eJournals PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL 33/4

PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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UVK Verlag Tübingen
10.24053/PM-2022-0084
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2022
334 GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.

Bewusst inkompetent – manchmal von Vorteil

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2022
Jens Köhler
Die Kolumne „Ehrlich und Priesberg“ möchte mit unterhaltsamen Dialogen rund um das Thema „Mensch – Kommunikation, Verhalten, Entscheidungen“ Denkanstöße für den PM-Alltag geben
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76 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 33. Jahrgang · 04/ 2022 DOI 10.24053/ PM-2022-0084 Jens Köhler Priesberg trifft Ehrlich vor der Kaffeemaschine. Er sieht, wie sein Kollege auf die Starttaste drückt, aber keinen Becher untergestellt hat. Der Kaffee strömt in die Auffangschale und spritzt dabei Ehrlich auf die Kleidung. Er merkt es jetzt auch und schimpft: „So etwas Dummes! “ Priesberg versucht ihn abzulenken: „Ich habe da eine Frage: Eine Kollegin aus unserem Projektteam beherrscht eine wichtige Projektsteuerungsmethode hervorragend, sie ist außerhalb des Teams bekannt und wird häufig um Rat gefragt. Innerhalb des Teams wurden diese Fähigkeiten noch nicht einmal wahrgenommen. Das ist doch erstaunlich? “ Ehrlich zuckt mit den Schultern: „Und, was ist daran neu? Bestimmte Fähigkeiten werden in einer Organisation halt nicht gefragt und damit auch nicht abgerufen.“ Priesberg gibt nicht auf: „Wenn es so wäre. Seit einiger Zeit interessiert sich das Team aber für ihre Fähigkeiten.“ „Ja, schön“, ruft Ehrlich laut und wischt sich gerade Kaffeeflecken vom Hemd. „Dann werden die Fähigkeiten halt gebraucht, das ist doch prima.“ Er stellt die Tasse unter das Gerät und diesmal funktioniert es auch mit dem Kaffee. „Jaja“, insistiert Priesberg, „das Projektteam reagiert eher irritiert als zustimmend. Meine Kollegin wird jetzt schief angesehen, wenn sie außerhalb des Projekts berät. Anderseits weiß das Team selbst nicht so recht, was es mit der Steuerungsmethode anfangen soll-- ich verstehe das nicht.“ Inzwischen ist es Ehrlich gelungen, einen großen Schluck aus seiner Tasse zu trinken, ohne etwas zu verschütten. „Das Projektteam wacht auf, so wie ich es gerade tue“, entgegnet er. „Geht das auch ein bisschen systematischer“, entgegnet Priesberg jetzt selbst genervt. Ehrlich erwidert: „Dein Team war im Zustand der unbewussten Inkompetenz-- daher konnte es die Methode deiner Kollegin weder wertschätzen noch erkennen. Die Methode war einfach nicht sichtbar! Erinnere dich an deine Zeit, bevor du Auto gefahren bist. Wann hast du erst erkannt, dass du nicht Autofahren kannst? “ Priesberg gibt kleinlaut zu: „Nach der ersten Fahrstunde.“ Ehrlich grinst: „Prima. Den Zustand nach dem Beginn deiner Fahrausbildung nennen wir ‚bewusste Inkompetenz‘. Und genau in diesem Zustand befindet sich jetzt dein Projektteam. Das Team weiß, dass es die Projektsteuerungsmethode deiner Kollegin nicht beherrscht, hat aber irgendwie erkannt, dass es sie benötigt.“ Priesberg entgegnet: „Ja, das ist doch prima für die Kollegin. Sie kann sich jetzt voll einbringen.“ Ehrlich ist zurückhaltend: „Da wäre ich vorsichtig. Das Projektteam ist gerade dabei, eine eigene Lernkurve zu starten. Es wird sich in dieser Phase herausbilden, wie diese Methode später eingesetzt werden wird. Die bewusste Inkompetenz ist ein Toröffner! Jetzt beginnt das Team die Methode zu verstehen und zaghaft auszuprobieren.“ „Na und? Das kann die Kollegin doch jetzt beschleunigen und zeigen, was sie drauf hat“, insistiert Priesberg. Ehrlich entgegnet. „Wenn die Kollegin jetzt den Ton vorgibt, ohne auf die anderen Rücksicht zu nehmen, kann es passieren, dass die Methode nie richtig gelernt und daher abgelehnt wird, weil das Team keine eigenen Erfahrungen sammeln kann. Die Kollegin ist ihrem Team weit voraus und kann Ratschläge an kritischen Stellen geben-- aber: Beobachtung statt Belehrung ist hier gefragt.“ Priesberg denkt nach: „Mag sein, aber wie kann sie sich dann einbringen? Am Ende steht sie als Verliererin da, weil sie ihren Beitrag nicht zeigen konnte.“ „Moment“, fällt ihm Ehrlich ins Wort, „es gibt noch eine weitere Phase: Die Phase der bewussten Kompetenz. Erinnerst du dich noch an deine ersten Fahrversuche nach der bestandenen Prüfung? “ „Sehr genau sogar. Und ich war froh, wenn ich anfangs Unterstützung in Gestalt eines Beifahrers hatte. Das hat so manch brenzlige Situation entschärft“, resümiert sich Priesberg. „Und in dieser Phase kann die Kollegin wie eine Beifahrerin wirken und sprichwörtlich ‚Händchen halten‘ und Führung übernehmen. Denn nur so kommen wir in die letzte Phase, die der unbewussten Kompetenz. Auf dem Weg dorthin begegnen sich die Kollegin und ihr Team auf Augenhöhe- - es lernt die Methode zu beherrschen und zu schätzen“, fasst Ehrlich zusammen. „Ganz anders als bei der Kaffeemaschine“, kann sich Priesberg nicht verkneifen. „Dort warst du unbewusst inkompetent.“ „Na dann bin ich aber froh, dass ich jetzt bewusst inkompetent bin, und lernen kann, wie man den Kaffeeautomaten bedient, ohne sich die Kleidung zu verschmutzen“, schließt Ehrlich spitz. Eingangsabbildung: © iStock.com / Comeback Images Kolumne Bewusst inkompetent-- manchmal von Vorteil Die Kolumne „Ehrlich und Priesberg“ möchte mit unterhaltsamen Dialogen rund um das Thema „Mensch- - Kommunikation, Verhalten, Entscheidungen“ Denkanstöße für den PM- Alltag geben. Jens Köhler Dr. Jens Köhler, BASF SE, fokussiert sich auf die Digitalisierung in Forschung und Entwicklung. Sein Spezialgebiet ist die Regulation sozialer Komplexität zur Effizienz- und Effektivitätssteigerung von Projektteams. Anschrift: BASF SE, RGQ/ IM, 67056 Ludwigshafen eMail: jens.koehler@basf.com pm_04_2022.indb 76 pm_04_2022.indb 76 02.09.2022 13: 53: 55 02.09.2022 13: 53: 55