PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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UVK Verlag Tübingen
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GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.Komplexe internationale Herausforderungen und internationale Standards für Agiles Projektmanagement
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Norman Heydenreich
Seit zwei Jahren wird Deutschland durch die Pandemiekrise erschüttert. In vielen Bereichen wurde unter Zeitdruck improvisiert und aus dabei gemachten Fehlern oft nicht schnell genug gelernt. Gravierende Defizite im Krisenmanagement, aber auch bei der Umsetzung der Digitalen Transformation wurden sichtbar. Herausforderungen wie die Pandemie, aber auch die Klimakrise sowie die Digitale Transformation brauchen standardisierte Führungs- und Governanceprinzipien zur Förderung organisationsübergreifender und internationaler Zusammenarbeit in Projekten und Programmen. Mit der zunehmenden Komplexität und Ungewissheit steigt der Bedarf an einem internationalen Standard für agiles und adaptives Management. In einer internationalen Abstimmung aller im technischen Komitee „ISO / TC258 – Project, programme and portfolio management“ der International Standard Organisation (ISO) vertretenen nationalen Standardisierungsorganisationen wurde 2021 ein Vorschlag Deutschlands angenommen, durch eine Study Group offene Fragen zu einem möglichen ISO-Standard für Agiles Projektmanagement zu klären und Empfehlungen für das weitere Vorgehen zu erarbeiten. Die deutsche Spiegelarbeitsgruppe im DIN wird dabei durch die GPM-Fachgruppen „Normen und Standards“ sowie „Agile Management“ unterstützt.
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56 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 33. Jahrgang · 01/ 2022 DOI 10.24053/ PM-2022-0016 Die neue Study Group AHG15 des ISO / TC258 Komplexe internationale Herausforderungen und internationale Standards für Agiles Projektmanagement Norman Heydenreich Für eilige Leser | Seit zwei Jahren wird Deutschland durch die Pandemiekrise erschüttert. In vielen Bereichen wurde unter Zeitdruck improvisiert und aus dabei gemachten Fehlern oft nicht schnell genug gelernt. Gravierende Defizite im Krisenmanagement, aber auch bei der Umsetzung der Digitalen Transformation wurden sichtbar. Herausforderungen wie die Pandemie, aber auch die Klimakrise sowie die Digitale Transformation brauchen standardisierte Führungs- und Governanceprinzipien zur Förderung organisationsübergreifender und internationaler Zusammenarbeit in Projekten und Programmen. Mit der zunehmenden Komplexität und Ungewissheit steigt der Bedarf an einem internationalen Standard für agiles und adaptives Management. In einer internationalen Abstimmung aller im technischen Komitee „ISO / TC258-- Project, programme and portfolio management“ der International Standard Organisation (ISO) vertretenen nationalen Standardisierungsorganisationen wurde 2021 ein Vorschlag Deutschlands angenommen, durch eine Study Group offene Fragen zu einem möglichen ISO-Standard für Agiles Projektmanagement zu klären und Empfehlungen für das weitere Vorgehen zu erarbeiten. Die deutsche Spiegelarbeitsgruppe im DIN wird dabei durch die GPM-Fachgruppen „Normen und Standards“ sowie „Agile Management“ unterstützt. Schlagwörter | Study Group, ISO, Agile, adaptive, PM-Standards, Normung Es sind Projekte, die gesellschaftlich notwendige Veränderungen umsetzen, wie z. B. die Bewältigung der Klimakrise, die Reduzierung sozialer Ungleichheit, die Bereitstellung umweltfreundlicherer Lösungen und Leistungen, die Verbesserung von Gesundheit und Sicherheit, das Vorantreiben verbesserter Produkt- oder Servicequalität und betrieblicher Effizienz. In den letzten Jahrzehnten haben wir einen Anstieg der Investitionen vom operativen Geschäft hin zu einem stärkeren Fokus auf die Projektarbeit gesehen und damit eine Beschleunigung des Wandels und die Zunahme von Komplexität und Unsicherheit. 30-40 % des weltweiten BIP werden für Projekte aufgewendet und die Zahl wächst [1], Bild 1. In der VUCA-Welt (Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity) können traditionelle Organisationsstrukturen und (Projekt-) Managementansätze auf das große Maß an Komplexität und Unsicherheit nicht angemessen reagieren. Die Erfolgsquote der zunehmend komplexen öffentlichen Projekte und Programme ist trotz erheblicher Fortschritte bei der Weiterentwicklung der Kompetenzen und Managementsysteme viel zu gering [2]. Bei agilen / adaptiven Managementansätzen ist sie allerdings signifikant höher als bei traditionellen plangetriebenen Ansätzen [3]. Die neue Study Group „Agile / adaptive“ des ISO / TC258 Der ISO-Standard ISO 21 502: 2020, „Projekt-, Programm- und Portfoliomanagement- - Leitlinien für das Projektmanagement“ enthält Konzepte, die für agile und adaptive Ansätze durch verallgemeinerte Prozess- und Lebenszyklusmodelle Raum schaffen. Er ist auf jede Organisation und Projektart anwendbar, unabhängig von Zweck, Durchführungsansätzen, verwendetem Lebenszyklusmodell, Komplexität, Größe, Wissen | Internationale Herausforderungen und Standards für Agiles Projektmanagement 57 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 33. Jahrgang · 01/ 2022 DOI 10.24053/ PM-2022-0016 Kosten oder Dauer und „prädiktive, inkrementelle, iterative, adaptive oder hybride, einschließlich agiler Ansätze"[4]. Durch Umfrage unter den Mitgliedsländern des ISO-Komitee für Projektmanagement-Normen TC258 wurde 2020 Agiles Projektmanagement als wichtigstes Thema ermittelt. In einer internationalen Abstimmung aller im TC258 vertretenen nationalen Standardisierungs-Organisationen wurde 2021 ein Vorschlag Deutschlands angenommen, offene Fragen durch eine Study Group zu klären und einen Vorschlag für das weitere Vorgehen zu erarbeiten. Ein Vertreter der deutschen Standardisierungsorganisation DIN hat dabei, gemeinsam mit einem Vertreter der US-amerikanischen Liaison Organisation PMI die Projektleitung übernommen. Aufgaben der Study Group AHG15 sind die Analyse der Unterschiede zwischen „agilen “ und „adaptiven “ sowie anderen verwandten Konzepten und Praktiken; eine Untersuchung der globalen Marktbedürfnisse und des potenziellen Nutzens eines ISO-Standards; die Entwicklung einer breiteren Basis für Modelle, Methoden und Perspektiven für die beste Struktur und Form eines ISO- Dokuments; sowie die Erstellung eines White Papers, in dem der Kundennutzen des vorgeschlagenen Ergebnisses und die Gründe für die nächsten Schritte erläutert werden. Agile / adaptive Ansätze haben sich seit 75 Jahren entwickelt und entwickeln sich weiter Ein Ausgangspunkt der Study Group ist die Betrachtung der historischen Entwicklung der vielfältigen adaptiven Ansätze in verschiedenen Branchen und Disziplinen. Ein Blick in die Forschungsliteratur zeigt, dass sich die zugrundeliegenden Aktivitäten in den letzten 75 Jahren entwickelt haben, bevor Elemente adaptiver Ansätze mit Begriffen wie „Lean“, „Agile “ und „Design Thinking “ versehen wurden. Umfangreiche Forschungsarbeiten haben die Wirksamkeit und wachsende Akzeptanz adaptiver Ansätze in Projekten nachgewiesen. „Lean Management“ bezeichnet ein Konzept zur Planung und Steuerung von Prozessen mit den Kernelementen: Umgang mit Problemen und Fehlern, Vermeidung der Verschwendung von Ressourcen und Zeit durch nicht wertschöpfende Aktivitäten. W. Edwards Deming, der das „Plan- Do-Study-Act (PDSA)“ Modell des empirischen Engineerings weiterentwickelte und verbreitete, ist für seine 1950 begonnene Arbeit mit den Führern der japanischen Industrie bekannt [5]. Dem japanischen Automobilhersteller Toyota ist es mit diesen Methoden gelungen, ein hohes Qualitätsniveau seiner Produkte durch eine stabile Prozessorganisation zu erreichen [5a]. Laut Protzman, et al. [22] „war die Entwicklung von Lean ein unglaubliches Beispiel für kontinuierliche Verbesserung auf globaler Ebene…“ „ Adaptives Management “ ( AM ) wurde ab den 1970er Jahren von Wissenschaftlern entwickelt, die die Bedeutung systemischer und ökologischer Zusammenhänge bei der Festlegung von Zielen für das Umweltmanagement erkannten. Wesentliche Aspekte sind: lernende Organisation, Systemtheorie, industrielle Ökologie sowie die Verknüpfung von sozialem Lernen mit Politik. AM als Strategie für die Bewirtschaftung natürlicher Ressourcen findet seit der Arbeit von Walters and Holling 1990 breite und systematische Anwendung [6]. Ein zentrales Anliegen von AM ist die Einbettung der Wissenschaft in Managementprozesse im Dienst sozialer Werte [7]. Auch die U. S. Agency for International Development (USAID) sieht AM als ein zentrales Mittel für eine nachhaltige internationale Entwicklung: „Damit ihre Programme wirksam sind, muss USAID in der Lage sein, sich an Veränderungen im Kontext und an neue Informationen anzupassen. Die Fähigkeit zur Anpassung erfordert ein Umfeld, das Lernen und flexibles Projekt- und Aktivitätsdesign fördert, Hindernisse für die Programmgestaltung minimiert und Anreize für ein anpassungsfähiges Management schafft“ [8]. Die Weiterentwicklung zum „ Adaptive Collaborative Management ( ACM )“ tritt zusätzlich für die Schaffung öffentlicher Prozesse ein, um soziales Lernen zum Schutz und zur Wiederherstellung ökologischer Systeme zu fördern. Die Agile -Bewegung hat eine ähnlich lange evolutionäre Entwicklung durchlaufen. „ Agil“ ist heute ein Sammelbegriff für Praktiken, die auf einer Reihe von Grundwerten und Prinzipien beruhen und bei denen Lösungen durch Zusammenarbeit zwischen selbstorganisierten, funktionsübergreifenden Teams Abbildung 1, Quelle: Antonio Nieto-Rodriguez (2012): The Focused Organization, Gower, London Wissen | Internationale Herausforderungen und Standards für Agiles Projektmanagement 58 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 33. Jahrgang · 01/ 2022 DOI 10.24053/ PM-2022-0016 entstehen. Sie fördern adaptive Planung, evolutionäre Entwicklung, frühzeitige Bereitstellung und kontinuierliche Verbesserung sowie schnelle und flexible Reaktion auf Veränderungen [9]. Die meisten heutigen agilen Methoden und Praktiken haben ihren Ursprung in älteren Methoden, u. a. des „ Iterativen und Inkrementellen Design und Entwicklung ( IIDD )“, das vor über 75 Jahren von Ingenieuren entwickelt wurde. Zu deren frühen Anwendern in der Luft- und Raumfahrtindustrie gehören die NASA und die U. S. Air Force, die komplexe Systeme unter Verwendung von time-boxed, iterativen und inkrementellen Produktentwicklungszyklen entwickelten. Tom Gilb und Barry Boehm entwickelten in den 80er Jahren aus ihren Erfahrungen mit komplexen Softwareprojekten neue evolutionäre, iterative und adaptive Vorgehensmodelle für die Softwareentwicklung [10] [11], u. a. das „ Spiralmodell “ zur Risikominderung [12]. Der Autor dieses Beitrags nutzte den von Boehm 1981 vorgeschlagenen Ansatz der inkrementellen und risikoorientierten Entwicklung erstmalig 1985-1988 als Projektmanager eines risikobehafteten Softwareentwicklungsprojekts: Diese Vorgehensweise „machte das große Projekt beherrschbar, ermöglichte eine intensive Mitarbeit der Anwender, förderte die notwendigen Lernprozesse bei Entwicklern und Anwendern im Verlauf des Projektes und sicherte dadurch die Benutzerakzeptanz der realisierten Lösung.- … Die Kommunikation erfolgte nicht nur über Spezifikationen, sondern auch über eine Folge von Vorabversionen. Revisionen waren eingeplant, eine enge Zusammenarbeit von Entwicklern und Benutzern wurde bewusst gestaltet. Der Motivationsschub für alle Mitarbeiter, der aus frühzeitigen, vorzeigbaren Ergebnissen kommt, war unverkennbar. Fachliche und technische Probleme wurden rechtzeitig deutlich und konnten in einer verbesserten Version im Rahmen der geplanten Entwicklungszeit ausgeräumt werden. Die frühzeitig vorliegenden Testergebnisse erlaubten eine weitgehende Objektivierung des Projektfortschritts. Das Projektmanagement hatte Klarheit über den Projektstand und konnte beizeiten Maßnahmen ergreifen.“ [13]. Das Wort „Agil“ wurde durch das „ Agile Manifesto “ [14] 2001 in der Softwareentwicklung geprägt. Darin wurden folgende Werte und Prinzipien formuliert: den Menschen mehr in den Mittelpunkt stellen, Kollaboration im Team fördern, weniger Bürokratie, schnellere Ergebnisse, mit Kunden enger und vertrauensvoller zusammenarbeiten und offen für Änderungen sein. Seitdem hat sich das Wort „agil“ und das dadurch bezeichnete „Mindset“ schnell ausgebreitet und es wurde zum Synonym für Schnelligkeit und Selbstorganisation- - als Gegenbewegung zu einem als starr und bürokratisch wahrgenommenen, meist als „klassisch“ bezeichneten Vorgehen. Scrum ist ein leichtgewichtiges Rahmenwerk, das Menschen, Teams und Organisationen hilft, durch adaptive Lösun- Zusammengesetzt zu Frameworks / Methoden Agile Denkweisen Perspektiven auf agiles Denken und Handeln Beschrieben durch Werte Geleitet durch Prinzipien Manifestiert durch Praktiken Agil denken Agil handeln Abbildung 2: Beziehungen zwischen Mindset, Werten, Prinzipien und Praktiken, ©GPM-Fachgruppe Normen und Standards Abbildung 3: Der PDSA / PDCA im Adaptiven Management nach [21] Wissen | Internationale Herausforderungen und Standards für Agiles Projektmanagement 59 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 33. Jahrgang · 01/ 2022 DOI 10.24053/ PM-2022-0016 gen für komplexe Probleme Werte zu generieren [15]. 1995 wurde der erste Konferenzbeitrag über Scrum veröffentlicht [16]. Darin schrieb Schwaber: „Scrum akzeptiert, dass der Entwicklungsprozess nicht vorherzusehen ist.“ Die Entwicklungsteams arbeiten als kleine, selbstorganisierte Einheiten und bekommen von außen nur eine Richtung vorgegeben, bestimmen aber selbst die Taktik, wie sie ihr gemeinsames Ziel erreichen. Die Theorie komplexer (adaptiver) Systeme und ihre Anwendung auf Organisationen schaffte Grundlagen für eine theoretische Fundierung, Systematisierung und Reflexion der vielfältigen agile / adaptiven Managementansätze und -praktiken [17], [18], [19], [20]. Die GPM -Fachgruppe Agiles Management nutzt das PDSA / PDCA-Modell als Grundlage und definiert „Complex Adaptive System Management“ oder „Management 4.0“ als „eine Führungs- und Management- Theorie und Praxis, um in einem komplexen und von Unsicherheit gekennzeichneten Handlungsfeld adaptiv und proaktiv agieren zu können. Sie ist gekennzeichnet durch ein agiles Mindset mit dem Fokus auf: einer Führung, deren Grundlage das Lernen und die Selbstführung ist,-… die belebte und unbelebte Natur als Basis unseres Lebens schützt und respektiert,-… die Menschen zur Selbstorganisation befähigt.“ Mindsets werden auf der Grundlage der aus der Veränderungsarbeit bekannten Dilts Pyramide zur Charakterisierung von sozialen Systemen definiert [21]. Potenzieller Nutzen eines ISO-Dokuments „Agile / adaptive“ Die Forschung hat in den existierenden agilen und adaptiven Methoden Schwachstellen und Lücken identifiziert, die durch zusätzliche Differenzierungen und Präzisierungen in einem ISO-Dokument für agile / adaptive Ansätze geschlossen werden könnten, darunter: • Bessere Berücksichtigung der Menschen in Projekten als Brücke zwischen dem rationalen wissenschaftlichen Ansatz und den eher humanistischen adaptiven / agilen Ansätzen [22], • Agile Ansätze decken bestimmte Phasen ab, doch die meisten von ihnen bieten keine angemessene Unterstützung für ein integriertes Projektmanagement des gesamten Lebenszyklus [23], • Präzisere, klarere, kohärentere und besser integrierte Definitionen von Schlüsselbegriffen, die für alle adaptiven Projekttypen entlang des Projekt-Spektrums relevant sind [24]. Im Zusammenhang mit adaptiven Ansätzen in der bestehenden Norm ISO 21 502 besteht der Bedarf nach einer Schärfung der Konzepte. Die Norm stellt ein Spektrum von Projektlebenszyklen und -ansätzen vor und identifiziert ausdrücklich inkrementelle, iterative und adaptive Lebenszyklen und Ansätze. Es besteht jedoch die Möglichkeit, diese Elemente des Projektmanagements durch zusätzliche Anleitungen weiter zu vertiefen: • Ausarbeitung von Praktiken, die sich bei Projekten mit adaptiven Lebenszyklen und Ansätzen unterscheiden können, wie z. B. Roadmaps, Backlogs, Kanban-Boards und verwandte Planungsansätze, und wie sich diese mit der Terminplanung, Kostenschätzung und anderen wichtigen Projektmanagement-Praktiken überschneiden • Untersuchung von Team-, Management- und Governance- Funktionen, die im Rahmen von agilen / adaptiven Ansätzen tendenziell anders organisiert sind • Nutzen- und Qualitätsmanagement und verwandte Praktiken in adaptiven Ansätzen • Untersuchung des Umgangs mit Risiken, Veränderungen und Ungewissheit in adaptiven Ansätzen • Kontext von Agilität im Projekt-, Programm- und Portfoliomanagement und zugehöriger Governance (PPPM&G) und in den Trägerorganisationen. Bei der Planung und Durchführung von Projekten, die adaptive Lebenszyklen und Ansätze verwenden, könnten zum Beispiel folgende Alternativen näher erläutert werden; Roadmap (anstelle Business Case); Backlog und User Stories (anstelle von detailliertem Projektplan und Anforderungen); Retrospektiven (anstelle von Lessons Learned); und Demonstrationen (anstelle von Approval Gates). Gegenwärtig werden solche allgemein akzeptierten Planungs- und Ausführungsaktivitäten in ISO 21 502 nicht als alternative Optionen identifiziert, obwohl sie in Projekten mit adaptiven und hybriden Ansätzen verbreitet genutzt werden. Diese Präzisierungen und Differenzierungen könnten dazu beitragen, die Relevanz der Normen für Anwender adaptiver Ansätze zu erhöhen. Die Veranschaulichung der gemeinsamen Herausforderungen aller Projekte kann den Nutzen der Anwendung von ISO 21 502: 2020 über das gesamte Spektrum der Projektentwicklung hinweg sichtbar machen. Aus der Sicht der ISO 21 502 wird Agilität von einem rein methodischen Standpunkt aus als ein Lieferansatz (Delivery Approach) und die Entscheidung für einen agilen / adaptiven Ansatz als eine nachrangige Frage des WIE betrachtet. Viele agile Ansätze des adaptiven Spektrums, wie z. B. Agile, Lean und Design Thinking, beruhen jedoch auf menschenzentrierten Prinzipien und betonen andere grundlegende Aspekte wie Werte, Denkweisen, Kultur, Kompetenzen sowie Verhaltensweisen. Darüber hinaus stellen sich folgende strategische Fragen: • Wie kann die Relevanz der ISO-Normen für agile Communities außerhalb von ISO / TC258 gesteigert werden, indem deren Schlüsselkonzepte und -aspekte einbezogen werden (z. B. die Werte und Prinzipien von Agile und SCRUM, der Fokus von PM² auf Mindset und Kultur und der Fokus der ICB4 auf Kompetenzen) • Ist agil / adaptiv nur ein Lieferansatz (Delivery Approach)-- oder ein grundlegender Wandel von Managementsystemen, Kultur, Denkweisen und Kompetenzen, der der zunehmenden Komplexität und Unsicherheit von Projekten im 21. Jahrhundert entspricht? Was heißt das für die Grundkonzepte der ISO PPPM&G-Standards? Um die globale Relevanz und Wirkung eines ISO-Dokuments sicherzustellen, sind die unterschiedlichen Bedarfe und Ausprägungen verschiedener Marktsegmente, Regionen und Kulturen hinsichtlich agiler und adaptiver Managementansätze in Projekten zu klären. Für viele Organisationen stellt sich die Frage, wie die agilen / adaptiven Praktiken in die etablierten Verfahren des klassischen PPPM&G integriert werden können. Agile Ansätze ste- Wissen | Internationale Herausforderungen und Standards für Agiles Projektmanagement 60 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 33. Jahrgang · 01/ 2022 DOI 10.24053/ PM-2022-0016 hen vor verschiedenen Herausforderungen, die mit der Größe der Organisationen, in denen sie angewandt werden, wachsen. Diese Herausforderungen können sein: die Koordination zwischen agilen und nicht-agilen Teams; die Einhaltung der verschiedenen organisatorischen Governance- und Audit- Anforderungen; sowie die Einhaltung der organisatorischen Architektur- und Interoperabilitätszwänge. Dazu gibt es verschiedene hybride Strategien, abhängig von der Komplexität der Projekte, der vorherrschenden Führungskultur und den Werten der Organisation [20]. Ein ISO-Dokument „Agile / adaptive“ könnte Organisationen und agile Teams bei der Erreichung der gewünschten Agilität unter Berücksichtigung strenger Beschaffungs- und Audit-Anforderungen, guter Koordination mit Programm- und Portfolio-Ebenen sowie der Zusammenarbeit mit anderen Projekten, Auftragnehmern, anderen Organisationseinheiten und externen Organisationen unterstützen. Gemeinwohlorientierte Perspektiven und Positionen Der gemeinnützige Satzungszweck der GPM ist „die Förderung des Projektmanagements, insbesondere der Aus- und Weiterbildung sowie der Forschung und Information auf diesem Gebiet“. Er wird durch gesellschaftliche Interessenvertretung und das Aktionsprogramm „Mit Projekten Deutschlands Zukunft gestalten“ unterstützt [25]. Die Entwicklung und Verbreitung internationaler Projektmanagement-Standards ist eine wesentliche Satzungsaufgabe der GPM und schafft zugleich Grundlagen für weitere Satzungsaufgaben: Qualitätsverbesserung des Projektmanagements, Erstellung von Leitlinien für die Aus- und Weiterbildung sowie Kompetenzbeurteilungen und Zertifizierung. Die offenen IPMA-Kompetenzstandards ICB, OCB und PEB gehören zum Markenkern der GPM. Der offene IPMA Reference Guide „ICB4 in an Agile World“ [26] beschreibt, wie die unterschiedlichen Kompetenzelemente des internationalen Kompetenzstandards „Individual Competence Baseline ICB4“ [27] in einer agilen Umgebung zu interpretieren sind. Ein Fokus auf detaillierte Prozessvorgaben und Pläne und ein Grundverständnis von Organisationen als maschinengleiche Systeme von Prozessen führen in komplexen Projekten und Programmen nicht zum Erfolg, sondern zu organisierter Verantwortungslosigkeit. Damit komplexe Projekte gelingen, braucht es Verantwortung, Vertrauen, gute Zusammenarbeit und Gestaltungsspielraum für die Menschen im Projekt und ein anderes Mindset: ausprobieren, improvisieren, lernen, Verantwortung übernehmen, mit dem Blick nicht nur auf die vereinbarten Leistungen, sondern auch darüber hinaus auf die Zwecke, den Nutzen, die Chancen und Risiken des Projekts. Es braucht kompetente Gestalter und Führungskräfte, die wissen, welche Projektmanagement-Praktiken am besten zum Kontext und den Anforderungen des Projekts passen und wie viel davon in einer konkreten Situation nötig ist. Agile Führung heißt, andere zu inspirieren, die agile Denkweise in agile Praxis umzusetzen und dadurch Werte für Kunden und für die Gesellschaft zu schaffen. Darüber hinaus bedarf es auch der organisationalen Projektmanagementkompetenz für das Management der Vielzahl vernetzter Projekte, Programme und Projektportfolios durch die Ziele, Strategien und Programme von Organisationen und Gesellschaften umgesetzt werden. Wesentliche Führungsinstrumente sind dabei: Management- und Governance-Standards für Projekte, Programme und Portfolios, Ausbildungs- und Zertifizierungssysteme und kontinuierliche Verbesserungen von Managementsystemen, Kompetenzen und Organisationskulturen. Dazu braucht es Prinzipien, Verantwortungsstrukturen und eine Kultur, die Verantwortlichkeit, Performance, Qualität und Zusammenarbeit fördern [2]. Wesentlich dabei ist die Klärung und Stärkung der Verantwortung der Projekt-Owner und -Sponsoren einerseits und selbstorganisierter Teams andererseits, um die bestehenden Verantwortungslücken zu schließen- - daher müssen beide Perspektiven in eine Internationale Norm für agiles / adaptives PPP&G eingehen. Normungspolitische Positionen der GPM leiten sich auch aus deren Satzungsaufgabe „Förderung der internationalen Zusammenarbeit“ ab. Nur durch eine engere Kooperation innerhalb der IPMA wird deren kompetenzorientierte Sicht des Abb. 4: Open PM²-- eine gemeinsame Projektmanagementmethodik für EU-Institutionen,Mitgliedstaaten, Auftragnehmer und Unionsbürger [28] Wissen | Internationale Herausforderungen und Standards für Agiles Projektmanagement 61 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 33. Jahrgang · 01/ 2022 DOI 10.24053/ PM-2022-0016 Projektmanagements in der internationalen Normung ausreichende Berücksichtigung finden. Und nur durch eine engere Kooperation europäischer Länder können diese einen stärkeren Einfluss auf die Entwicklung der internationalen Projektmanagement-Standards im ISO / TC258 nehmen, um dort europäische Werte und Interessen einzubringen. Das gilt auch für den von der EU-Kommission entwickelten und mit der ICB kompatiblen europäischen Standard PM² [28]. Die „Open PM²“ Initiative der EU-Kommission bietet allen Institutionen und Auftragnehmern der Europäischen Union, öffentlichen Verwaltungen in den einzelnen Mitgliedstaaten sowie Stakeholder-Gruppen der EU freien Zugang zu PM² und zu den dazugehörigen Ressourcen. Ziel dieser Initiative ist es, Projekte wirksamer zu gestalten und auf diese Weise den Zielen der Europäischen Union und den Erfordernissen der Mitgliedstaaten und Unionsbürger zu dienen. Weitere Ziele der Initiative sind u. a. die Förderung von Transparenz sowie wirksamer Projektkommunikation und organisationsübergreifender Projektzusammenarbeit. Europäische und auch deutsche Verwaltungen und Unternehmen setzen PM² zunehmend ein. Daher sollte dieser europäische Standard, der auf europäischen Werten und Stärken aufbaut, mit seinem zugehörigen PM² Agile Guide [9] auch in der internationalen Normung berücksichtigt werden. In der gegenwärtigen Situation sich verschärfender internationaler Konflikte bekommen Normungsfragen zusätzliche gesellschaftliche Bedeutung. Aufgrund seiner kommerziell expansiven Wachstumsstrategie dominiert ein US-Anbieter heute nicht nur den internationalen Zertifizierungsmarkt, sondern auch die internationale PM-Normung. Bei aller Wertschätzung für seine fachlichen Beiträge zur Weiterentwicklung des Projektmanagements braucht es eine gemeinwohlorientierte IPMA als Alternative, die den europäischen Werten und einer Weltordnung verbunden ist, in der auch die Sichten kleinerer Länder berücksichtigt und in deren Rahmen die großen Herausforderungen der Menschheit-- wie die Klimakrise und die Pandemie- - als gemeinsame Projekte aller Staaten angegangen werden können. Dazu können ein gemeinsames internationales Verständnis der Werte, Prinzipien und Standards sowie gemeinsame Begriffe und Konzepte für das Management und die Governance von komplexen Projekten einen wesentlichen Beitrag leisten [2]. Ausblick und Mitwirkung Die Ergebnisse der internationalen Study Group “Agile / adaptive“ sollen zur Plenarsitzung des ISO / TC258 im September 2022 vorgelegt werden. Die deutsche Spiegelarbeitsgruppe zur internationalen Study Group im DIN wird von der GPM- Fachgruppe „Normen und Standards“ [29] durch ein Teilprojekt „Agile PM-Standards“ unterstützt, das sich weitgehend an den Aufgaben der internationalen Study Group orientiert (Klärung der Unterschiede zwischen unterschiedlichen agilen / adaptiven Konzepten und Praktiken, Untersuchung der Marktbedürfnisse und des potenziellen Nutzens eines agilen Standards). Zur Ermittlung der Marktanforderungen wird zurzeit eine Umfrage für unterschiedliche Stakeholdergruppen vorbereitet. Eine wichtige Aufgabe ist auch die Nutzung der Ergebnisse für die anstehende Überarbeitung der nationalen Projektmanagement-Normenreihe DIN69 900. GPM-Mitglieder, die ihre Erfahrungen und Kompetenzen einbringen wollen, sind willkommen und können sich dazu gerne an die Fachgruppenleitung wenden (normen-im-pm@gpm-ipma. de). 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V., Projektleiter der „ISO Study Group ‚Agile/ adaptive‘ und Beiratsmitglied des Aktionsprogramms „Mit Projekten Deutschlands Zukunft gestalten“ sowie in der „GPM Fachgruppen ‚Normen und Standards‘“. 2013-2017 vertrat er als Hauptstadtrepräsentant die gesellschaftlichen Interessen der GPM und initiierte das Aktionsprogramm „Mit Projekten Deutschlands Zukunft gestalten“ sowie die Gründung der Fachgruppen „PM in der Öffentlichen Verwaltung“, „Bau- und Infrastrukturprojekte“ sowie „Digitale Transformation“. Er wirkte mit an der Entwicklung des internationalen Standards ISO 21 505 „Projektgovernance“ und in der ISO Study Group „Projektmanagement-Kompetenzen“. 2018-2021 vertrat er als Delegierter die Interessen der Thüringer Mitglieder. Im Rahmen von Lehraufträgen an der TU Berlin sowie in Fachartikeln und Vorträgen gibt er seine Erfahrungen weiter. Otto Eberhardt, Michael Erbsland Die EU-Maschinenrichtlinie Praktische Anleitung zur Anwendung der europäischen Richtlinien zur Maschinensicherheit - Mit allen Richtlinientexten 7., überarbeitete Auflage 2022, 184 Seiten €[D] 54,90 ISBN 978-3-8169-3476-9 eISBN 978-3-8169-8476-4 Am 01.01.1995 wurde für alle Maschinen in der EU das CE-Zeichen und die Konformitätserklärung der Maschinenhersteller und -händler zur Pflicht. Seit dem 01.01.1999 müssen die Maschinen auch den Schutzanforderungen der EMV-Richtlinie und der Richtlinie für elektrische Betriebsmittel genügen. Spätestens seit dem gleichen Datum sind alle Maschinenbetreiber durch die Arbeitsmittelbenutzungsrichtlinie gesetzlich verpflichtet, nur noch CE-gekennzeichnete Maschinen aufzustellen und alte Maschinen entsprechend nachzurüsten. Am 29.07.2006 trat die überarbeitete Maschinenrichtlinie 2006/ 42/ EG in Kraft, in der insbesondere die Risikobeurteilung und die Baumusterprüfung neu geregelt wurden. Die Autoren informieren umfassend über die Anwendung der Richtlinien zur Maschinensicherheit und schöpfen dabei aus einem Erfahrungsschatz von vielen Entwicklungs- und Konstruktionsprojekten. Anzeige
