PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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UVK Verlag Tübingen
10.24053/PM-2023-0054
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GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.Das Dilemma unserer Zeit
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Christian Bernert
Ein Dilemma gemäß Duden, bedeutet eine „Zwangslage, eine Situation, in der sich jemand befindet, besonders wenn er zwischen zwei in gleicher Weise schwierigen oder unangenehmen Dingen wählen soll oder muss“. Dilemmata sind in Krisenzeiten alle damit verbundenen und erforderlichen Handlungsentscheidungen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen – ob wir wollen oder nicht.
Der Krieg in der Ukraine, Flüchtlingsströme, Pandemie und Klima bedingte Katastrophen, erhöhen nicht nur die Ungewissheiten, Komplexität und unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten, sondern erzeugen auch Zukunftsängste.
Die schiere Summe der Ereignisse, die schnelle Entscheidungen erfordern, ohne mögliche Konsequenzen wirklich abwägen zu können? Immer auf der Hut zu sein, dass die Ereignisse nicht an einem vorbeirauschen. Was sind die möglichen Auswege?
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53 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 34. Jahrgang · 03/ 2023 DOI 10.24053/ PM-2023-0054 Das Dilemma unserer Zeit Christian Bernert Für eilige Leser | Ein Dilemma gemäß Duden, bedeutet eine „Zwangslage, eine Situation, in der sich jemand befindet, besonders wenn er zwischen zwei in gleicher Weise schwierigen oder unangenehmen Dingen wählen soll oder muss“. Dilemmata sind in Krisenzeiten alle damit verbundenen und erforderlichen Handlungsentscheidungen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen-- ob wir wollen oder nicht. Der Krieg in der Ukraine, Flüchtlingsströme, Pandemie und Klima bedingte Katastrophen, erhöhen nicht nur die Ungewissheiten, Komplexität und unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten, sondern erzeugen auch Zukunftsängste. Die schiere Summe der Ereignisse, die schnelle Entscheidungen erfordern, ohne mögliche Konsequenzen wirklich abwägen zu können? Immer auf der Hut zu sein, dass die Ereignisse nicht an einem vorbeirauschen. Was sind die möglichen Auswege? Schlagwörter | Agile Management, Dilemmata, Fehlererlaubniskultur, Gestaltungsprozess, Handlungsentscheidungen, Kreativität, Resilienz, Ungewissheiten Einleitung / Motivation Die Summe der Ereignisse und Krisen mit weitreichenden Auswirkungen verursachen in der Politik, Gesellschaft, in Organisationen und Unternehmen spürbare Verunsicherung. Auch wenn sich die Mehrzahl der Akteure bewusst ist, dass wir vor den größten Herausforderungen unserer Zeit stehen, so sind wir uns noch nicht völlig im Klaren, welche Weichenstellungen die richtigen sein werden. Zwar gibt uns die Wissenschaft klare Ziele vor, auf welche Kipppunkte wir beispielsweise beim Thema Klima zu achten haben, um keine Unumkehrbarkeiten zu verursachen. Dennoch haben wir noch nicht zu einem mehrheitlich akzeptierten gesellschaftlichen Konsens gefunden, den wir so dringend benötigen würden, um uns nicht zu verzetteln. In einer Phase gesellschaftlicher Interessenspaltung, fällt es noch schwerer die notwendigen Handlungen konsequent einzuleiten und zu verfolgen. Paradoxerweise sind aber gerade in solchen Zeiten immer häufiger schnelle Entscheidungsfindungen gefragt, mit der Folge, dass die Entscheidungsträger buchstäblich zwischen zwei Stühlen sitzen. Eine schnelle Entscheidung treffen, ohne sich der möglichen Konsequenzen zu einhundert Prozent sicher zu sein? Oder so lange zu warten und diskutieren, bis eine weitgehend sichere Entscheidung möglich erscheint-- dabei jedoch zu riskieren, dass die Ereignisse auf der Überholspur an uns vorbei rauschen? Ja, das ist ein Dilemma! Auswirkungen von Dilemmata Dilemmata umspannen die Politik, ganze Disziplinen, Fachbereiche und Branchen. Sie vereiteln elegante und endgültige Lösungen. Dilemmata sind: • fast unlösbar, • immer komplex, • oft bedrohlich, • anfangs rätselhaft und verwirrend. Dilemmata verlangen vor allem Anpassung und neue agile Management Methoden, vor allem auch bei Entscheidungsprozessen. Sich aus Dilemmata zu befreien, erfordert zusätzlich aber auch Geduld, Sinnstiftung und die ernsthafte Auseinandersetzung mit den wirklichen Kernphänomenen. Dilemmata dürfen nicht ignoriert werden! Dilemmata finden wir an allen Ecken und Enden. Sie sehen je nach Betrachtungswinkel unterschiedlich aus- - Menschen nehmen Dilemmata auch individuell unterschiedlich wahr, oft geprägt durch persönlicher Wertehaltungen, persönlicher Betroffenheit sowie individuellem Knowhow und Erfahrungs- Wissen | Das Dilemma unserer Zeit 54 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 34. Jahrgang · 03/ 2023 DOI 10.24053/ PM-2023-0054 wissen. Alle diese Dilemmata können praktisch universell als „Lösungskiller“ vorgefunden werden. Wie sind wir in die Dilemmata hineingeschlittert und welche Handlungsoptionen bestehen? Dilemmata in der Politik Nun, eine sich über Jahrzehnte immer verfeinernde und sich weiter ausprägende Gesetzgebung hat meines Erachtens vielfach zu einer sich daraus ergebenden Verschleppung von Genehmigungsverfahren geführt, weil dadurch auch den Prozessparteien stärkere Einwirkungsmöglichkeiten in die Hand gegeben wurden. Selbstverständlich sind nicht alle Gesetzesnovellierungen negativ zu bewerten. Gleichzeitig hätte aber auch eine Entrümpelung veralteter gesetzlicher Vorgaben stattfinden müssen. Doch wegen der Komplexität bestehender Gesetze besteht die Angst noch größere Unsicherheiten zu schaffen, wenn man Gesetze entschärft oder gar entfallen lässt. Und die falsche Konsequenz bestünde darin, aus Angst, hier könnte Schaden entstehen, alles so belassen wie es ist! Die Politik muss endlich den Mut aufbringen, Gesetze zu entrümpeln, indem man diese vorerst außer Kraft setzt und prüft ob überhaupt Schaden entsteht! Dilemmata in Unternehmen / Organisationen Die sich über Jahrzehnte verfeinernden Prozesse eines Unternehmens, einer Organisation (auch bedingt durch die QM- und TQM-Standards) hat meines Erachtens vielfach zu sehr engen Korsetts geführt, weil dadurch auch den Prozessbeteiligten kaum noch Spielräume in die Hand gegeben wurden. Zudem haben zu kleinteilige Prozesse auch zur Abschottung von Verantwortungsbereichen geführt und das kognitive Miteinander zumindest nicht gefördert. Selbstverständlich werden Prozesse benötigt, aber jeder Verantwortliche muss sich die Frage stellen, mit welcher Granularität für welchen Anwendungsbereich. Gerade wegen der Komplexität eingeübter Prozesse besteht die Angst (zumindest für die QM-Zertifizierungen) noch größere Unsicherheiten (z. B. ob man die nächste QM-Zertifizierungen, anstandslos besteht) zu schaffen, wenn man Prozesse aufweicht oder zu viele Spielräume offenlässt. Offensichtlich aus Sorge, hier könnte Schaden entstehen, belässt man lieber alles so, wie es ist! Für einen Ausweg benötigt es Mut zu haben, Prozesse zu verschlanken, oder zumindest diese nicht bis auf Ereignis gesteuerte Prozesskettenebene, um jeden Preis zu modellieren. Dabei muss gründlich differenziert werden zwischen Serienfabrikation-, Semiserien- und anderseits Organisations- und gesellschaftlichen Prozessen! Um die vor uns stehenden Herausforderungen zielgerichtet anpacken zu können, wird es darauf ankommen die jeweils richtige und erforderliche Prozesstiefe auszuloten, um die notwendigen Handlungsspielräume nicht frühzeitig und unnötigerweise abzuwürgen! Fehlererlaubniskultur Für alle diese Dynamiken, die uns herausfordern, benötigen wir ein generelles Umdenken. Eine Transformation, die in unser Bewusstsein Einkehr hält, dass bisher gewohnten Abläufe sich mit einer Dynamik verändern, die uns ein gründliches Vorausdenken und eine damit einhergehende Prozessdurchdringung nicht mehr erlaubt. Vielmehr sind wir gefordert bereits auf Basis von Hypothesen und Annahmen mit Umsetzungsmaßnahmen zu beginnen, ohne diesen Umsetzungsprozess gründlich auf Tauglichkeit hin, wie bisher gewohnt, analysieren zu können. Ja, um es ganz hart auszusprechen wir müssen bereit sein, auch fehlerhafte Wege zu beschreiten. Dafür müssen wir jedoch Werkzeuge bereithalten, die uns frühzeitig ermöglichen eine Umkehr einzuleiten. Zusätzlich benötigen wir eine Fehlerkultur des Mutes aber auch der Einsicht, um aus begangenen Fehlern frühzeitig zu lernen und fehlerhafte Pfade frühzeitig mutig zu verlassen. Es bedarf einer Fehlererlaubniskultur, die Mutige nicht abschreckt, sondern Ihnen hilft rechtzeitig einen Ausgang oder Umweg aus einem eingeschlagenen Irrweg zu finden. Demokratisierung und Flexibilisierung von Unternehmen und Organisationen Wenn sich jeder in der Organisation befähigt fühlt oder befähigt fühlen soll, Entscheidungen zu treffen, die Veränderungen beeinflussen können, dann entsteht eine spürbare Energie: Menschen neigen dazu, härter zu arbeiten, mehr Ideen anzubieten und sich viel mehr in den Gestaltungsprozess mit einzubringen. Wenn Mitbestimmungs-Aktivitäten jedoch durch Mikromanagement oder unantastbare Top-down-Entscheidungen konterkariert werden, läuft eine Organisation Gefahr, dass die gesamte Veränderungs-Energie verpufft. Damit jedoch andererseits kein hektisches, unkoordiniertes und unabgestimmtes Gewusel entsteht, wenn jede Person mitbestimmen kann, sind klare, unmissverständliche und für alle geltenden Regeln (vom Pförtner bis zum Top-Management) unabdingbar. Nur so kann ein drohendes Dilemma in Organisationen verhindert werden. Fähigkeitsentwicklung vs. Ergebnisdruck Der Zustand unserer Welt erfordert signifikante Veränderungen in der Arbeitsweise einer Organisation. Damit verbunden ist konsequenterweise immer auch der stete Erwerb neuer Kompetenzen, um Fähigkeitslücken zu schließen. Demgegenüber steht jedoch der Druck, sofortige und vor allem messbare Ergebnisse zu liefern. Dieser Druck ist oft so groß, dass sich eine Organisation gezwungen sehen kann, zwischen Ergebnisdruck und Fähigkeitsentwicklung zu entscheiden-- vor allem dann, wenn eine Organisation kalt und unvorbereitet von diesen Zwängen eingeholt wird. Gerade die konsequente Schwerpunktverlagerung von Qualifikation und Change-Begleitung fällt den meisten Organisationen am schwersten. Kreativität vs. Disziplin Kreativität ist eine elementare Kernkompetenz, um mit den versteckten Dilemmata agil umgehen zu können. Damit sich Kreativität frei entfalten kann, braucht es die entsprechenden Arbeitsumgebungen. Flexibilität und New Work sind hier bereits bekannte Schlagwörter, die in diesem Kontext keine bloßen Lippenbekenntnisse bleiben dürfen. Gleichzeitig befinden sich „die Kreativen“ immer noch in einem Organisationsumfeld, das in vielen Fällen hierarchisch ist und manchmal auch Wissen | Das Dilemma unserer Zeit 55 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 34. Jahrgang · 03/ 2023 DOI 10.24053/ PM-2023-0054 bleiben muss. Hierarchien funktionieren durch Disziplin-- und auch Kreativität bedarf der Disziplin, damit aus den Ideenfindungen möglichst schnell handfeste Innovationen werden können. Kreativität und Disziplin schließen sich daher nicht aus- - doch der Spannungsbogen zwischen diesen Extremen kann individuell schwer belastend empfunden werden. Führungskräfte stellt das Managen von Disziplin einerseits und das Managen von Kreativität andererseits vor neue Herausforderungen, die vor allem in Konflikt- und Stresssituationen coachend gemeistert werden wollen. Die Hausforderung besteht darin, sich der „Lösungskiller“ anhand der folgenden Fakten zu entledigen: 1. Die „Kopf-in-den-Sand stecken“-Methode führt jede Organisation in den Ruin. 2. Ein Beharren und Verharren auf bisherigen Standpunkten und Meinungen verhindert Agilität. Ein Dilemma ist deshalb eine Zwangslage, weil die Situation für uns völlig neu ist, Erfahrungswissen fehlt und die Folgen nicht abschätzbar sind. Es fällt schwer, aber wir müssen „alte“ Denk- und Handlungsmuster abstreifen. 3. Eine Schmerz- und konfliktfreie Lösungsfindung bleibt ein Traum. 4. Lösungsfindungen erzeugen nie das Gefühl der Vollkommenheit- - zumindest so lange nicht, bis die Ausgangssituation, durch die dieses Dilemma entstand, nicht hinreichend aufgelöst ist. Erst dann und nur dann sind Optimierungen möglich und sinnvoll. Bis dahin müssen sich alle Beteiligten darüber im Klaren sein, dass sie • strategische Resilienz vereinbaren müssen über die Einigkeit bestehen muss, • gleichzeitig, aber flexible, dezentrale Netzwerke, Arbeitsgruppen, Wissens-Hubs einberufen müssen, um an den Problemstellungen langfristig weiterzuarbeiten, • Kompromisse eingehen müssen zwischen kurzfristigen Ergebnissen und der Umsetzung grundlegender Veränderungen, • Unsicherheiten annehmen und akzeptieren müssen, • alle lernen müssen ihrer Intuition, dem Bauchgefühl zu vertrauen und • zuletzt ist Kooperation und hybrides, mehrdimensionales Lernen gefragt. Der aus neurowissenschaftlicher Sicht entscheidende Punkt ist jedoch, dass wir in einem Dilemma den Erfolg von der Notwendigkeit entkoppeln, eine Lösung zu finden. Das bedeutet einen Paradigmenwechsel im bisherigen Denken und Handeln. Bisher haben wir die Erwartungshaltung genährt, dass auf ein Problem immer auch eine Lösung, und zwar unmittelbar folgt. Wir müssen uns vor der Illusion hüten, zu denken, dass wir Dilemmata unterbinden könnten, indem wir lineare, unmittelbare Lösungen finden. Wir werden meistens nur über Umwege, nicht über den direkten Weg und damit nicht flugs zum Erfolg finden. Wichtig ist daher, eine strategische Resilienz zu formulieren und Einigkeit zu erzielen bei der Frage, wie das Ziel, die Welt / die Situation aussehen soll, wenn das Dilemma gelöst ist. An dieser Stelle bereits einen Erfolg in Form einer klaren Lösung zu erwarten ist nicht nur fahrlässig und falsch, sondern maßlos überfordernd für alle Beteiligten. Warum? Weil es zum Lösen eines Dilemmas Zeit braucht, die richtigen Umwege gefunden sein wollen und dazu Expertenwissen gefragt ist-- wobei der Weg zur Lösung immer getreu dem Motto „try and error“ folgen wird. Das bedeutet: Nicht nur reden, sondern mutig in überschaubaren Schritten Handeln, versuchen, ausprobieren- - mit anderen Worten: Lean Management vom Feinsten. Organisationen, die eine Ausgewogenheit zwischen diesen gegensätzlichen Polen schaffen, sind eher in der Lage, mit den Dilemmata umzugehen und werden dadurch erfolgreiche Resilienz Strategien umsetzen, die Bestand haben. Eingangsabbildung: © iStock.com / mmac72 Christian Bernert Christian Bernert ist Direktor der Lean Program Management Academy und mit über 40-jähriger Berufserfahrung Prinzipal in den Bereichen Lean Management und Project Management. Aktuell erweitert er die Bausteine um das ESG-SDG Assessment, um vor allem KMUs den Einstieg in eine nachhaltige Unternehmensführung zu erleichtern. Zudem ist er gefragter Experte bei Konsultationen im BMWI zum Thema nachhaltige Beschaffung mit dem Schwerpunkt Digitale Souveränität. E-Mail: c.bernert@lpm.academy Internet: www.lpm.academy https: / / orchid.org/ 0000-0002-5869-5146
