eJournals PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL 34/3

PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
pm
2941-0878
2941-0886
UVK Verlag Tübingen
10.24053/PM-2023-0055
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/71
2023
343 GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.

DAS Projektmanagementkontinuum

71
2023
Martin Barth
Jonas Reidick
Margit Sarstedt
Jeder, der sich mit den Methoden des Projektmanagements befasst, wird schnell feststellen, dass im Laufe der Jahre eine verwirrende Vielfalt von Projektmanagementmethoden entstanden ist. Aufsetzend auf einer an der IU Internationale Hochschule entstandenen Masterarbeit haben die Autoren sich mit der Entwicklung eines generischen Modells befasst, welches eine erste theoretisch fundierte und gleichzeitig praxistaugliche Strukturierung dieser Vielfalt bietet. Dies erfolgt zunächst durch Einführung des Agilitätsgrads als Abgrenzungskriterium zwischen einzelnen definierten Basismethoden des Projektmanagements. In einem zweiten Schritt wird mit der Definition einer zweiten Dimension – Freiheitsgrad der methodischen Abweichung – ein dem realen Projektgeschehen inhärenter Aktionsraum geschaffen, der sich für jede gewählte Basismethode individuell entfaltet. Hieraus ergibt sich ein situativer Ansatz für das Projektmanagement, den die Autoren mit ihrem Modell des situativen Projektmanagementkontinuums zugänglich machen.
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56 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 34. Jahrgang · 03/ 2023 DOI 10.24053/ PM-2023-0055 DAS Projektmanagementkontinuum Martin Barth, Jonas Reidick, Margit Sarstedt Für eilige Leser | Jeder, der sich mit den Methoden des Projektmanagements befasst, wird schnell feststellen, dass im Laufe der Jahre eine verwirrende Vielfalt von Projektmanagementmethoden entstanden ist. Aufsetzend auf einer an der IU Internationale Hochschule entstandenen Masterarbeit haben die Autoren sich mit der Entwicklung eines generischen Modells befasst, welches eine erste theoretisch fundierte und gleichzeitig praxistaugliche Strukturierung dieser Vielfalt bietet. Dies erfolgt zunächst durch Einführung des Agilitätsgrads als Abgrenzungskriterium zwischen einzelnen definierten Basismethoden des Projektmanagements. In einem zweiten Schritt wird mit der Definition einer zweiten Dimension-- Freiheitsgrad der methodischen Abweichung-- ein dem realen Projektgeschehen inhärenter Aktionsraum geschaffen, der sich für jede gewählte Basismethode individuell entfaltet. Hieraus ergibt sich ein situativer Ansatz für das Projektmanagement, den die Autoren mit ihrem Modell des situativen Projektmanagementkontinuums zugänglich machen. Schlagwörter | Projektmanagementmethoden, Projektmanagementmodell, klassisches Projektmanagement, hybrides Projektmanagement, agiles Projektmanagement, situatives Projektmanagement, methodisches Projektmanagementkontinuum, situatives Projektmanagementkontinuum GLASKLAR UNKLAR-- Vorgehensweisen und Methoden des Projektmanagements Das Projektmanagement hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einer wichtigen Form des Managements entwickelt und ist heutzutage in nahezu allen Unternehmen und Organisation auf die ein oder andere Art anzutreffen. Dabei gibt es eine unübersichtliche Vielzahl von Verfahren und Methoden des Projektmanagements, welche sich zudem von Projekt zu Projekt unterscheiden können. Gleichzeitig werden die Methoden in der Praxis adaptiert und unterschiedlich angewendet. Dies kann leicht zu Verwirrung der Beteiligten im Projekt führen. [1] Im Einklang mit gängiger wissenschaftlicher Literatur lassen sich grundsätzlich drei Methodenkategorien des Projektmanagements unterscheiden. Die formal klassischen (traditionellen) Methoden, die formal agilen sowie die formal hybriden Projektmanagementmethoden. Die formal klassischen Methoden sind vorrangig planbzw. phasen-„getrieben“, eignen sich also gut für stringent planbare Vorhaben. Schließen lässt sich dies bereits aus der inhärenten Bedeutung des Wortes klassisch- - wie konventionell, planbasiert oder traditionell. Die klassische Vorgehensweise war die erste formale Form des Projektmanagements und wird häufig mit starren Vorgehensmodellen wie dem Wasserfallmodell oder PRINCE2 sowie mit dem Einsatz von Techniken wie den Balkenplänen oder der Netzplantechnik gleichgestellt. Tatsächlich jedoch geht das klassische Projektmanagement über diese Auffassung hinaus. Vielmehr geht es dabei um einen planbasierten Projektablauf, welcher zu Beginn mit umfangs-, zeit- und kostenbezogenen Zielen versehen wird und Pläne zu deren Erreichung aufgestellt werden. [2] Die formal agilen Projektmanagementmethoden sind vorrangig in Projekten zielführend einsetzbar, in denen das Projektziel und die Ausgestaltung dessen, erst im Projektverlauf konkretisiert werden kann. Grund dafür ist, dass wesentlicher Erkenntnisgewinn durch den Projektfortschritt sowie durch Kundenfeedback zu Adaptionen des Sachziels führt und die Fähigkeit zu interoperabler Zusammenarbeit erfordert. Das Wort agil hat in den 70er Jahren im Rahmen der Softwareentwicklung Einzug in das Projektmanagement gehalten. Agil bedeutet so viel wie „von großer Beweglichkeit zeugend; regsam und wendig“. [3] Synonyme des Wortes Agilität sind Gewandtheit, Vitalität und Wendigkeit. Diese Beschreibungen lassen sich auch in den Definitionen von agilem Projektmanagement wiederfinden. Die Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement definiert das agile Projektmanagement als: „die Fähigkeit, relevante Trends erkennend und Veränderungen antizipierend, proaktiv die Organisation so auszurichten, dass sie optimal ergebnisfähig ist“. [4] Wissen | DAS Projektmanagementkontinuum 57 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 34. Jahrgang · 03/ 2023 DOI 10.24053/ PM-2023-0055 Hybride Projektmanagementmethoden sind die neuste formale Form der methodischen Palette. Dabei stammt das Wort hybrid aus dem altgriechischen (Hybris- - Hochmut, Übertretung der gottgegebenen Naturordnung) und bedeutet bildungssprachlich hochmütig, überheblich und vermessen. In der Fachsprache hingegen, wird es dabei definiert als „aus Verschiedenartigem zusammengesetzt, von zweierlei Herkunft; gemischt; zwitterhaft“. [5] Die Idee formal hybrider Projektmanagementmethoden geht eher auf die zweite Beschreibung der Wortbedeutung zurück, denn formal hybride Methoden entstehen aus der Synthese zweier oder mehrerer einzelner Projektmanagementmethoden. Dabei werden ausgewählte Projektphasen oder Teilprojekte sequenziell mit unterschiedlichen Methoden abgewickelt und / oder es erfolgt eine kontinuierliche Integration der methodischen Vorgehensweisen. Relativ bekannte Beispiele hybrider Projektmanagementmethoden sind Prince2 Agile oder Water-Scrum-Fall. Grundsätzlich basiert die Disziplin des Projektmanagements auf drei Wissensebenen- - der operativen Ebene, der konzeptionellen Ebene und der wissenschaftlichen Ebene. Bei der operativen Ebene geht es um die Realisierung konkreter Projekte und die kreative Anwendung der konzeptionellen Methoden. Die konzeptionelle Ebene ist verantwortlich für unternehmensübergreifende und normierte Verfahren und Standards (PMBOK, DIN…). Bei der wissenschaftlichen Ebene geht es darum, Wissen zu erzeugen, dieses zu objektivieren und zu systematisieren. [6] Alle drei Ebenen entwickeln systematische Ansätze und Vorgehensweisen, um den Erfolg des Projektmanagements zu maximieren. An der Schnittstelle der konzeptionellen und der operativen Ebenen sind zudem eine Vielzahl von Anbietern aktiv, welche neue bzw. einzelne Methoden des Projektmanagements kommerzialisieren und vertreiben. Weiterhin erfindet gefühlt jede zweite Arbeitsgruppe ihren vermeintlich eigenen Methodenmix oder eine spezifische innerbetriebliche Lösung und gibt diesem Vorgehen dann einen weiteren, neuen Namen. Das Problem der verschiedenen Entwicklungsebenen ist allerdings nicht ausschließlich auf die Vielzahl der Modelle, deren individuelle Namensgebungen und deren immanenter Vorgehensweisen zurückzuführen, vielmehr wird verkauft, dass es DIE perfekte Methode des Projektmanagements zur Lösung ALLER Probleme gibt. Das Resultat dieser Entwicklungen ist eine Vielfalt an Vorgehensmodellen und Methoden, welche zu einer allseitigen Verwirrung geführt haben. Dies zeigt sich einerseits bei der oft fragwürdigen oder inkorrekten Verwendung von Begrifflichkeiten, anderseits in der falschen oder zumindest unglücklichen Methodenwahl in der Praxis. FATA MORGANA-- DAS klassische und DAS agile Projektmanagement Festzuhalten bleibt demnach, dass es derzeit keinen generischen wissenschaftlichen Ansatz gibt, wie aus diesem methodischen Irrgarten zweckmäßige Vorgehensweisen abzuleiten sind. Diesem Gedanken folgend existieren auch keine grundsätzlich herleitbaren praktischen Lösungen, denn letztendlich muss es doch das Ziel der Projektmanagementmethodologie sein, den Erfolg in der Praxis für das spezifische Projekt, für die individuelle Projektart sowie für die tatsächliche Projektsituation sicherzustellen. Die Autoren erläutern in diesem Beitrag, warum es ein theoretischer und praktischer Irrweg ist, dem Stein der Weisen, also DER perfekten Projektmanagementmethode, weiter nachzujagen. Vielmehr plädieren die Autoren, mit dem nachfolgenden neu eingeführtem methodischen Projektmanagementkontinuum, dafür, die theoretisch abgrenzbaren, bestehenden Projektmanagementmethoden gezielt auf der kontinuierlichen Skala des Agilitätsgrads zu verorten und darüber hinaus auf weitere- - wenig förderliche- - Neuschöpfungen als heilsbringende, generische Zwischenlösungen zu verzichten. Basis des eindimensionalen methodischen Projektmanagementkontinuums (siehe Abbildung 1) ist die Annahme, dass sich die Projektmanagementmethoden nach der zu lösenden Zielstellung und des hierfür erforderlichen anwendungsorientierten Agilitätsgrads ordnen lassen. Hierbei wird das Modell durch DAS KLASSISCHE Projektmanagement auf der einen Seite und durch DAS AGILE Projektmanagement auf der anderen Seite begrenzt. Diese Extremata sind nicht als Methoden, sondern als theoretische Gesamt-Konstrukte von methodischen Vorgehensweisen, über das zugrundeliegende Mindset bis hin zu deren inhärentem Führungsverständnis, zu verstehen. In der praktischen und wildbewegten Realität ist allerdings keines dieser beiden Extremata tat- Abbildung 1: Das methodische Projektmanagementkontinuum Wissen | DAS Projektmanagementkontinuum 58 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 34. Jahrgang · 03/ 2023 DOI 10.24053/ PM-2023-0055 sächlich umsetzbar. [7] DAS klassische Projektmanagement ist nie durchgängig erreichbar, da schon kleinere Probleme oder ungeplante Situationen im Projektablauf eine schnelle und flexible Lösung, sowie zumindest die Adaption kurzfristiger Pläne, erfordern. Allein hierdurch ist ein erstes Abweichen vom 100 %-klassischen Weg vorhanden. Auch DAS agile Projektmanagement mit immer wieder proklamierter Heterarchie ist in der Praxis unmöglich zu erreichen. Bereits bei Unternehmensgründung werden teilweise schon durch die Rechtsformwahl (AG, GmbH, Genossenschaft etc.) Organisationseinheiten und hierarchischen Strukturen (Vorstand, Aufsichtsrat, Geschäftsführung etc.) erforderlich. Erfolgt, wie in der Praxis üblich, regelmäßiges intraorganisationales Reporting des Projektfortschrittes, so ist auch dies nicht mit der Reinform des Agilen Projektmanagements vereinbar. Praktische Situationen und Vorgehen finden demnach im Zwischenraum zwischen dem Extremata des dunkelblauen eingefärbten klassischem Projektmanagement und dem Extremata des dunkelgrün eingefärbten agilem Projektmanagement statt. Je nach dem Agilitätsgrad des Projekts sowie weiteren Projektcharakteristika empfiehlt sich die grundsätzliche Auswahl einer der dort verorteten Basismethode. Das Modell des methodischen Projektmanagementkontinuums umfasst 14 Basismethoden, welche sich zwischen den Extremata befinden. Eine Basismethode sei definiert als eine Methode des Projektmanagements, welche das Vorgehen von Projekten mit vorgegebenen Strukturen, Prozessen und Techniken regelt (in der Literatur deshalb manchmal auch Vorgehensmodell genannt). Bei den ausgewählten Basismethoden handelt es sich um die innerhalb der gängigsten Methoden als eigenständige Methoden am besten definierten und klar abgrenzbaren Formen der jeweiligen klassischen, hybriden und agilen Methoden. Damit wird der gesamte Verlauf des Agilitätsgrads zwischen den Extremata abgedeckt. Normen und Standards wie die DIN oder ICB 4.0 sind an dieser Stelle bewusst nicht mit aufgeführt, da diese das Projektmanagement-Vorgehen nicht vollständig regeln. Bei den abgebildeten Basismethoden ist allerdings auf eine jeweilige Besonderheit in den hier dargestellten Bereichen der formal klassischen und der formal agilen Methoden hinzuweisen. Ganz generisch ist es bei hybriden Methoden irrelevant, ob deren Mixtur aus formal klassischen oder formal agilen Methoden entsteht. Demnach sind die im methodischen Projektmanagementkontinuum dargestellten Methoden „PRINCE2 + Wasserfall“ und „Scrumban“ formal hybride Methoden. Da deren Synthese allerdings jeweils aus zwei Methoden derselben Methodenkategorie entsteht, ist „PRINCE2 + Wasserfall“ inhaltlich als klassische und „Scrumban“ inhaltlich als agile Methodik zu verorten. In der Praxis existieren Abweichungen von den definierten Vorgehensweisen der Basismethoden. Unklare Verantwortlichkeiten, organisationale Unschärfen, differente Stakeholderansprüche oder andere Realitäten führen dazu, dass Teams und Organisationen im Verlauf des Projektes von der gewählten Basismethode abweichen beziehungsweise abweichen müssen. Im Sinne des Projekterfolgs sind Anpassungen durchaus sinnvoll und erforderlich. Argumentationslogisch ist somit die hier zunächst gewählte eindimensionale Darstellung des methodischen Projektmanagementkontinuums noch nicht ausreichend, um praktische Handlungsräume zu schaffen und auf Unzulänglichkeiten in Projekten methodisch zielführend reagieren zu können. REALITÄT-- Viel mehr als eine Methode Um es kurz zu sagen, wir gehen nun in die zweite Dimension. Denn mit einer Erweiterung der bisherigen eindimensionalen Darstellung in die Ebene können nun auch die in der Praxis notwendigen Handlungsräume visualisiert werden. Hierdurch soll einerseits der Tatsache Rechnung getragen werden, dass die in der Realität häufig notwendigen Abweichungen von einer gewählten Basismethode erlaubt sein müssen. Andererseits soll durch diesen Ansatz auch gezielt vermieden werden, dass aufgrund jeder pragmatischen Adaption der Basismethode gleich eine neue-- und neu benannte (! )-- Methode geboren wird, die genau genommen nur eine von vielen Realitäten in dem unendlich großen Feld möglicher Projektsituationen abdeckt. Um die Grundidee zu illustrieren, ist in Abb. 2 zusätzlich zu der Achse „Agilitätsgrad“ noch die Achse „Freiheitsgrad der methodischen Abweichung“ eingeführt. Mit dieser zweiten Achse wird grafisch eine Ebene aufgespannt, die Spielraum für methodische Adaptionen schafft. Ausgehend von einer gewählten Basismethode (B) werden die erlaubten Abweichungsbereiche in der Ebene durch strahlenförmig nach schräg-oben gehenden Linien (gestrichelt) veranschaulicht. Dabei korreliert die Größe der Abweichung von der Basismethode mit der Höhe des Niveaus des Freiheitsgrads der methodischen Abweichung. Abbildung 2: Einführung des Freiheitsgrades der methodischen Abweichung Wissen | DAS Projektmanagementkontinuum 59 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 34. Jahrgang · 03/ 2023 DOI 10.24053/ PM-2023-0055 Ein prägnantes Beispiel soll den Grundgedanken verdeutlichen. So kann in der Praxis definiert werden, ob beispielsweise ein Scrum-Team Methoden des Kanban mit verwenden darf (wahrscheinlich, da nur ein geringer Freiheitsgrad hierfür notwendig ist), oder ob dem gleichen Scrum-Team ein Steering Board zur Überwachung von Projektphase übergeordnet werden kann (unwahrscheinlich, da hierfür ein sehr hoher Freiheitsgrad angesetzt werden müsste). Wie auch immer sich Organisation und Projektteam entscheiden, es entsteht eine methodische Klarheit, die gleichzeitig die eingeschränkte Sicht der vordefinierten Basismethoden realistisch erweitert. In der Praxis kann nun also ein Limit (waagrechte Linie) vom Team selbst oder vom Management definiert werden, so dass Bereiche niedriger Adaptionsfreiheit (Feld I) oder höherer Adaptionsfreiheit (Erweiterung durch Feld II) entstehen. Diese Adaptionsfreiheiten können bewusst- - also durch abgestimmte Entscheidungen-- ausgeschöpft werden. Sie können jedoch auch-- und das mag der häufigere Fall sein-- sich durch die täglichen Notwendigkeiten der Teamarbeit ergeben und zu unscharfen, vielleicht sogar fließenden Grenzen im methodischen Vorgehen führen. Betont werden muss an dieser Stelle, dass die Autoren solche Abweichungen nicht als negativ einschätzen, sondern hiermit gerade die positive Seite einer solchen methodischen Agilität betonen wollen. Ob es sich nun also um eine geplante oder ungeplante Abweichung von der Basismethode handelt, in jedem Fall ist die Zusammenstellung des Methodenmixes durch das Projektteam geprägt von der im konkreten Projekt vorgefundenen Situation. Und diese ist-- wie es ja schon der definitorischen Beschreibung des Konzepts „Projekt“ eigen ist-- für jedes Projekt anders. Hier ergibt sich eine Analogie zu den Konzepten und Modellen im Bereich der Personalführung. Auch dort wurde im Laufe der Zeit erkannt, dass eine Führungskraft mit einem fixierten Führungsstil nicht die Vielfalt der Führungssituationen abdecken kann, sondern dass es des Einsatzes eines Mixes situationsabhängiger Führungsstile bedarf. Und somit-- in Analogie zu dem im Personalmanagement üblichen Ausdruck der „situativen Führung“- - sprechen wir deshalb hiermit von der Wahl „situativer Projektmanagementmethoden“. Die individuell benannten und erlernbaren Basismethoden innerhalb des methodischen Projektmanagementkontinuums sind somit tragende Säulen, die es in der Praxis situativ auszugestalten gilt. Verbinden wir nun zusammenfassend den Ansatz der Basismethoden des methodischen Projektmanagementkontinuums in Abhängigkeit des Agilitätsgrads (x-Achse) mit der eben erläuterten Dimension des Freiheitsgrades der methodischen Abweichung (y-Achse), so lässt sich insgesamt das folgende Modell des situativen Projektmanagementkontinuums ableiten. Hierbei ist ersichtlich, dass die Ausgestaltungsmöglichkeiten einerseits natürlich abhängig von der spezifisch gewählten Basismethode sind, anderseits aber auch maßgeblich von der Abweichung der praktischen Projektumgebung von der theoretischen Norm-Umgebung abhängen. Wichtig ist dabei, sich an dieser Stelle auf genau eine Basismethode festzulegen. Weiterführende methodische Kombinationen werden in unserem Modell durch die zweite Dimension und die dadurch entstehenden Aktionsräume ermöglicht. Schauen wir uns auch hierzu noch ein prägnantes Beispiel an. So schließt die Wahl der Basismethode „Wasserfall“ die Implementierung von Scrum grundsätzlich aus, da sich die gestrichelten Linien, die den jeweiligen Aktionsraum begrenzen, nicht überschneiden. Wählt man allerdings bewusst „Water-Scrum-Fall“ als Basismethode, so ist eine Vernetzung sowohl methodisch inhärent als auch durch den Aktionsraum abgedeckt. Und hiermit postulieren die Autoren, dass dieses Bild nun das gesamte Feld der möglichen Methoden und deren Variationen darstellt und somit grundlegend eine Antwort auf jede mögliche reale Situation bereithält. Damit verbindet sich Abbildung 3: DAS situative Projektmanagementkontinuum Wissen | DAS Projektmanagementkontinuum 60 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 34. Jahrgang · 03/ 2023 DOI 10.24053/ PM-2023-0055 auch die Erkenntnis, dass es nicht nur, wie weiter oben dargelegt, DAS klassische Projektmanagement und DAS agile Projektmanagement in Reinform nicht gibt, es gibt grundsätzlich keine der möglichen Basismethoden (tragende Säulen) in Reinform. Denn durch die Gegebenheiten der Realität werden sich immer Abweichungen vom jeweiligen methodischen Idealzustand ergeben. Anders ausgedrückt, die Realität wird sich nie auf der Nulllinie des Freiheitsgrades der methodischen Abweichung (y-Achse) bewegen. EMPFEHLUNG-- Vorschläge für die Praxis Versuchen wir also nun, die theoretischen Betrachtungen mit Leben zu erfüllen. Der erste Schritt eines jeden Projektes ist die Auswahl einer passenden Basismethode für einen vorliegenden Projektauftrag. Die Basismethode bildet die Grundlage eines Projektes und regelt dessen Ablauf. Die Basismethode definiert somit die Spielregeln eines Projektes, sodass deren Auswahl zu Beginn eines Projektes ein besonderer Stellenwert zuzuweisen ist. Für die Auswahl der Basismethode sollte sich ausreichend Zeit genommen und die spezifische Projektsituation betrachtet werden. Eine Änderung der Basismethode im laufenden Projekt ist nicht zu empfehlen. Vielmehr kann der Freiheitsgrad für Adaptionen der Basismethode genutzt werden. Aus diesem Grund haben die Autoren zunächst das methodische Projektmanagementkontinuum eingeführt. Dieses erste Modell schafft einen Überblick über die wichtigsten Basismethoden und deren Verortung im Kontext des Agilitätsgrads. Anhand dieses Modells lassen sich folgende Handlungsempfehlungen ableiten: • Alleinige Fokussierung auf die Basismethoden des Projektmanagements • Generischer Wissensaufbau über die Basismethoden • Verortung des betrachteten Projektes anhand des Agilitätsgrades • Auswahl einer Basismethode für das betrachtete Projekt • Aufbau von Spezialwissen über die ausgewählte Basismethode sicherstellen Nachdem die Basismethode ausgewählt wurde, sollte im zweiten Schritt die situative Ausgestaltung der Basismethode für den Projektauftrag geprüft werden. Diese situative Ausgestaltung der ausgewählten Basismethoden unter Nutzung des vorliegenden Freiheitsgrades ist wichtiger als die strikte Durchsetzung der Vorgaben der Basismethode. Das bedeutet konkret, dass Basismethoden nicht als starre Methoden betrachtet werden sollten, sondern vielmehr nur die Grundlage für eine auf das Projekt angepasste methodische Abwicklung bereitstellen. In der praktischen Realität wäre eine starre Umsetzung einer Methode zudem auch nicht möglich, da durch geschaffene und unbewusst entstandene Freiheitsgrade Abweichungen vorhanden sind. Diese situative methodische Abweichung oder auch Anpassung an das Projekt wird in dem Modell des situativen Projektmanagementkontinuums eingeführt. Dieses Modell ermöglicht das Ableiten folgender Handlungsempfehlungen für die Praxis: • Einschätzung des vorliegenden Freiheitsgrades (bewusst und unbewusst) • Bewertung, welche „fremden“ Elemente für die zielführende Ausgestaltung der vorliegenden Projektsituation in die ausgewählte Basismethode implementiert werden sollten. Beispiele für diese Elemente / Techniken / Vorgehensweisen sind: • Kanban Board • Balkendiagramm • Stakeholder-Analyse • Daily Scrum • Sprint Retrospektive • Netzplantechnik • … • Sicherstellung einer höheren Flexibilität durch Anpassung der gewählten Basismethode • Praxisorientierte Anwendung der Basismethoden und zielführender Einsatz deren Elemente • Sinnvolle Projektentscheidungen treffen, basierend auf der Situation, nicht anhand der reinen Vorgabe der Basismethode • Berücksichtigung der Erfahrung eines Projektmanagers und Gewährleistung einer adäquaten Reaktion auf eine spezifische Projektsituation Allgemein sollte den Projektteams bewusst die Möglichkeit gegeben werden, auf die Suche nach situativen Adaptionen zu gehen, um eine bestmögliche methodische Reaktion auf die vorgefundene Projektsituation zu gestalten. Die Autoren schreiben der Nutzung dieses Freiheitsgrades mehr Bedeutung zu als dem Fixpunkt der gewählten Basismethode. Diese Gedanken sollen dazu beitragen, die Vielfalt der Methoden zu reduzieren und wieder mehr „gesunden Menschenverstand“ in das Projektmanagement einfließen zu lassen. AUFBRUCH-- DAS situative Projektmanagementkontinuum Trotz des aktuellen Hypes um die Begrifflichkeiten, vertreten die Autoren ganz generisch den Standpunkt, dass weder DAS klassische Projektmanagement noch DAS agile Projektmanagement in Reinform innerhalb des praktischen Projektumfeldes existiert. Basierend auf dieser Grundannahme schlagen wir mit dem methodischen Projektmanagementkontinuum eine Einordnung wissenschaftlich anerkannter Basismethoden nach der zu lösenden Zielstellung und des hierfür erforderlichen anwendungsorientierten Agilitätsgrads vor. Ausgehend davon empfehlen wir den Schwerpunkt zukünftig auf die qualitativ hochwertige Wissensvermittlung über die Basismethoden zu legen, anstatt durch zusätzliche methodische Neuschöpfungen zu weiterer Undurchsichtigkeit beizutragen. Darauf aufbauend empfiehlt es sich bereits in der Lehre direkt auf gewährte oder ungeplant vorhandene Freiheitsgrade in der praktischen Realität hinzuweisen. Ausgebildete Projektmanager sollten- - so unsere Überzeugung-- zukünftig wissen, dass die perfekte methodische Umgebung in der Praxis nicht existiert. Weiterhin sollten sie konkrete adaptive Maßnahmen kennen, wie auf welche konkreten Freiheitsgrade methodisch zu reagieren ist, um den Projekterfolg und damit den Mehrwert für die Organisation sicherzustellen. Hierfür schlagen wir mit dem situativen Projektmanagementkontinuum erstens ein wissenschaftliches Modell zur Auswahl und erweiterten Ausgestaltung einer für das einzelne Projekt passenden Basismethode vor Wissen | DAS Projektmanagementkontinuum 61 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 34. Jahrgang · 03/ 2023 DOI 10.24053/ PM-2023-0055 und liefern damit zweitens eine Beschreibung der gelebten Realität innerhalb praktischer Projektumgebungen. Wir schlagen also im Prinzip-- etwas provokant ausgedrückt-- vor, die Realität in dem situativen Projektmanagementkontinuum abzubilden und gleichzeitig ein gesamtheitliches methodisches Grundverständnis zu etablieren. Literatur 1. Barth, Martin; Sarstedt, Margit (2022): Der Projektmanager als Handwerksmeister. In: PROJEKTMANAGEMENT AKTU- ELL 33 (), S. 62-65. DOI: 10.24053 / PM-2022-0038. 2. Timinger, Holger (2017): Modernes Projektmanagement. Mit traditionellem, agilem und hybridem Vorgehen zum Erfolg. Weinheim an der Bergstraße: Wiley-VCH. S. 29-35. 3. Oxford Languages (n.d.a): Agilität. Oxford. 4. Sommerhoff, Benedikt (2014): Agilität und Qualitätsmanagement. Turbulente Märkte, rasante Innovationen. Hg. v. Deutsche Gesellschaft für Qualität. Frankfurt am Main. Online verfügbar unter https: / / www.dgq.de / wp-content / uploads / 2014 / 03 / Agiles-QM.pdf, zuletzt geprüft am 24. 10. 2022. 5. Oxford Languages (n.d.b): Hybrid. Oxford. 6. Freitag, Matthias (2011): Projektmanagement und Projektkommunikation ‐ zum Forschungsstand. In: Matthias Freitag, Christiane Müller, Gebhard Rusch und Thomas Prof. Dr. Martin Barth Herr Barth ist Professor für Projektmanagement im Fachgebiet Wirtschaft und Management an der IU Internationale Hochschule. In seinen Forschungsarbeiten beschäftigt er sich mit den Dynamiken, Konzepten und Nutzenpotenzialen des modernen Projektmanagements. Weiterhin untersucht er auf dem Gebiet der M&A-Forschung spezifische vertikale, indirekte Post-Merger-Integrationsprozesse. Kontaktanschrift: https: / / www.iu.de / hochschule / lehrende / barth-martin/ E-Mail: martin.barth@iu.org Jonas Reidick Herr Reidick hat sein Masterstudium im Bereich Projektmanagement an der IU Internationale Hochschule abgeschlossen und sich im Rahmen seiner Abschlussarbeit mit den Vorgehensmodellen im Projektmanagement und deren Einfluss auf den Projekterfolg beschäftigt. Im Rahmen seiner mehr als sechsjährigen Berufserfahrung in der Industrie konnte er in verschiedenartigen Projektsituationen mitwirken und hat diese seit drei Jahren als Projektmanager aktiv gestaltet. eMail: jonas@reidick-online.de Prof. Dr. Margit Sarstedt Frau Sarstedt ist Professorin für Technologie- und Projektmanagement im Fachgebiet Wirtschaft und Management an der IU Internationale Hochschule. Basierend auf ihrer mehr als zwanzigjährigen Berufserfahrung in der produzierenden Industrie liegen ihre Forschungsinteressen im Einsatz verschiedener Projektmanagementmethoden in operativen und organisatorischen und Veränderungssituationen. Internet: www.iu.de/ hochschule/ lehrende/ sarstedt-margit/ eMail: margit.sarstedt@iu.org Spreitzer (Hg.): Projektkommunikation. Strategien für temporäre soziale Systeme. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 11-47. 7. Barth, Martin; Sarstedt, Margit (2022): Der Projektmanager als Jäger. In: PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL 33 (5), S. 48-53. DOI: 10.304 / PMA-2022-0005. Eingangsabbildung: © iStock.com / Nuthawut Somsuk