PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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UVK Verlag Tübingen
10.24053/PM-2022-0097
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GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.Der Komplexität Herr werden (2)
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Gunter Maier
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33 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 33. Jahrgang · 05/ 2022 10.24053/ PM-2022-0097 Die Steuerung Sozialer Systeme Der Komplexität Herr werden (2) Gunter Maier Schlagwörter | Soziale Systeme; Strategie; Leadership; strategische Prinzipien, Komplexität, Macht, Vertrauen, Wahrheit, Motivation Einleitung In Projektmanagement-Aktuell-- Ausgabe Februar 2019 wurde im Artikel „Der Komplexität Herr werden- - Strategisches Praxiswissen für den Projektmanager“ aufgezeigt, wie Führungskräfte sich das Wissen um die Gesetzmäßigkeiten der sozialen Welt aneignen und die darauf basierenden Strategische Prinzipien in ihr Handlungsrepertoire aufnehmen können, um die Komplexität in ihren Abteilungen und Teams im Griff zu halten. Dieses Praxiswissen erleichtert die Handlungskoordination im organisationalen Alltag, insbesondere auf der bilateralen Ebene. Jedoch werden größere Abteilungen oder gar ganze Organisationen schnell unübersichtlich, was es für den Verantwortlichen unmöglich macht, die direkte Interaktion mit den Mitarbeitern in Gänze zu tätigen. Insbesondere die Soziologie der sechziger und siebziger Jahre, als ein nüchterner Zeitgeist herrschte, beschäftige sich mit den übergreifenden sozio-emotionalen Mechanismen, die zur Steuerung großer Organisationen und ganzer Gesellschaften dienen. Diese Steuerungsmechanismen stehen in Zusammenhang mit den Strategischen Prinzipien; genauer gesagt werden sie über Strategische Prinzipien in Gang gesetzt und wirken anschließend kollektiv. Dies stellt eine enorme Handlungserleichterung für die Führungskraft dar, vorausgesetzt sie versteht die jeweiligen Eigenheiten der großen Mechanismen. Denn Fehler im Umgang damit bewirken schnell das Gegenteil von dem, was man beabsichtigt, und in der Folge entstehen Kollateralschäden des eigenen Führens und damit unnötige Komplexitätserhöhungen. In der modernen Führungskräfteausbildung fehlen diese großen Mechanismen weitestgehend in den Lehrplänen, wodurch in der Praxis Unkenntnis vorherrscht, obwohl jede Führungskraft unweigerlich die Mechanismen betätigt. Es geht um Macht, Vertrauen, Motivation und Wahrheiten. Soziale Systeme und Soziale Komplexität Bevor man sich mit den sozio-emotionalen Mechanismen auseinandersetzt, muss man sich grundlegende Gedanken über den Gegenstand machen, um den es geht- - also die Abteilung, das Team oder die Organisation. Alle sind soziale Systeme, ab einer gewissen Größe kann man sie als komplex bezeichnen. Dann entsteht auch soziale Komplexität, die ab einem gewissen Grad für den Verantwortlichen im Detail nicht mehr überschaubar ist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie zugleich nicht beherrschbar ist. Soziale Systeme sind gekennzeichnet durch eine Struktur. Da die vorliegende Betrachtung auf Organisationen gerichtet ist, spricht man von einer Hierarchie, welche durch die entsprechenden Organigramme dargelegt ist. Diese Struktur ist formal vorgegeben, wenngleich sie in der Praxis nicht notwendigerweise in allen Belangen eingehalten wird. Aus der Struktur ergeben sich im ersten Schritt Rollen und Aufgabengebiete. So gibt es formal definierte Rollen wie Abteilungs- oder Bereichsleiter, aber auch Mitarbeiterrollen entsprechend der Qualifikation und des Ausgabengebietes. Aus den Rollen ergeben sich nun Rechte, Pflichten, Befugnisse usw. Darüber hinaus ist in der Regel auch definiert, welche Aufgaben eine Rolle zu bewältigen hat bzw. wie die Rolle im Einklang mit anderen Rollen zu verfahren hat. Hierzu gibt es Verfahrensanweisungen, Verfügungen, Prozessdefinitionen und andere Dokumente. Zusammengefasst dienen sie der Standardisierung und fallen unter die formalen Koordinationsinstrumente [[1], S. 115 ff.]. Wissen | Der Komplexität Herr werden (2) 34 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 33. Jahrgang · 05/ 2022 10.24053/ PM-2022-0097 Die formale Struktur einer Organisation dient der Orientierung aller Beteiligten und ist damit schon eine grundlegende Komplexitätsreduzierung. Man stelle sich nur eine größere Organisation ohne Organigramm vor, das Chaos wäre vorprogrammiert. Die Organisationswissenschaften haben seit ungefähr einem Jahrhundert diese formale Seite der Organisation sprichwörtlich in alle Einzelteile zerlegt und durchstrukturiert. In der Theorie müsste die Organisation daher reibungslos funktionieren. In den meisten Organisationen ist dies aber nicht der Fall, das weiß jeder Praktiker. Da es sich um Menschen handelt, die diese Strukturen ausfüllen, gibt es noch eine andere Seite der Organisation. Sie wird etwa seit den 80er Jahren unter dem Begriff der Organisationskultur thematisiert, aber diese Sichtweise der Kulturforscher ist für den Praktiker zu abstrakt. Neuere Sichtweisen betrachten diese andere Seite (wieder) als die informale Organisation [[2], S. 127 f.] und tasten sich dabei bis auf die Handlungsebenen vor. Darin liegt auch der Vorteil für die Praxis, denn dadurch werden Hebel sichtbar, welche die abstrakte Diskussion über Werte und Leitlinien nicht aufzeigen. Bedingt durch die Informalität der Organisation entsteht eine soziale Komplexität, die man eigentlich nicht bräuchte. Doch Mitarbeiter sind eben Menschen, und diese handeln emotional, zuweilen auch irrational. Sie haben ihre eigenen Bedürfnisse, Ziele und Motive, sie verfolgen Triebe, beispielsweise den nach Macht, sie schmieden Ränke, grenzen andere aus und schwanken in ihren Motivationen. All diese Sachverhalte zwischenmenschlichen Handelns ereignen sich in der Informalität der Organisation und sind die eigentlichen Treiber der sozialen Komplexität. Eine Führungskraft kann sich daher nicht ausschließlich um den formalen Geschäftsablauf kümmern. Im Gegenteil, sie muss Ressourcen zur Verfügung haben, um die Informalität im Griff zu haben bzw. die Mannschaft auf Kurs zu halten. Das Paradox der guten Führung Obwohl die Lehrpläne für Führungskräfte wie erwähnt großen Lücken aufweisen, gibt es in der Praxis Autodidakten, die die Informalität des ihnen unterstellten sozialen Gefüges meistern. Das kann der hemdsärmelige Meister oder die kooperationsorientierte Jungakademikerin sein. Entscheidend ist, ob es passt. Jedes soziale System hat seine Eigenheiten, die sich aus den Charakteren, den Rahmenbedingungen und auch aus der Historie ergeben. Dementsprechend reagieren soziale Systeme auch unterschiedlich auf Interventionen. Die Machtdemonstration in Form einer direkten Weisung kann in der einen Abteilung die Mitarbeiter zur Räson rufen, in einer anderen Abteilung baut sich dagegen Widerstand auf, weil beispielsweise informale Führer oder gar Cliquenstrukturen existieren. Das Wissen um die Eigenheiten des sozialen Systems und das zur Verfügung stehende Handlungsrepertoire der Führungskraft sind daher entscheidend, um soziale Komplexität im Griff zu halten bzw. um die Handlungskoordination sicherzustellen und unnötige Konflikte zu vermeiden. Versierte Führungskräfte kennen die informalen Machtstrukturen und greifen bei Bedarf ein, bevor sie ihnen über den Kopf wachsen. Im besten Fall nehmen sie sogar die Rolle des informalen Führers selbst ein. In japanischen Unternehmen wird dies sogar erwartete [[3], S. 66 ff.]. Japanische Abteilungsleiter besetzen also eine Rolle, die formal nicht definiert ist, die aber bei Unbedarftheit schnell ausgefüllt ist-- durch jemand anderen. Solche Führungskräfte steuern ihre Abteilungen nahezu geräuschlos und Außenstehende registrieren kaum, welche Führungsarbeit dort geleistet wird. Andere Abteilungen (oder Organisationen) hingegen stehen ständig im Fokus, weil es hinten und vorne hakt. Bekannte Indikatoren wie Mitarbeiterfluktuation, Krankenstandsquote oder Konflikthäufigkeit bringen solche Missstände zum Ausdruck. Versierte Führungskräfte rücken selten in den Fokus, ihre gute Arbeit findet kaum die Beachtung, die ihr gebührt-- das ist das Paradox der guten Führung [[4], S. 252 ff.]. Doch die genauere Betrachtung dieser Führungsarbeit ist essenziell, um ein Verständnis für die großen sozio-emotionalen Mechanismen zu entwickeln, die zum einen die Handlungskoordination gewährleisten, zum anderen aber auch die Komplexität eindämmen. Die vier großen Mechanismen Jene versierten Führungskräfte, wenngleich sie in der Regel aufgrund ihres Naturells Präferenzen haben, verstehen es, Macht zu dosieren, Vertrauen zu etablieren, mit Wahrheiten umzugehen und Motivation in Gang zu halten. 1. Macht Die Bedeutung der Macht im Sinne der Koordinierung innerhalb der Organisation hat über die letzten Jahrzehnte an Bedeutung verloren, wenngleich man nicht ohne den Mechanismus auskommt. Die Autokraten unter den Führungskräften sind auf dem Rückzug, nicht zuletzt, weil Macht in der westlichen Gesellschaft eine negative Konnotation hat. Doch Macht ist allgegenwärtig, es gibt auch kein Machtvakuum, denn dort, wo Machtverhältnisse nicht eindeutig definiert sind, bilden sich unweigerlich informale Machtstrukturen, die mitunter in der Tyrannei enden [[5], S. 1 ff.]. Entweder wird Macht formal verliehen oder jemand Unbefugtes eignet sie sich an. Machtverhältnisse müssen daher klug durchdacht, geregelt und verstanden sein. In früheren sozialwissenschaftlichen Betrachtungen (nach Thomas Hobbes) wurde Macht nüchtern als Tauschbeziehung betrachtet [[6], S. 27]. Menschen unterwerfen sich demnach der Macht, gestehen also einem Machthaber Machtbefugnisse zu und erhalten im Gegenzug Sicherheit, Orientierung und Entlastung. Auf den modernen organisationalen Alltag übertragen bedeutet dies, dass Mitarbeiter einen sicheren Arbeitsplatz mit regelmäßigen Lohnzahlungen erhalten und sich nicht mehr um jede Entscheidung selbst kümmern müssen. Der Chef hingegen steuert die Geschicke der Organisation und trifft (ggf. mit einem Führungsteam) weitreichende Entscheidungen, die dem Mitarbeiter nutzen. Doch es gibt auch die informale Seite der Macht, also Rollen bzw. Mitarbeiter in der Organisation, die aufgrund von Machtquellen, wie beispielsweise Wissen, Verfügungsgewalt oder auch persönlichen Eigenschaften, Macht ausüben. In einer milderen Form spricht man von Einfluss, jedoch ist auch dieser interessenbasiert und nicht immer am Organisationszweck ausgerichtet. Diese informalen Machtstrukturen machen dem Vorgesetzten oft zu schaffen, denn sie sind schwer steuerbar, zuweilen werden sie auch nicht erkannt. Das hängt mit den kognitiven Kapazitätsgrenzen der Führungskraft zusammen. Aus diesem Grunde haben Untergebene Wissen | Der Komplexität Herr werden (2) 35 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 33. Jahrgang · 05/ 2022 10.24053/ PM-2022-0097 auch immer einen Anteil an der Macht. Dieses Konzept ist in der Literatur als Unterwachung beschrieben [[7], S. 90]. Im Grunde handelt es sich dabei per se um nichts Negatives, die Führungskraft muss sich aber darüber bewusst sein, wer Einfluss auf sie ausübt und dadurch „mitsteuert“. Der Machtgebrauch will wohldosiert sein, entsprechend dem sozialen Gefüge. Übermäßiger Machtgebrauch oder gar Machtmissbrauch führen zu heftigen Gegenreaktionen. Die Vernachlässigung des Machtgebrauches kann hingegen schnell zu unkontrollierten informalen Nebenstrukturen führen, die dem Verantwortlichen über den Kopf wachsen. 2. Vertrauen Vertrauen ist der zweite Mechanismus, der eine signifikante Komplexitätsreduzierung bewirken kann, vorausgesetzt die Führungskraft versteht den Mechanismus und weiß ihn zu bedienen. Um Vertrauen kann man nicht werben, deshalb macht es auch keinen Sinn in Hochglanz-Unternehmensbroschüren darüber zu sprechen. Im Gegenteil, Vertrauen ist ein zwischenmenschlicher Mechanismus, der zerfällt, wenn er thematisiert wird. Das liegt darin begründet, dass Vertrauensbeziehungen sich ausschließlich im Unbewussten der Beteiligten abspielen. Kommt Vertrauen ins Bewusstsein liegt Zweifel oder Verdacht vor [[8], S. 29]. Vertrauen ist eine Unternehmensressource, die sich der Verantwortliche mühsam erarbeiten muss, denn die Vertrauenserweisung ist immer freiwillig. Auch Vertrauen kann als Tauschbeziehung verstanden werden. Die Vertrauenspartner bauen dabei über einen längeren Zeitraum schrittweise eine Vertrauensbeziehung auf, indem sie eigene Schwächen preisgeben. Nutzt die Gegenseite diese Schwächen nicht zu ihrem Vorteil aus, verstärkt sich das soziale Band. Und genau dieses Nicht-Ausnutzen von Schwächen, obwohl man es könnte, ist der Kern des Mechanismus. Führungskräfte, die langfristige Vertrauensbeziehungen aufbauen möchten, sind daher gut beraten sich von Launenhaftigkeit zu befreien und die Erwartungshaltungen der Mitarbeiter zu berücksichtigen. Konstanz im Handeln und Nachvollziehbarkeit im Entscheiden erwarten diese. Versteht man es den Vertrauensmechanismus zu bedienen, schafft man sich als Führungskraft eine enorme Komplexitätserleichterung. In stabilen Vertrauensbeziehungen wird nicht ständig hinterfragt, es wird nicht intrigiert. Im Gegenteil, es entsteht Verlässlichkeit. In Vertrauen zu investieren ist mühsam, Rückschläge sind dabei einzukalkulieren, denn nicht jede Person ist für den Aufbau einer stabilen Vertrauensbeziehung geeignet. So wird auch eine Führungskraft unterschiedliche Vertrauensgrade zu ihren Mitarbeitern erreichen. Nichtsdestotrotz, wenn es der Organisation durch Handeln und Vorleben gelingt, eine stabile Vertrauenskultur zu etablieren, schafft sie sich eine latente Ressource, auf die sie gerade in Krisenzeiten zurückgreifen kann, nämlich dann, wenn die Komplexität der Organisationsumwelt wirksam wird und alle verfügbaren Ressourcen benötigt werden. 3. Wahrheiten Der Begriff steht im Plural, das mag den Leser auf den ersten Blick verwirren. Doch Menschen bilden sich subjektive Wahrheiten, wenn sie die Realität nicht kennen oder wenn sie aus unterschiedlichen Gründen die objektive Wahrheit nicht annehmen wollen. Unterschiedliche Wahrheiten in einem sozialen System sind ein enormer Komplexitätstreiber und verschlingen wertvolle kognitive Ressourcen. Dazu ein Beispiel aus der Organisation: Viele Unternehmen führen eine jährliche Mitarbeiter-Leistungsbewertung durch. Das System ist im Grunde gut gemeint, Mitarbeiter sollen regelmäßiges Feedback erhalten, sich weiterentwickeln und als Anreiz Lohnzuwächse erhalten. Doch nicht immer erlaubt die wirtschaftliche Situation der Organisation den Bonus, obwohl die Leistungssituation dies verlangt. Manchen Führungskräften graut es daher regelmäßig vor dem Tag der Leistungsbewertung, wenn sie wissen, dass keine Gelder zum Verteilen zur Verfügung stehen. Als Folge werden dann Mitarbeiter schlechter bewertet, um einen Lohnzuwachs zu vermeiden. Das führt zu Vertrauensverlust und vor allem zu Frust. Der Frust führt zum kommunikativen Austausch unter den Mitarbeitern, denn über die empfundene unfaire Behandlung unterhält man sich- - ein ganz normales menschliches Verhalten. Diese Art des Austauschs verschlingt aber Ressourcen, die der Verfolgung des Organisationszwecks nicht mehr zur Verfügung stehen. Aus dem Beispiel lässt sich eine Empfehlung ableiten. Führungskräfte sollen nicht mit den Wahrheiten wechseln, sie sollten vor allem nicht versuchen jemandem eine subjektive Wahrheit aufzudrücken, der die objektive Wahrheit kennt [[9], S. 189]. Was spricht dagegen, die wirtschaftliche Notlage der Organisation zu thematisieren? Zwar wird sich ebenfalls Frust entwickeln, dieser ist aber nicht gegen den Vorgesetzten gerichtet und die Vertrauensbeziehung wird nicht beschädigt. In den letzten Jahren ist es in Mode gekommen, dass Unternehmen mithilfe von Imagebroschüren ihre Fassade aufpolieren. Für die Organisationsumwelt macht dies auch Sinn, denn schließlich steigen die Erwartungen der Gesellschaft an die Organisationen stetig. Themen wie Umweltschutz, Gesundheit oder Partizipation gibt der moderne Zeitgeist dabei vor. Organisationen können sich gar nicht so schnell entwickeln, wie die Umwelt es fordert. Darüber darf man sich keine Illusionen machen. Aus diesem Grund sind Imagebroschüren auch legitim. Sie sind eine Fassade, hinter der man den geforderten Wandel (wenn man ihn denn anstrebt) vollziehen kann. Die Mitarbeiter hinter der Fassade kennen jedoch die Realität und wissen, dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Auch hier empfiehlt es sich, offen mit den Wahrheiten umzugehen, stabile Vertrauensverhältnisse kommen damit zurecht. 4. Motivation Kaum ein Mechanismus verwirrt Führungskräfte in der Praxis mehr als die Motivation. Während der letzten Jahre wurde er als Wundermittel gepriesen, um die Mitarbeiter in ihren Handlungen zu koordinieren. Doch die Praxis sieht anders aus als gewünscht. Natürlich gibt es viele Mitarbeiter, die intrinsisch motiviert sind und nur ab und zu gelenkt werden müssen. Andere aber schwanken, erliegen einer schleichenden Demotivation oder sind generell nur schwer zu bewegen. Die Modelle der Motivationslehre, beispielsweise die Bedürfnispyramide nach Maslov, haben es nicht geschafft der Führungskraft die notwendigen Werkzeuge für die Handlungsebene an die Hand zu geben. Solche Modelle sind statisch, geben keine Antworten auf situative und intrapersonelle Unterschiede und orientieren sich meist an Bedürfnissen, Motiven oder Trieben. Wissen | Der Komplexität Herr werden (2) 36 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 33. Jahrgang · 05/ 2022 10.24053/ PM-2022-0097 Die Abstraktheit ist bis dato nicht aufgelöst und so steht der Praktiker derweilen ratlos da und grübelt darüber, wie er einen bestimmten Mitarbeiter dazu bewegen kann, seine Aufgaben zu erfüllen. Die neuere Emotionsforschung zeigt einen Ausweg aus dem Dilemma auf. Die Wissenschaft geht dazu über, Motivation und Emotion als eine Einheit zu betrachten [[10], S. 10]. Praktiker können somit viel individueller steuern, denn sie können gezielt, entsprechend dem Naturell des Mitarbeiters Emotionen erzeugen. Schließlich kennen sie die Eigenheiten der Mitglieder in dem ihnen unterstellten sozialen System. Somit kann direkt über Emotionen motiviert werden, beispielsweise über Freude, Neugier und Interesse, aber auch über Schuld und Scham. Man darf sie auch hier keine Illusionen machen, Motivation erfolgt nicht nur über die positiven Emotionen, auch die Vermeidung negativer Emotionen setzt Antriebsmotoren im Mitarbeiter in Gang. Und dies ist auch legitim. Wenn ein Mitarbeiter durch Demotivation seinen Aufgaben nicht nachkommt und die Arbeitslast dadurch auf den Schultern der Kollegen abgeladen wird, kann Scham Abhilfe schaffen (sofern der Emotionsmechanismus bei der betreffenden Person angelegt ist). Der Vorgesetzte thematisiert hierzu die leidende Kollegialität. Motivation wirkt nicht nur bilateral. Kollegialität wurde bereits erwähnt, Konformität ist ein weiterer Untermechanismus. Gelingt es der Führungskraft über das bilaterale Verhältnis hinaus Mitarbeiter motiviert zu halten, betreibt sie soziale Beeinflussung bzw. Aktivierung [[11], S. 801 ff.]. Die Mitglieder im System beeinflussen sich dann gegenseitig im Sinne des Organisationszwecks. Dann muss sich die Führungskraft nicht mehr um jeden Einzelfall kümmern und spart wertvolle kognitive Ressourcen ein- - der Stress sinkt und die eigene (subjektive) Komplexität bleibt handhabbar. Ein ständiger Balanceakt Führungsarbeit wird nie perfekt sein, sie wird auch nie enden. Betrachtet man ein soziales System als Gleichgewichtszustand, man könnte das Bild des Balanceboards verwenden, muss der Verantwortliche ständig eingreifen bzw. regulieren. Das kann ein kontinuierliches Feinregulieren sein, das kann derweilen auch ein harter Eingriff sein. Macht, Vertrauen, Wahrheit und Motivation sind dabei die vier großen Instrumente, die bei ausgewogenem Einsatz die Scheibe in Balance, d. h. das System in funktionstüchtigem Zustand halten, ohne die soziale Komplexität dabei unnötig in die Höhe zu treiben. Taumelnde Scheiben stehen für dysfunktionale Systeme, und dies bedeutet, dass die Mitarbeiter sich um vieles kümmern, nur nicht um den Organisationszweck. Meist sind es Konflikte, die die wertvollen kognitiven Ressourcen der Organisation verschlingen. Zu beachten ist dabei, dass alle vier Mechanismen bedient werden müssen, nur so kann die Balance gehalten werden. Führungskräfte, die primär auf Macht setzen, müssen damit rechnen, dass sie Vertrauen und Motivation in ihrem sozialen System unterdrücken. Führungskräfte, die Macht ablehnen, laufen Gefahr, sich eine informale Gegenmacht aufzubauen, dann tanzen ihr irgendwann die Mitarbeiter auf der Nase herum. Hieraus leitet sich auch der Kompetenzbedarf ab. Führungskräfte sollten alle vier Mechanismen beherrschen und auch verstehen, wie die vier miteinander in Beziehung stehen. Nur der ausgewogene Einsatz schafft letztendlich ein ausbalanciertes System, dass seine Ressourcen der Organisation zuwendet und sich nicht mit sich selbst beschäftigt. In Gang setzen der Mechanismen Wie werden nun die großen sozio-emotionalen Mechanismen in Gang gesetzt bzw. gehalten? Dazu muss man eine Stufe tiefer auf die Handlungsebene gehen. Die Mechanismen werden über die Strategischen Prinzipien bedient, die die klassische Strategielehre bereithält. Dazu ein prägnantes Beispiel, das jede Organisation betrifft: Das Prinzip Respekt der Regeln steht sehr eng mit dem Vertrauensmechanismus in Verbindung. Führungsverantwortliche sollten es danach vermeiden, die Regeln, die innerhalb eines Systems für alle Mitglieder gelten, zu brechen, denn sie haben Vorbildfunktion. Nichts zerstört Vertrauen mehr als eine Führungskraft, die Forderungen an Mitarbeiter stellt, diese aber selbst nicht erfüllt. Dann entsteht Doppelmoral. Ein konkreter Fall sind steigende Managergehälter in Krisenzeiten, während von den Mitarbeitern Lohnverzicht gefordert wird. Ein Strategisches Prinzip, das vornehmlich den Motivationsmechanismus in Gang setzt, ist Leistung durch Not. Um beim Krisenfall zu bleiben-- wenn die Organisation real in ihrer Existenz bedroht ist, empfiehlt es sich diesen Druck an die Mitarbeiter weiterzureichen. Dadurch entstehen die Emotionen Angst und Sorge, welche informale Leistungspotentiale [[12], S. 307 ff.] freisetzen können, die der Organisation aus der Krise helfen. Es ist wichtig, dass dieses Prinzip tatsächlich nur im realen Krisenfall zur Anwendung kommt, denn wenn man das Prinzip ständig einsetzt und damit die Mitarbeiter in einer permanenten Angst hält, kippt irgendwann auch das System. Ein letztes Beispiel zum Krisenfall: Organisationen stehen zuweilen in der Gefahr, Leistungsträger in der Krise zu verlieren, da sie sich möglicherweise wegbewerben. Für die Organisation ist dies fatal, denn der Weggang verschärft die Situation weiter. In solchen Fällen kann das Prinzip Intransparenz helfen. Es setzt den Wahrheitenmechanismus in Gang, genauer gesagt, es verschweigt Teile der harten Realität und erzeugt eine subjektive Wahrheit beim Gegenüber. Der Einsatz dieses Prinzips funktioniert auch nicht zeitlich unbegrenzt, es kann aber dem Management wertvolle Zeit verschaffen, um im Hintergrund Missstände beheben zu können, ohne dass das soziale System in Aufregung gerät und sich selbst lähmt. Ein letztes Beispiel soll die Motivation und zugleich das Vertrauen betrachten. Setzt man Vertrauen in gewisse Mitarbeiter und fördert sie zudem, entstehen logischerweise auch Erwartungshaltungen an sie. Man sollte sich mit dem jeweiligen Charakter gut auseinandersetzen, denn man steuert in diesem Fall über die Emotion Schuld. Diesen Mechanismus sollte man auf keinen Fall überdehnen, denn Menschen reagieren unterschiedlich darauf. Der eine empfindet eine Verpflichtung, der andere fühlt sich ausgenutzt, ein dritter fühlt sich irgendwann überlastet, wenn der Vorgesetzte die Grenzen der Forderungen nicht erkennt. Aus der Pflicht entlassen ist ein Strategisches Prinzip der Prävention. Danach entlässt der Vorgesetzte den Mitarbeiter aus der Schuld und erhält sich damit Vertrauen und Motivation. Beides würde nämlich beschädigt werden, wenn er kontinuierlich über Schuld weitersteuern würde. Wissen | Der Komplexität Herr werden (2) 37 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 33. Jahrgang · 05/ 2022 10.24053/ PM-2022-0097 Die zentrale Fragestellung Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen lässt sich nun erklären, wie eine Organisationsleitung große, komplexe soziale Systeme steuern kann, ohne mit jedem Individuum in direktem Kontakt zu stehen, also wenn die Grenzen der bilateralen Interaktion überschritten sind. Die vier großen Mechanismen werden durch das Verhalten des Managements, genauer gesagt durch kluge Anwendung von Strategischen Prinzipien in Gang gesetzt und gehalten. Durch die vielfältigen Interaktionen der Mitglieder des Systems breiten sie sich im sozialen Gefüge aus und wirken. Schafft es die Organisationsleitung, eine förderliche Organisationskultur aufzubauen und zu unterhalten, reduziert sie damit unnötige soziale Komplexität. Sie wirkt damit auch präventiv und baut sich ein stabiles soziales Gefüge auf, das gerade in Krisenzeiten vonnöten ist. Dann nämlich, wenn die formale Struktur der Organisation ausgereizt ist, kann auf die bereits erwähnten informalen Leistungspotentiale zurückgegriffen werden, die in erhöhter Leistungsbereitschaft, Kollegialität und Kooperationsbereitschaft zum Vorschein kommen. Hat eine Organisationsleitung hingegen die ausgewogene Balance nicht gefunden, bleiben ihr die informalen Leistungspotentiale verschlossen. Dann kommen in Machtkulturen Widerstand und Misstrauen auf, in anarchischen Kulturen (Machtvakuum) stellt sich Orientierungslosigkeit ein und in motivationsdominierten Kulturen entsteht Demotivation, da eine notwendige Frustrationstoleranz nicht aufgebaut wurde. Es erklärt sich auch von selbst, dass Hochglanz-Unternehmensbroschüren keine stabile Organisationskultur schaffen können. Das geschriebene Wort, auch wenn die Stilistik noch so ausgefeilt ist, kann dem konsequenten Vorleben der Leitung nicht das Wasser reichen. Organisationskulturen werden von innen heraus geschaffen, über unzählige tagtägliche Interaktionen. Die Verarbeitung erfolgt dabei über die unbewussten Ebenen der Organisationsmitglieder. Die bewusste Auseinandersetzung mit dem Thema führt zu Zweifel, und so gilt auch hier der Grundsatz: Je mehr drüber geredet wird, desto weniger ist es vorhanden. Über stabile soziale Strukturen redet man nicht, man registriert sie und fördert sie durch vorbildliches Handeln. Dies ist die ureigene Aufgabe der Führungskraft bzw. des gesamten Managements- - die Erzeugung eines stabilen sozialen Systems und damit verbunden die Vermeidung unnötiger sozialer Komplexität. Diese Aufgabe kann auch nicht delegiert werden, schon gar nicht an Externe. Führungskräfte sollen Konflikte vermeiden und nicht selbst welche produzieren. Kollateralschäden des Führens sind nicht selten, sie entstehen immer dann, wenn man die Balance aus dem Auge verliert und sich (nur) auf einen der vier Mechanismen konzentriert. Stabile soziale Systeme sind daher das Ergebnis kluger Führungsarbeit. Und leider wird diese Führungsleistung selten erkannt, denn sie geht geräuschlos vonstatten und erfährt dadurch kaum Aufmerksamkeit. Literatur [1] Vahs Dietmar; 2003; Organisation; 4. Auflage; Schäffer Poeschel Verlag Stuttgart [2] Kühl Stefan; 2011; Organisationen; VS Verlag für Sozialwissenschaften Wiesebaden [3] Schneidewind Dieter; 1991; Das japanische Unternehmen; Springer Verlag Berlin [4] Maier Gunter; 2022; Die Unsichtbare Handschrift der Strategie; BOD Norderstedt [5] Freeman Jo; 1972; The Tyranny of Structurelessness; jofreemann.com [6] Anter Andreas; 2020; Theorien der Macht; 5. Auflage; Junius Verlag Hamburg [7] Luhmann Niklas; 2016; Der neue Chef; 2. Auflage; Suhrkamp Frankfurt am Main [8] vgl. Luhmann Niklas; 2014; Vertrauen; 5. Auflage; UVK Verlag München [9] Maier Gunter; 2022; Die Unsichtbare Handschrift der Strategie; BOD Norderstedt [10] Rudolph Udo; 2003; Motivationspsychologie; Beltz Verlag Weinheim [11] Grabowski Joachim (Hrsg.); 2007; Atkinsons und Hilgards Einführung in die Psychologie; 14. Auflage; Springer Verlag Berlin [12] Luhmann Niklas (1); 1964; Funktionen und Folgen formaler Organisation; Duncker & Humbold Berlin Eingangsabbildung: © iStock.com / dem10 Gunter Maier Gunter Maier, Betriebswirt, Sozialwissenschaftler und Senior Projektmanager, war lange Jahre Leiter der Aus- und Weiterbildung in einem internationalen Konzern. Heute forscht er freiberuflich im Bereich der informellen Bildung, im Besonderen zu Leadership Development. Drei anerkannte Lehrbücher hat er bereits veröffentlicht. Die „Unsichtbare Handschrift der Strategie- - Die Steuerung komplexer sozialer Systeme“ ist kürzlich erschienen. Zudem veröffentlichte er einen dystopischen Strategieroman. eMail: strategische-prinzipien@mail.de Xing: xing.to / GunterMaier
