eJournals PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL 32/4

PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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2941-0886
UVK Verlag Tübingen
10.24053/PM-2021-0064
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2021
324 GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.

Weshalb „Young Caritas“ auf agile Projekte setzt

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2021
Oliver Steeger
Mit dem Trend zu Klimaschutz kommt auch der Ruf nach sozialer Nachhaltigkeit. Was bedeutet unser Handeln nicht nur für Klima und Ressourcenverbrauch – sondern auch für die globale Gesellschaft? Sabine Depew, Landesleitung der Caritas Schleswig-Holstein, hat soziale Nachhaltigkeit seit Jahren im Blick. Für sie geht es darum, dies gesellschaftliche Klima und Wohlbefinden zu verbessern. Dass soziale Nachhaltigkeit gerade jetzt ins Bewusstsein rückt – dies verwundert sie wenig. Die Gesellschaft rücke wieder zusammen, sagt sie. Es gibt ein neues Miteinander und Füreinander. Vor allem junge Menschen haben feine Antennen dafür, wie sich ihr Handeln gesellschaftlich auswirkt. Sabine Depew erklärt im Interview, wie Nachhaltigkeit die soziale Arbeit prägt, weshalb agile Arbeitsweisen und Digitalität für soziale Projekte wichtig sind – und wie man Menschen heute für soziales Engagement gewinnt.
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16 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 04/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0064 Soziale Nachhaltigkeit und Digitalität bei der Caritas Schleswig-Holstein Weshalb „Young Caritas“ auf agile Projekte setzt Oliver Steeger Mit dem Trend zu Klimaschutz kommt auch der Ruf nach sozialer Nachhaltigkeit. Was bedeutet unser Handeln nicht nur für Klima und Ressourcenverbrauch-- sondern auch für die globale Gesellschaft? Sabine Depew, Landesleitung der Caritas Schleswig-Holstein, hat soziale Nachhaltigkeit seit Jahren im Blick. Für sie geht es darum, dies gesellschaftliche Klima und Wohlbefinden zu verbessern. Dass soziale Nachhaltigkeit gerade jetzt ins Bewusstsein rückt-- dies verwundert sie wenig. Die Gesellschaft rücke wieder zusammen, sagt sie. Es gibt ein neues Miteinander und Füreinander. Vor allem junge Menschen haben feine Antennen dafür, wie sich ihr Handeln gesellschaftlich auswirkt. Sabine Depew erklärt im Interview, wie Nachhaltigkeit die soziale Arbeit prägt, weshalb agile Arbeitsweisen und Digitalität für soziale Projekte wichtig sind-- und wie man Menschen heute für soziales Engagement gewinnt. Der Begriff soziale Nachhaltigkeit setzt sich mehr und mehr durch-- auch in Folge der Diskussion über ökologische Nachhaltigkeit. Dennoch ist der Begriff immer noch unscharf. Was darunter zu verstehen ist, da gehen die Meinungen auseinander. Die Caritas arbeitet seit Jahrzehnten an der Verbesserung der sozialen Lage in Deutschland. Was versteht man bei der Caritas unter sozialer Nachhaltigkeit? Sabine Depew: Die soziale Arbeit wurde in den letzten beiden Jahrzehnten wegen immer knapperer Mittel ökonomisiert. Es gab vorher Zeiten, in denen es unbegrenzte Mittel für soziale Arbeit gab. Niemand fragte genau, wofür das Geld ausgegeben wurde und zu welchen Ergebnissen es führte. Das hat sich mit der Ökonomisierung der sozialen Arbeit verändert. Wir schauen stark auf die Wirkung- - und zwar nicht nur auf kurzfristige Ergebnisse, sondern auch auf die Wirkung auf lange Sicht. Zum Beispiel? Etwa die Migrationsberatung. Da besteht das Ziel, Menschen in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Und zwar mit dem Ziel, dass sie teilhaben können, berufstätig sind, die deutsche Sprache beherrschen und mit Sozialbehörden zurechtkommen. Ein anderes Beispiel: Die Präventionsarbeit in Kliniken. Es geht darum, Gesundheit so zu fördern und zu stärken, dass es nach der Kur erst gar nicht zu Krankheit und Burnout kommt. Ein letztes Beispiel: Die Schuldnerberatung. Mittelfristig geht es natürlich darum, Menschen zu entschulden. Doch sozial nachhaltig wird diese Beratung, wenn wir die Menschen befähigen, mit ihren Finanzen richtig umzugehen und angemessen zu wirtschaften. Es handelt sich also um den langfristigen Blick? Ja. Sie sprachen vorhin von einer Verbindung zur ökologischen Nachhaltigkeit. Soziale Nachhaltigkeit ist ähnlich. Es geht darum, langfristige gesellschaftlichen Schäden zu vermeiden. Es geht bei sozialer Nachhaltigkeit um das gesellschaftliche Klima und um das gesellschaftliche Wohlbefinden. Demnach hat die Ökonomisierung dazu geführt, dass soziale Arbeit nachhaltiger wird? Nein, häufig leider im Gegenteil. Viele politische Reformen führen zu neuen Schieflagen-- also zu nicht nachhaltigen Ergebnissen. Beispielsweise hat die Politik in der Vergangenheit Instrumente für die Integration in den Arbeitsmarkt sehr stark ökonomisiert. Sie spielen an auf die Arbeitsmarktreformen unter dem Schlagwort Hartz an? Reportage | Weshalb „Young Caritas“ auf agile Projekte setzt 17 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 04/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0064 Ja. Die Einsparungen dort haben nach meinen Beobachtungen zu einer Explosion der Kosten in der Jugendhilfe geführt. Viele Familien sind in Armut geraten. Dies wirkt sich direkt auf die Kinder aus. Da wurde genau das Gegenteil von dem erreicht, was gewünscht war. Man kann nicht nur mit der ökonomischen Brille auf die Systeme schauen. Das bringt uns als Gesellschaft nicht weiter. Wir müssen aufpassen bei Einsparungsrunden etwa in Krankenhäusern und anderen sozialen Systemen. Hätten wir während der Corona-Pandemie diese stabilisierenden Systeme nicht gehabt- - wir wären in große Schwierigkeiten gekommen. Das hat man in Deutschland auch schnell verstanden. Plötzlich sprach man von systemrelevanten Berufen. Medizinisches Personal oder Lehrer haben neue Wertschätzung erfahren. Nochmals zur ökonomischen Perspektive. Soziale Nachhaltigkeit ist also mehr als ein gesellschaftlicher Wohlfühlfaktor. Sie hilft-- ähnlich wie der Klimaschutz heute-- Kosten in der Zukunft zu vermeiden? Die Parallele zum Klimaschutz passt aus meiner Sicht. Ich betrachte die Gesellschaft als Ökosystem. Und wie bei ökologischer Nachhaltigkeit kann man sich bei sozialer Nachhaltigkeit fragen: In welcher Welt wollen wir zukünftig leben? Welche Welt wollen wir den nachfolgenden Generationen übergeben? Zu diesen Fragen kommt derzeit Bewegung in unsere Gesellschaft. Ökologische Nachhaltigkeit ist mittlerweile breit akzeptiert. Sehen Sie einen ähnlichen Paradigmenwechsel auch bei der sozialen Nachhaltigkeit? Ich hoffe, dass es jetzt zu diesem Paradigmenwechsel kommt. Im Zuge der ökologischen Transformation hoffe ich, dass wir die Gesellschaft auch sozial nachhaltiger gestalten können. Ich denke, es gibt heute generell ein starkes Bedürfnis nach mehr gesellschaftlichem Zusammenhalt. Das zeigt sich ja gerade auch in der Zunahme bürgerschaftlichen Engagements oder an modernen Konzepten für urbane Stadtgestaltung mit mehr Raum für soziale Begegnungen und Miteinander. Ich hoffe, dass wir bei der ökologischen Transformation Rahmenbedingungen entwickeln, in denen die Gesellschaft auch sozial gut existieren kann. Solch eine sozial-ökologische Nachhaltigkeit stände übrigens auch volkswirtschaftlichen Überlegungen nicht im Wege. Inwiefern nicht im Wege? Ein Beispiel: Wir leiden wirtschaftlich unter einem immensen Fachkräftemangel. Ein Teil meiner Arbeit besteht aktuell darin, geeignete Fachkräfte für unsere Einrichtungen zu suchen und einzustellen. Aufgrund der demographischen Entwicklung wird der Mangel in absehbarer Zeit kaum gelindert. Es fehlt an jungen Menschen. Schlimmer noch: Unter den wenigen jungen Menschen sind viele schlecht ausgebildet. Das habe ich bei meiner sozialen Arbeit im Ruhrgebiet, in Essen, immer wieder festgestellt. Die Bildungsunterschiede zwischen den Stadtteilen sind enorm. Wir müssen also viel mehr in Bildung investieren. Das wäre nicht nur sozial nachhaltig, sondern auch volkswirtschaftlich dringend geboten. Wie kommt es, dass soziale Nachhaltigkeit in den letzten Jahren deutlich mehr diskutiert wird? Wo liegen die Ursachen für diesen Trend? Das ist eine interessante Frage. Das Thema Umwelt ist ja spätestens seit Gründung der grünen Parteien in die öffentliche Wahrnehmung gerückt. Ich denke, dass soziale und ökologische Nachhaltigkeit eine gemeinsame Wurzel haben- - nämlich die Globalisierung. Und vielleicht die Digitalisierung. Die Digitalisierung? Wir stellen fest, dass Internetaktivisten eine zunehmend starke Rolle spielen. Es gibt etwa Menschenrechtsaktivisten für Menschen mit Behinderung oder für Geflüchtete. Sie machen im Internet auf Missstände aufmerksam und haben Einfluss auf ein recht großes Publikum. Zudem finden sich in sozialen Medien unzählige Gruppen, die soziale Anliegen diskutieren. Dies macht dies Thema präsenter. Und: Viele Menschen organisieren sich auch über das Internet für soziale Projekte, gründen Bürgerbewegungen oder Nachbarschaftshilfe. Traditionelle Parteien und etablierte Organisationen sind längst nicht mehr die einzigen, die Kampagnen durchführen. Früher hat man sich traditionell in diesen Organisationen für soziale Arbeit zusammengetan. Sportvereine und Kirchen waren übliche Anlaufstellen, auch Wohlfahrtsverbände wie die Caritas oder Pfadfinderorganisationen-… Diese Organisationen spielen nach wie vor eine Rolle. Sie sind aber nicht mehr so stark und dominant. Wir beobachten, dass sich besonders junge Menschen vermehrt sozial engagieren wollen. Doch sie konzentrieren sich auf Themen, an denen sie arbeiten wollen-- und nicht auf Organisationen, in denen sie Mitglied sein wollen. Ein Beispiel? Nehmen Sie beispielsweise die Zuwanderung von 2015. Tausende Menschen haben sich über digitale Plattformen organisiert und dann gemeinsam bei der Bewältigung der Migration geholfen. Vielen war es gleich, ob sie unter dem Dach einer Organisation arbeiten. Was könnte das Interesse erklären, das viele junge Menschen an sozialer Nachhaltigkeit zeigen? Ist die junge Generation empathischer als vielleicht die ältere Generation? Das wäre schön. Aber-- Empathie ist eine persönliche Eigenschaft, eine Kompetenz. Nicht jedem wurde sie in die Wiege gelegt. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich die derzeitige Diskussion über soziale Nachhaltigkeit einer neuen Empathie zuschreiben würde. Die junge Generation hat heute ein anderes Bewusstsein- - auch, weil sie in Teilen sehr gut ausgebildet ist. Hinzu kommt, dass aufgrund der demographischen Situation die Kohorte der Älteren die Hauptakteure in unserer Gesellschaft sind. Die 50bis 80-Jährigen bestimmen heute politisch, häufig recht kurzsichtig. Deshalb fordern Jüngere mehr Verantwortung für ihre Zukunft. Ich persönlich finde die jungen Bewegungen wie Fridays for Future richtig und notwendig! Nicht nur diese neuen Initiativen und Gruppen leben von ehrenamtlich engagierten Menschen, sondern auch Organisationen wie die Caritas. Sie sagten, dass es wieder mehr Freiwillige gibt-- sich aber die Herangehensweise der Ehrenamtlichen verändert hat. Dass gerade Jüngere sich Themen anschließen Reportage | Weshalb „Young Caritas“ auf agile Projekte setzt 18 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 04/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0064 statt Organisationen. Was bedeutet das für die Caritas und ihre sozialen Projekte? Wir haben bereits 2013 auf diese Entwicklung reagiert und die Initiative „Young Caritas” gegründet. Wir arbeiten mit selbstständig agierenden Freiwilligen-Teams. Wir setzen stark auf Digitalität, und wir verwenden agile Vorgehensweisen. Augenblick! Sie verwenden agile Methoden für soziale Projekte? Richtig. Junge Menschen organisieren sich in ihren Projekten selbst. Sie arbeiten selbstbestimmt zu ihren Themen. Ihre Projekte führen sie unter dem Dach der Caritas durch. Durch die Initiative „Young Caritas“ haben wir bereits viele Menschen für soziales und ökologisches Engagement neu gewonnen. Die Angebote und die autarke Arbeitsweise sprechen junge Menschen gut an. Ein Beispiel: Bis 2030 will der Caritas Verband klimaneutral werden. Dieses Vorhaben wird vielfach durch Freiwillige vorangetrieben, besonders durch Initiativen und Projekten mit jungen Menschen in „Young Caritas“. Zu diesen Initiativen gehören etwa Social-Media-Projekte, die ein entsprechendes Bewusstsein entwickeln. In welcher Rolle sieht sich die Caritas bei diesen agilen Projekten? Wir unterstützen die Projekte. Wir sagen aber nicht, was zu tun ist. Wir mischen uns kaum ein. Verantwortung und Leitung sind dezentral. Wir haben einige hauptberuflichen Multiplikatoren, die die Idee von „Young Caritas“ etwa in Schulen tragen. Den Multiplikatoren gebe ich freie Hand. Natürlich gibt es Besprechungen zwischen den Multiplikatoren und mir, etwa zu Strategie oder Investitionen. Aber am Ende tun sie das, was sie für richtig halten. Und ähnlich frei sind auch die Projekte und Gruppen unter dem Dach von „Young Caritas“. Von uns bekommen die Teams keine Vorgaben zu Zielen und Methodik. Auf einer zentralen Website können sich die Freiwilligen andere Projekte ansehen, zur Vorgehensweise Material bestellen und sich weiterbilden lassen. Natürlich müssen die Themen zur Caritas passen und mit sozialer Arbeit in Verbindung stehen. Auch helfen und unterstützen wir, falls gewünscht-- aber dann in der Rolle eines Coachs. Ist „Young Caritas“ überall in Deutschland so agil aufgestellt? „Young Caritas“ hat diesen Anspruch. Ob dies wirklich überall im Detail gelingt-- dafür will ich nicht meine Hand ins Feuer legen. Läuft solch ein agiler Führungsstil bei der Caritas nicht quer zu den traditionellen Strukturen? Vermutlich. Ich habe öfters schon mit neuen Führungsinstrumenten experimentiert, etwa beim Dachverband der Caritas in Essen. Dort haben wir ein Innovationslabor eingerichtet, einen Denkraum oder Experimentierraum. Wir haben gemeinsam neue Ideen entwickelt. Doch solch ein Innovationslabor ist gewöhnungsbedürftig. Es irritiert Strukturen und fordert Haltungsänderungen und neues Denken. Weshalb ist Schleswig-Holstein in diesem Punkt anders? Wie gesagt, wir sind im Norden Deutschlands dezentral und sehr praxisnah ausgerichtet. Schleswig-Holstein ist ein Flächenland. Die Caritas ist recht klein hier, wir haben rund 500 hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das ist der Grund, weshalb wir mit unseren Produkten hybrid in die Fläche gehen. Hybrid in die Fläche gehen- - was darf ich mir darunter vorstellen? Wir kombinieren klassische soziale Arbeit mit Digitalität. Ein Beispiel: Wir werden eine hybride Schuldnerberatung mit einem Beratungsbus einrichten. Dieses Projekt wird durch Spenden aus der Benefizaktion „Hand in Hand für Norddeutschland“ finanziert, die Ende 2020 stattfand. Unser Bus wird zu verschiedenen Standorten unterwegs sein. Unsere Berater führen vor Ort erste persönliche Beratungsgespräche. Danach halten sie digital Kontakt zu den Menschen und betreuen sie etwa durch Chats oder Online-Beratung. Menschen, die durch die Corona-Pandemie in Not geraten sind, brauchen schnell Hilfe. Hilft Ihnen agiles Projektmanagement, zügig Projekte durchzuführen und flexibel dem Bedarf anzupassen? Wir hatten nach der Benefizaktion tatsächlich nur ein kleines Zeitfenster, in dem wir handeln müssen. Zum einen wurde Hilfe gebraucht. Zum anderen wollen die Spender wissen, wofür wir das Geld verwenden und welche Corona-Hilfen wir entwickeln. Nur wenige unserer Projekte sind am Schreibtisch entstanden. Das allermeiste haben wir direkt mit den Akteuren vor Ort agil entwickelt. Wir haben geschaut, was in den Einrichtungen tatsächlich akut gebraucht wird. Unser Denkraum hat uns dabei sehr geholfen. Ein Denkraum- - was darf ich darunter genau vorstellen? Das ist ein Raum, in dem wir neue Ideen entwickeln und Bestehendes weiterentwickeln. Er ist buchstäblich zum gemeinsamen Denken eingerichtet. Dort haben wir unter anderem auch die Idee der mobilen Schuldnerberatung entwickelt- - und auch viele der Ideen für die Corona-Hilfe. Sie hatten also schon Ansätze für die Projekte, für die Sie die Spenden der Benefizaktion verwenden wollten? Ja. Aber wir mussten die Ansätze schnell anpassen. Während der Pandemie haben sich die Rahmenbedingungen immer wieder geändert. Trotzdem haben wir in kurzer Zeit 36 Projekte zusammengebracht. Wir waren das erfolgreichste Bundesland von sechs beteiligten Ländern. Die Dynamik der agilen Arbeitsweise und unsere agile Netzwerkstruktur hat gewiss dazu beigetragen. Lassen Sie mich bitte ein Stichwort aufgreifen-- die Digitalität, die Sie schon mehrmals erwähnt haben. Digitalität wird hinsichtlich ihrer sozialen Auswirkungen kontrovers diskutiert. Digitalität, so hört man viele, sei nicht immer sozial nachhaltig: Verlust von Arbeitsplätzen, Vereinsamung und Entfremdung-… Ich bin mir nicht sicher, ob die Digitalisierung sich wirklich so negativ auf den Arbeitsmarkt auswirkt, wie dies manchmal behauptet wird. Es werden Arbeitsplätze verlorengehen, aber auch neue entstehen. Trotzdem, es gibt kritische Aspekte der Digitalität. Dennoch stehen wir bei der Caritas der Digitalisie- Reportage | Weshalb „Young Caritas“ auf agile Projekte setzt 19 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 04/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0064 rung offen gegenüber. Natürlich folgen viele Mitarbeiter*innen der sozialen Arbeit dem Ethos, dass sie sich Menschen direkt zuwenden-- und nicht mit Computern oder Robotern. Nur die persönliche Begegnung sei „richtig“ in der sozialen Arbeit-… Ich sehe dies differenziert. Natürlich wird man etwa Menschen mit psychischen Problemen weiterhin das persönliche Gespräch anbieten, bei dem Vertrauen entstehen kann. Doch wir haben während der Pandemie gelernt, dass Videokonferenzen viel effizienter sein können als persönliche Meetings. Die Akzeptanz für digitale Angebote hat sich auch in sozialen Verbänden verbreitet-- und das nicht nur seit der Pandemie. Wir sagen: „Sozial braucht digital, aber digital braucht auch sozial.“ Damit sind wir wieder bei sozialer Nachhaltigkeit. Fangen wir mit dem ersten Teil an. Sozial braucht digital. Wie kann man Digitalität für sozial nachhaltige Projekte nutzen? Vielfach werden digitale Hilfsmittel heute schon eingesetzt. In der Altenhilfe verwenden wir eine Plüschrobbe, die mit demenzkranken Menschen „spricht“. Man muss natürlich immer die ethische Seite solcher Lösungen prüfen. Inwieweit will man wirklich etwa elektronische Fußmatten einsetzen, die dafür sorgen, dass Demenzkranke die Wohnung nicht verlassen? Aber grundsätzlich gesehen können solche digitalen Innovationen eine Hilfe sein, wenn sie klug und verantwortungsvoll eingesetzt werden? Mit Sicherheit! Wir haben beispielsweise festgestellt, dass wir bestimmte Personengruppen überhaupt nur noch digital erreichen. Viele Menschen bevorzugen einen anonymen Kontakt zu uns, zumindest für die erste Begegnung. Diese Menschen holen wir in vertrauenswürdige Foren und beraten sie dort. Wie sieht es mit dem zweiten Teil dieses Satzes aus- - nämlich, dass digital auch sozial braucht. Da wären wir vermutlich bei sozialer Nachhaltigkeit. Ich denke, dass Digitalität die Menschen vernetzen kann. Wir sagen häufig, dass digitale Angebote Menschen voneinander entfremden. Ich denke, dass solche Angebote auch das Gegenteil bewirken. Sie verbinden. Über digitale Plattformen wird heute beispielsweise Nachbarschaftshilfe organisiert. Ich bin seit zehn Jahren in digitalen Netzen unterwegs. Ich habe beobachtet, wie diese Netzwerke mein Arbeitsspektrum erweitert haben. Ich halte Verbindung zu Menschen, nehme an fachlichen Diskursen teil und finde Kontakt etwa zu Bloggern oder Aktivisten. Aber: Der Umgang mit digitalen Angeboten braucht Medienkompetenz, die auch soziale und kommunikative Kompetenz umfasst. Diese Medienkompetenz kann dazu beitragen, dass Digitalität sozial nachhaltig wird. Eine Abschlussfrage: Viele Unternehmen und Organisationen wollen sozial nachhaltiger werden. Es mangelt selten an gutem Willen. Doch die Initiativen bleiben häufig stecken. Wie können sich Organisationen Ihrer Einschätzung nach am besten diesem Thema nähern? Ich denke, am Anfang steht eine Standortbestimmung. Zunächst sollten die Organisationen erkunden, was soziale Nachhaltigkeit für sie überhaupt bedeutet. Also eine klassische Begriffsbestimmung: Was verstehen sie darunter? Wofür steht die Organisation mit ihren Mitgliedern? Das hat häufig auch Bezug auf das Leitbild und die Philosophie der Organisation. Man braucht also Kriterien? Kriterien-- und zudem einen guten Überblick über die Organisation. Ich halte es für sinnvoll, die unterschiedlichen Dienste und Einrichtungen des Unternehmens zu beschreiben und zu prüfen, was soziale Nachhaltigkeit in den unterschiedlichen Arbeitsfeldern bedeutet. Manchmal liegt diese Bedeutung auf der Hand. Ein Beispiel aus der Caritas: Nachhaltigkeit für Obdachlosenhilfe oder Projekte zu Arbeitsmarktintegration sind gut zu verstehen. Es gibt jedoch auch schwierige Fragen. Wie sieht es etwa bei Krankenhäusern aus? Oder in der Pflege? Da ist die Lage vielschichtiger. Inwiefern vielschichtiger? Wir haben uns schon vor Jahren gefragt, wie wir mit Armut umgehen. Damit sind auch praktische Alltagsfragen verbunden. Bei der Pflege kann es also darum gehen, ob man vermehrt reiche Senioren in Pflegeheime aufnimmt und durch deren Beiträge die finanzielle Basis verbessert? Oder ob man bedürftigen Menschen Vorrang gibt, die die Hilfe vielleicht mehr brauchen? Solche Fragen können tatsächlich entstehen. Über sie denkt man dann länger nach. Darauf eine Antwort zu finden ist nicht immer leicht. Als vor einigen Jahren in Deutschland die Tafelbewegung aufkam, waren wir geteilter Meinung. Zum einen waren wir kritisch; wir fordern ja von der Politik, die Armut zu bekämpfen. Wir wollen, dass man gar keine Tafeln braucht. Zum anderen haben wir verstanden, dass die Tafelbewegung hervorragende Ehrenämter bietet. Es hat sich gezeigt, dass sich Menschen für Tafeln gerne einsetzen und engagieren. Die Bewegung führt mehr Menschen an die Freiwilligenarbeit im Ehrenamt heran. Da bringt die Tafelbewegung sozial Nachhaltiges. Diese Aspekte muss man gemeinsam abwägen und seine Position gemäß seiner Werte finden. Eingangsabbildung: © iStock.com/ Cecilie_Arcurs Sabine Depew Sabine Depew leitet die Caritas Schleswig-Holstein. Sie ist Bildungswissenschaftlerin und seit 1993 für die Caritas tätig, unter anderem in Köln, Essen und Kiel. Ihre Themenschwerpunkte sind Europäische Sozial- und Förderpolitik, Kinder- und Jugendhilfe, Digitalisierung und Innovation. Zudem konzentriert sie sich auf die Aufgabe, verbandliches Handeln neu zu denken.