eJournals PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL 34/3

PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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2941-0878
2941-0886
UVK Verlag Tübingen
10.24053/PM-2023-0059
71
2023
343 GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.

Das physiologische Äquivalent

71
2023
Jens Köhler
Die Kolumne „Ehrlich und Priesberg“ möchte mit unterhaltsamen Dialogen rund um das Thema „Mensch – Kommunikation, Verhalten, Entscheidungen“ Denkanstöße für den PM-Alltag geben.
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71 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 34. Jahrgang · 03/ 2023 DOI 10.24053/ PM-2023-0059 Jens Köhler Ehrlich erwischt Priesberg an einer selbstschließenden Durchgangstür. Priesberg hat sichtlich Mühe, die Tür zu öffnen, da er sie in der Nähe des Scharniers aufdrücken will. Ehrlich eilt herbei und drückt auf der anderen Seite und schwupp, die Tür ist auf. „Ja, ja, das Hebelgesetz“, erwidert Priesberg. „Hatte ich vor lauter anderen Themen vergessen.“ Beide betreten ein leeres Besprechungszimmer. „Ich glaube ja, dass es zur Formulierung von Naturgesetzen körperlicher Erfahrung, also eines physiologischen Äquivalents bedarf, so wie es dir eben ergangen ist“, legt Ehrlich los und fährt fort: „Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb es in der Physik seit fast neunzig Jahren keinen fundamentalen Fortschritt mehr gibt. Ist aber nur eine Hypothese.“ Ein sarkastisches Grinsen huscht über Ehrlichs Gesicht. Priesberg fragt: „Wenn ich wissen will, was Beschleunigung ist, muss ich Achterbahn fahren; wenn ich etwas über Elektrizität lernen will, muss ich mir die Haare zu Berge stehen lassen-…? “ Ehrlich antwortet: „So ähnlich. Man kann in der modernen Physik viel parametrisieren, aber wenig körperlich erfahren. Es fehlt aus unseren Erfahrungen gebildete Intuition, um hieraus eine elegante Beschreibung der Natur abzuleiten, die sogar Messergebnisse wiedergibt.“ Priesberg entgegnet: „Jetzt sind wir aber philosophisch unterwegs. Können wir hieraus etwas für unseren Projektalltag ziehen? “ Ehrlich reagiert spontan: „Natürlich. Denke mal an die Planung von Projekten. Wie häufig unterschätzen wir den tatsächlichen benötigten Aufwand? Und komme mir jetzt nicht mit agil! “ Priesberg antwortet ruhig: „Fast immer. Das ist so wahr, dass man es stillschweigend hinnimmt.“ Ehrlich bohrt nach: „Schauen wir mal in die IT-Projekte. Woran hakt es hier? “ Priesberg lässt sich mit der Antwort nicht viel Zeit: „Naja, viele der Verantwortlichen haben vermutlich noch nie programmiert. Und wer noch nie einen Programmcode geschrieben hat-…“ „… der kann auch kein Lied davon singen, was es bedeutet, verzweifelt nach Fehlern zu suchen“, fällt ihm Ehrlich ins Wort: „Ich erinnere mich an einen besonderen Fall: Eine neuartige Methode zur schnellen Lösung eines Logistikproblems musste implementiert werden. Das Verfahren wollte und wollte nicht zünden, alles blieb langsam, ich konnte den Fehler nicht finden.“ Priesberg fragt: „Was sagten die Kollegen dazu? Konnten sie nicht helfen? “ Ehrlich erläutert: „Ich fühlte mich die ganze Zeit schlecht. Dann aber kam mir eine Idee: Ich hatte vergessen, Variablen per Hand auf null zu setzen. In der von mir verwendeten Programmiersprache musste man das nämlich tun. Als ich den Code dann gestartet hatte, war ich ganz aufgeregt und die positive Stimmung kam wieder, als das Programm lief.“ Priesberg fragt: „Und heute? “ Ehrlich erklärt: „Bei jeder Aufwandschätzung von IT-Projekten gehe ich im Kopf durch die Module und frage mich: Was könnte schiefgehen? Meine körperliche Erfahrung ist hierbei ein unschätzbarer Wegweiser geworden.“ Priesberg überlegt: „Ich habe da eine ähnliche Erfahrung gemacht. Wir wollten bei einem neuen IT-System eine Qualitätssicherung einführen, um Daten nach dem FAIR Prinzip eingeben zu können. Die Nutzer wollten aber an einzelnen Anwendungsfällen lernen, wie es konkret funktioniert.“ Ehrlich unterbricht ihn: „Lass‘ mich raten. In Einzelgesprächen konnten die Anwender folgen, aber in der Gruppe, also in größeren Meetings, folgten sie dem Lernstand der Organisation, der da lautete: ‚Anwendungsfälle zuerst! ‘.“ Priesberg überlegt: „So war es. Ist das denn kein Widerspruch? “ Ehrlich grinst verdächtig: „Nein. Erst muss jeder seine individuellen Erfahrungen mit den konkreten Beispielen machen. Danach kann es in die Kommunikation der Organisation gelangen. Mit der Zeit wird das Verlangen nach Anwendungsfällen verschwinden und die neue Methode wird akzeptiert werden: ‚FAIRe Daten sind gut! ‘.“ Priesberg überlegt: „Du hast doch sicher noch etwas in der Hinterhand. Was passiert denn, wenn neue Kollegen hinzukommen? Muss man sich dann wieder konkrete Beispiele ansehen? “ „Nein“, widerspricht Ehrlich: „Sie werden in der Organisation nur wahrgenommen, wenn sie deren Kommunikation übernehmen, die ja jetzt lautet: ‚FAIRe Daten sind gut! ‘ Ich schließe mit einem verkürzten Zitat von Niklas Luhmann: ‚Menschen können nicht kommunizieren,- […]. Nur die Kommunikation kann kommunizieren.‘“ „Das nennt man dann wohl das ‚physiologische Äquivalent von Organisationen‘“, schließt Priesberg. Eingangsabbildung: © iStock.com / Comeback Images Kolumne Das physiologische Äquivalent Die Kolumne „Ehrlich und Priesberg“ möchte mit unterhaltsamen Dialogen rund um das Thema „Mensch-- Kommunikation, Verhalten, Entscheidungen“ Denkanstöße für den PM- Alltag geben. Jens Köhler Dr. Jens Köhler, BASF SE, fokussiert sich auf die Digitalisierung in Forschung und Entwicklung. Sein Spezialgebiet ist die Regulation sozialer Komplexität zur Effizienz- und Effektivitätssteigerung von Projektteams. Anschrift: BASF SE, RGQ / IM, 67 056 Ludwigshafen, eMail: Jens.Koehler@basf.com