eJournals PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL 33/1

PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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2941-0878
2941-0886
UVK Verlag Tübingen
10.24053/PM-2022-0019
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2022
331 GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.

Mit Projektmanagement-Spirit Long Covid begegnen

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2022
Claudia Stöhler
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71 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 33. Jahrgang · 01/ 2022 DOI 10.24053/ PM-2022-0019 Mit Projektmanagement-Spirit Long Covid begegnen Claudia Stöhler Normalerweise denke ich nicht darüber nach, ob ich das schaffe, ob meine Energie reicht, an wen ich Arbeit abgeben kann und ob dieser „Schnörkel“ für das Ergebnis wirklich wichtig ist. Wenn ich ein neues Projekt annehme, dann mache ich einfach. Ich beherrsche mein Handwerk, kann aus der Fülle von PM-Methoden wählen und Werkzeuge zielsicher einsetzen. Meine Studenten haben ihren Spaß mit mir und ich mit Ihnen, wenn ich an der Hochschule unterwegs bin. Mega-- einen Beitrag leisten zur Ausbildung zukünftiger Fach- und Führungskräfte. Aber was ist seit zwei Jahren schon normal. Corona beherrscht unser aller Alltag und wen das Virus erwischt, den legt es nicht selten lahm. Mich hat Covid vor einem Jahr zu Ostern 2021 auf den Standstreifen geschickt. Ich war in meinem Leben noch nie so krank. Fast schon zynisch kam eine Woche nach meinem positiven Testergebnis die Einladung zum Impftermin. Pech gehabt, dachte ich. Das ich auch ein Jahr später immer noch zu kämpfen haben würde, daran habe ich damals nicht gedacht. Post-Covid-Syndrom heißt das, eine Folgeerkrankung, die ganz ähnlich auch von anderen schweren Viruserkrankungen bekannt ist. Häufigstes Symptom (die WHO listet 200) ist eine chronische Fatigue- - eine Erschöpfung, die sich mit nichts vergleichen lässt. Anfangs war aufstehen und Zähneputzen so anstrengend, dass ich danach vier Stunden im Bett lag und die weiße Wand anstarrte, selbst denken war zu viel. Als es besser wurde, da konnte ich irgendwann die Spülmaschine ausräumen: schön langsam, erst ein paar Teller, dann ein bisschen Zeit auf dem Sofa, dann das Besteck und so nach 30 Minuten war es geschafft. Was für eine Erleichterung, als ich nach drei Monaten erstmals wieder selbst den Supermarkteinkauf schaffte. Voll krass, wenn ich daran denke, wie ich sonst durch meinen Alltag geflitzt bin. Wie kommt man damit klar nicht zu wissen was hilft, wie lange das dauert und ob es überhaupt jemals wieder alles „normal“ wird? Im April 2021 gründete sich die Selbsthilfegruppe Long Covid Deutschland, die auf ihrer Webseite so ziemlich alles zusammentrugen, was an Informationen und neuen Erkenntnissen gab. Wow, dachte ich, wenn es denen genauso geht wie mir, dann verdienen sie einen Wahnsinns Respekt. Sie engagieren sich politisch: dass die Erkrankung gesellschaftlich anerkannt wird, Forschungsgelder bewilligt und eine Versorgungsstruktur aufgebaut wird. Sie haben diese Anliegen bis in den Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung getrieben. Gerne hätte ich mich dort eingebracht, Projektmanagementerfahrung hätten sie gut gebrauchen können, aber für diesen großen Kampf fehlt es mir schlichtweg an Kraft. Oh weh, denk‘ ich daran, dass nach aktuellen Schätzungen ca. 1 % aller Infektionen mit Corona zu so schweren Langzeitfolgen führen (Prof. Dr. Scheibenbogen, Charité Berlin) dann wären das bei 12,3 Mio. Genesenen in Deutschland (Stand 12. 2. 2022) 120.000 Schicksale. Da muss man echt was tun. Als es mir Ende letzten Jahres so weit besser ging, griff ich eine Idee aus der Reha auf: Meine Zimmernachbarin Elfriede ist sehr musikalisch. So gingen wir eines Abends zu einer nah gelegenen Schafherde und begannen zu singen. Schlaflieder für die Schafe. Es entwickelte sich zu einem Abendritual und manchmal sangen vorbeikommende Spaziergänger mit. Das war sehr schön. „Der Mond ist aufgegangen-…“ tönte es über die Wiese und die Schafe waren ein geduldiges Publikum. Wenn es mir guttat, könnte es auch anderen guttun. Das fühlte sich richtig an. Die Idee war geboren. „Mit Kehle und Seele“- - gemeinsames Singen nach einer Corona Infektion. Ich wusste, dass ich eine Selbsthilfegruppe nicht alleine gründen kann. Ich brauchte Hilfe. Bei dem Titel kam mir sofort unser Pfarrer in den Sinn, also sprach ich ihn an. Herr Hegner sagte spontan zu und so machten wir uns an dieses Projekt. St. Anna ist eine traditionsreiche evangelische Gemeinde in Augsburg. Schon Martin Luther fand hier während seines Prozesses eine Bleibe. Der Katholik Jakob Fugger ist mit seiner Familie hier begraben. Konstellationen, die sicherlich von der Fähigkeit zu Perspektivwechseln zeugen. „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“ (Psalm 31,9) ist das Gemeindemotto, welches ich zutiefst teile. Wir werden in diese Welt geboren und haben Möglichkeiten uns darin zu bewegen. Es ist an uns, diese Lebensmöglichkeiten zu ergreifen, darauf Vertrauen zu dürfen, dabei nicht allein zu sein. „Mach was daraus“, diese Lebensphilosophie steckt in mir drin, Gott sei Dank. Ich kenne etliche, die aufgrund des eklatanten Leistungsabfalls mit Depressionen zu kämpfen haben. Ganz so, wie ich es immer mache, setzte ich ein Projekt auf, überlegte was das Ziel ist, was dafür nötig ist und wer mitmachen kann. Das war ganz schön anstrengend. Ich baute mir einen Projektstrukturplan, der sich mit der Zeit in ein Kanban-Board voller Post-its verwandelte. „Zettellitis“ in meinem Arbeitszimmer, lästerte eine Freundin. So behielt ich den Überblick in dem kleinteiligsten Projektfahrplan, den ich je erstellt hatte. Denn auf mein sonst so blitzgescheites Hirn konnte ich mich nicht verlassen- - Konzentrationsschwierigkeiten, ich brauchte externen Arbeitsspeicher. Schmunzel. Es war überwältigend, wie alle mitzogen und welche Hilfe wir erhielten. Ich wollte unbedingt Qualität in die Gruppe bringen: Die Lunge trainieren, die Kehle lockern und die Seele beglücken. Das alles konnte ich als Singneuling überhaupt nicht anleiten. Das erzählte ich meiner Physiotherapeutin, die griff sofort während meiner Behandlung zum Hörer und rief eine andere Patientin an, die wiederum eine Sängerin kannte. Nachdem ich eine Woche später bei Frau Haumann zu einer Probestunde war, sagte sie spontan zu, unsere Gruppe zu leiten. Unser Pfarrer machte die Finanzierung mit dem Kirchenvorstand aus und damit konnte es dann wirklich losgehen. Ein befreundeter grafikaffiner Pfarrer erstellte das Logo und designte Flyer nach meinen Textentwürfen. Die Webseite war auch schnell eingerichtet. Das Pfarramt dient als Kontaktstel- Wissen | Mit Projektmanagement-Spirit Long Covid begegnen 72 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 33. Jahrgang · 01/ 2022 DOI 10.24053/ PM-2022-0019 le und nimmt alle Anfragen und Anmeldungen entgegen, eine wirklich große Hilfe. Die Öffentlichkeitsarbeit des Dekanats gab eine Pressemitteilung heraus und wenige Stunden später rief mich eine Journalistin der Augsburger Allgemeinen an. Prima, kostenlose Zeitungswerbung. Ein wenig Überwindung hat es mich schon gekostet meine Erkrankung öffentlich zu machen-- eine Managerin und Hochschuldozentin sagt, dass ihr die Energie fehlt und sie unter kognitiven Defiziten leidet. Ich vertraue darauf, dass sich schon alles irgendwie finden wird. An mir ist es, das Angebot bekannt zu machen, denn ich bin mir sicher, da wo ich die letzten Monate recherchiert hatte, da tun es auch andere Long-Covid-Patienten. Immer schön langsam, jeden Tag ein bisschen. Listung an öffentlichen Stellen: beim Gesundheitsreferat, Selbsthilfestellen in Bayern und Deutschland. Ärzte kontaktieren, den Kliniken in Augsburg Flyer geben und Plakate hängen, z. B. im Impfzentrum. Unsere Sängerin gab Interviews im Radio und meine Therapeuten empfehlen das Angebot an ihre Patienten. Über die Long-Covid-Selbsthilfegruppen in Deutschland verbreitete es sich via Social Media. Ende Januar war ich dann eingeladen auf einem Long-Covid-Online-Netzwerktreffen der NA- KOS (Nationale Kontakt- und Informationsstelle zu Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen in Berlin). Überraschenderweise war ich dort nicht unbekannt, unser Slogan „Mit Kehle und Seele“ hatte sich schon rumgesprochen und mir bat sich die Möglichkeit, mich direkt bei Vertretern von „Long Covid Deutschland“ zu bedanken für ihre Arbeit und absolut wertvollen Infos auf ihrer Webseite https: / / longcoviddeutschland.org/ . Inzwischen haben wir schon fünfmal gesungen, jedes Mal waren neue Mitsängerinnen dabei. Ganz unterschiedlich sind wir: zwischen 25 und 70 Jahre, Professorin bis Krankenschwester, Einheimische und Immigrantin. Nur Männer haben sich bislang nicht zu uns gesellt. Es ist wunderbar, ich liebe es. Die Vibration im Brustkorb zu spüren, löst Gänsehaut aus. Aus dem Bauch heraus singen und lachen, das schafft Volumen. Pure Lebensfreude trägt unsere Stimmen. Die Töne schwingen durch den Raum, völlig egal ob wir die Tonlagen treffen, und verbinden uns. Wir fühlen uns wohl in der Gewissheit verstanden zu sein, wie es uns geht ohne viel Worte darüber zu verlieren. Wirklich immer gehen alle mit einem fröhlichen Grinsen im Gesicht nach Hause. Wer weiß, vielleicht findet sich auch in Augsburg eine Schafherde, zu der wir dann im Frühling pilgern können. Die AOK ist auf unsere Idee aufmerksam geworden und hat es einer Long-Covid-Gruppe in Heilbronn empfohlen. Daraufhin meldete sich die Sprecherin bei mir und unsere Frau Haumann konnte eine Sängerin vermitteln, die mit ihnen nun online singt. Das ist voll cool. Wir träumen schon von einer Initiative „Mit Kehle und Seele“, die sich durch Deutschland zieht. Träumen darf man ja mal. Falls also jemand etwas Ähnliches auf den Weg bringen möchte, teile ich meine Erfahrungen gerne. Give&Take, ganz so wie ich es als GPM Mitglied und Fachgruppenleitung „PM an Hochschulen“ seit vielen Jahren erlebe. Happy projects und bleibt gesund! Claudia Stöhler Claudia Stöhler ist „Head of global Logistics“ der Schönberger-Gruppe in München. Sie lehrt seit vielen Jahren Logistik und Projektmanagement an den Hochschulen in Augsburg und Ulm. Seit 2014 ist sie in der Fachgruppenleitung „PM an Hochschulen“ der GPM, mehrere Bücher von ihr sind im Springer Gabler Verlag erschienen. Internet: www.st-anna-augsburg.de / gemeinsames-singen-nach-einer-corona-infektion eMail: c.stoehler@gpm-ipma.de