PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
pm
2941-0878
2941-0886
UVK Verlag Tübingen
10.24053/PM-2021-0099
111
2021
325
GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.Über Wohlfühlkollegen und Visionen
111
2021
Jens Köhler
Die Kolumne „Ehrlich und Priesberg“ möchte mit unterhaltsamen Dialogen rund um das Thema „Mensch – Kommunikation, Verhalten, Entscheidungen“ Denkanstöße für den PM-Alltag geben.
pm3250078
78 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 05/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0099 Kolumne Über Wohlfühlkollegen und Visionen Die Kolumne „Ehrlich und Priesberg“ möchte mit unterhaltsamen Dialogen rund um das Thema „Mensch-- Kommunikation, Verhalten, Entscheidungen“ Denkanstöße für den PM-Alltag geben. Jens Köhler Priesberg starrt beeindruckt auf ein visionäres Papier, welches ein Informationssystem der Zukunft skizziert. Er hält es andächtig in seinen Händen und blättert es wieder und wieder durch. Schließlich springt er auf und rennt in Ehrlichs Büro, um seine Euphorie zu teilen. Ehrlich überfliegt und knallt es danach lachend auf seinen Schreibtisch. „Das erinnert mich an das Motto aus dem Fußball: ‚Nach dem Spiel ist vor dem Spiel‘. Ich würde es nur anders nennen: ‚Nach der Vision ist vor der Vision‘.“ Priesberg bereut es schon, das Büro von Ehrlich aufgesucht zu haben. „Was willst du mir damit sagen? Dass der Inhalt des Papiers wertlos ist? Dass nichts davon realisiert werden kann? Visionäre Gedanken sind wichtig für eine Firma wie die unsere! “ Er nimmt das Papier wieder an sich. Ehrlich grinst ihn wortlos an. „Was? “, entgegnet Priesberg barsch und fährt fort: „Diese Vision ersetzt die älteren und weist uns den richtigen Weg.“ Ehrlich schüttelt den Kopf und legt los: „Merkst du es nicht? Wir streiten schon, ohne überhaupt über den Inhalt gesprochen zu haben. Offenbar reicht es aus, einfach eine neue Vision zu haben, und schon fühlt man sich wohl. Merkst du, was ich meine? Ich halte diesen Zustand für gefährlich.“ Ehrlich nimmt Priesberg das Papier aus den Händen und zeigt auf den ersten Abschnitt. „Hier steht drin, dass alle bisherigen Bemühungen, ein integriertes Informationssystem für unsere Entwicklungsabteilungen zu haben, gescheitert sind. Und sogar noch schlimmer: Der Ist-Zustand, durchaus erfolgreich, wird komplett schlecht geredet. Es wird nicht darauf eingegangen, wo er bereits hilfreich ist und wo nicht.“ In Priesberg beginnt es zu rumoren und er assoziiert: „Ich hatte einen Kollegen, in dessen Gegenwart war alles so locker und easy. Er lästerte über alles und jeden, auch über mich und doch fühlte ich mich in dessen Nähe wohl.“ Ehrlich überlegt: „Das ist ein interessanter Perspektivenwechsel. Hat dein Kollege auch über inhaltliche Themen gesprochen? “ Priesberg antwortet: „Nein, daran kann ich mich nicht erinnern. Fachlich war er nicht sehr gut. Er delegierte alles und war einzig daran bestrebt, das Interesse an seiner Person hochzuhalten. So hielt er sich im Job.“ Ehrlich übernimmt: „Also hat er für die Organisation keinen Wertbeitrag geleistet. Und trotzdem blieb er im Rennen.“ Priesberg überlegt weiter: „Ich ahne langsam, worauf du hinauswillst. Wenn ich den Kollegen durch ‚Vision‘ ersetze, dann komme ich auf das gleiche Muster. Sie bleibt im Rennen, obwohl sie sich nicht materialisiert. Schon sehr geschickt.“ Ehrlich lobt ihn: „Sehr gut zusammengefasst. Jetzt bleibt die spannende Frage: Wieso funktioniert das? “ Priesberg grübelt weiter: „Naja, wenn ich mir das aktuelle Informationssystem anschaue, dann ist es zwar brauchbar, aber sicher auch verbesserungswürdig.“ Ehrlich fällt ihm ins Wort: „Wie jedes Ding, das ist nichts Besonderes. Das Papier allerdings steuert deinen Energiefluss: Es nutzt deine Zustimmung zu den schlechten Seiten des aktuellen Informationssystems, verallgemeinert sie und gibt dir den Eindruck, dass alles unbrauchbar ist. Jetzt bist du emotional leer und suchst Hilfe. Gleichzeitig stellt es dir sehr früh eine Alternative in Aussicht, so dass du deine ‚Schmerzen‘ schnell vergisst und dich sogar noch besser fühlst. Dadurch schafft sich die Vision ihren eigenen Markt.“ Priesberg ist erstaunt: „Und das geschieht ganz früh. Im Titel, Abstract oder auch in der Einleitung. Es ist wie mit meinem Kollegen: Wenn er über alles gelästert hat, dann fühlte man sich zurückgestoßen, und fast gleichzeitig malte er die Zukunft in den schönsten und süßesten Tönen.“ „Und nun die wichtigste Frage: Wie kann man das durchbrechen und sich dagegen immunisieren? “, fährt Ehrlich fort. Priesberg hat mittlerweile Spaß an dem Thema und kommt richtig in Fahrt: „Es ist wie mit einer Marktanalyse- - an erster Stelle steht das Abfragen der Bedarfe. Also wie verbesserungswürdig ist das alte System wirklich? Was fehlt? Wie realistisch ist es, dass das neue System die Organisation tatsächlich voranbringt? All das Übliche.“ Ehrlich fasst zusammen: „Das analytische Denken einschalten und trainieren hilft ungemein.“ Priesberg nimmt Ehrlich das Papier aus den Händen und knallt es jetzt auch auf den Schreibtisch. Er schließt ab: „Es gibt einen Unterschied: Das Papier kann ich in Ruhe vor- und zurück lesen, bis ich alle kritischen Punkte auf dem Tisch habe. Bei dem Kollegen braucht es Zeit, die Muster zu erkennen.“ Eingangsabbildung: © iStock.com / Comback Images Dr. Jens Köhler Dr. Jens Köhler, BASF SE, fokussiert sich auf die Digitalisierung in Forschung und Entwicklung. Sein Spezialgebiet ist die Regulation sozialer Komplexität zur Effizienz- und Effektivitätssteigerung von Projektteams. Anschrift: BASF SE, RB / IC, 67 056 Ludwigshafen, eMail: Jens.Koehler@basf.com