, d. h. Reduktion der Kapazitätsanforderungen und Kapazitätserhöhung, wodurch die vorherrschende Komplexität verringert wird. Dies führt in der Umsetzung der Komplexitätsbeherrschung zur Anpassung der Ausführungsanforderungen. Dies berücksichtigen klassische Projektmanagement- und Abwicklungsmethoden nicht adäquat und erreichen dadurch das Gegenteil: Komplexität wird in der Regel noch gesteigert. Für die Umsetzung im Unternehmen ist eine Veränderung der Unternehmenskultur essenziell und der Schlüssel zur erfolgreichen Einführung und Anwendung von Selbstorganisation und hybrider Methoden. Diese baut auf dem RVE-Konzept, den miteinander in Verbindung stehenden Elementen auf: Rahmenbedingungen, Vertrauen und Exzellenz (RVE). Dabei sind eine gelebte Fehlerkultur und offene, transparente Kommunikation eine Grundvoraussetzung, die den Menschen als zentrale Funktion und als verbindendes Glied berücksichtigt. Dessen Know-how, technisches Basiswissen, Erfahrung, Exzellenz, Soft Skills (Kommunikation, partnerschaftliches Verhältnis, Fehlerkultur, etc.) und Authentizität müssen ausreichend ausgeprägt sein und gefördert werden. Zusätzlich sind die Randbedingungen zu betrachten, unter denen die Arbeiten ausgeführt werden. In einer von Selbstorganisation und hybrider Methoden geprägten Umgebung sind diese weniger stark ausgeprägt und lassen eine Anpassung zu. In einem gut balancierten Verhältnis von RVE kann ein maximales Projekt- oder Betriebsergebnis aufgrund Komplexitätsreduktion und Kapazitätserhöhung und damit in Verbindung stehende Flexibilität und maximale Anpassungsfähigkeit erreicht werden. 5. Referenzen [1] Mintzberg, Henry. Structure in 5's: A Synthesis of the Research on Organization Design. Management science 26.3 (1980): 324 ff. [2] Hümmer Matthias. Komplexität und deren Beherrschung in internationalen Groß- und Megaprojekten des deutschen Großanlagenbaus. Dissertation. (2020). [3] Steven, Marion. Handbuch Produktion: Theorie-- Management-- Logistik-- Controlling. Kohlhammer GmbH (2007): 176 f. Eingangsabbildung: © iStock.com / marchmeena29 Dr. Talay, Markus Dr. Markus Talay ist als Order Manager bei der Framatome GmbH im Kraftwerksbau tätig. Seine vertieften Kenntnisse im Komplexitätsmanagement ermöglichen es ihm, als Task- Force Manager in kritischen Teilprojekten zu fungieren. Darüber hinaus unterstützt er die Organisationseinheiten in der Weiterentwicklung des Projekt- und Prozessmanagements. eMail: markus.talay@framatome.com Paul-Gossen-Straße 100, 91 052 Erlangen Prof. Dr.-Ing. Hümmer, Matthias Matthias Hümmer hat als Projektleiter in internationalen Projekten des Groß- und Megaanlagenbaus Komplexität und deren Beherrschung erlebt sowie aufgrund des geweckten Interesses über Forschungen weiter vertieft. Aktuell arbeitet er als Professor an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Mannheim im Studiengang Integrated Engineering. eMail: matthias.huemmer@dhbw-mannheim.de Duale Hochschule Baden-Württemberg Mannheim, Handelsstraße 13, 69 214 Eppelheim