PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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UVK Verlag Tübingen
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GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.Mehr als Mitfühlen
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Oliver Steeger
Empathie – der neue Softskill-Trend. Empathie gilt als Schlüsselqualifikation der Arbeit der Zukunft. Ein unerlässliches soziales Schmiermittel für agile, multidisziplinäre und interkulturelle Teams. Doch Vorsicht! Psychologen verstehen unter dem inflationär gebrauchten Buzzword mehr als nur „Mitgefühl“ oder „Nett-Sein“. Sie entwickeln ein anspruchsvolles Bild von Empathie. Im Interview erklärt Wirtschaftspsychologe Professor Florian Becker, wie gereifte Empathie Zusammenarbeit fördert, weshalb jeder Empathie auch für sich selbst haben sollte – und mit welchen einfachen Fragen jeder prüfen kann, wie empathisch er wirklich ist.
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25 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 34. Jahrgang · 04/ 2023 DOI 10.24053/ PM-2023-0070 Gereifte Empathie-- weshalb wir sie im Projektmanagement brauchen Mehr als Mitfühlen Oliver Steeger Empathie-- der neue Softskill-Trend. Empathie gilt als Schlüsselqualifikation der Arbeit der Zukunft. Ein unerlässliches soziales Schmiermittel für agile, multidisziplinäre und interkulturelle Teams. Doch Vorsicht! Psychologen verstehen unter dem inflationär gebrauchten Buzzword mehr als nur „Mitgefühl“ oder „Nett-Sein“. Sie entwickeln ein anspruchsvolles Bild von Empathie. Im Interview erklärt Wirtschaftspsychologe Professor Florian Becker, wie gereifte Empathie Zusammenarbeit fördert, weshalb jeder Empathie auch für sich selbst haben sollte-- und mit welchen einfachen Fragen jeder prüfen kann, wie empathisch er wirklich ist. Herr Professor Becker, das Schlagwort „Empathie“ hat eine erstaunliche Karriere gemacht. Anfangs war dieses Fremdwort allenfalls Psychologen und Ärzten bekannt. Heute gilt es als soziale Tugend des 21. Jahrhunderts. Im Arbeitsleben wird Empathie gefordert-- nicht nur von Führungskräften, sondern auch von Mitarbeitern etwa in Projektteams. Wie kommt es zu diesem Aufstieg der Empathie? Professor Florian Becker: Nach meiner Beobachtung hängt die Betonung von Empathie mit dem Wandel der Führungskultur zusammen- - und zwar hin zur mitarbeiterorientierten Führung. Dieser Wandel hat wiederum Verbindung zum Fachkräftemangel, zum Wertewandel und den veränderten Bedürfnissen vor allem jüngerer Mitarbeiter. Junge Mitarbeiter wollen empathischere Führung? Ja, das ist ein Punkt. Viele stellen heute die Arbeit nicht mehr in den Mittelpunkt ihres Lebens. Sie bauen die Arbeit gewissermaßen um ihr Leben herum. Sie wollen unter anderem möglichst viel Freizeit; wenn sie arbeiten, soll die Arbeit Spaß machen. Die gegenwärtige Diskussion über die Vier-Tage-Woche deutet ja in diese Richtung. Wir wissen aus Studien, dass vier von zehn Mitarbeitern in Deutschland sofort aufhören würden zu arbeiten, wenn sie dies könnten. Das gilt längst nicht nur für die Jüngeren. Auch unter Babyboomern würde nur einer von zehn so lange arbeiten wollen, bis er das gesetzliche Rentenalter erreicht. 90 Prozent würden früher aufhören. Verstanden. Was aber hat dies mit Empathie zu tun? Offenbar ist es den Unternehmen nicht gelungen zu verstehen, wie Mitarbeiter ticken, was sie antreibt und motiviert. Die Mitarbeiter erwarten, dass Unternehmen und Führungskräfte auf ihre Bedürfnisse reagieren. Dass sie diese Bedürfnisse erkennen, akzeptieren und bei der Gestaltung des Arbeitslebens berücksichtigen. Das gelingt vielen Unternehmen nicht. Unternehmen und Führungskräfte sollen also diese individuellen Bedürfnisse wahrnehmen und sie mit den Erfordernissen der Arbeit ausbalancieren. Also beispielsweise erkennen, wenn jemand mit Arbeit überlastet ist und ihm zu viel zugemutet wird. Überlastung und Burn-out sind wichtig, doch es geht nicht nur darum. Gemäß neuer Studien fühlen sich 17 Prozent der Mitarbeiter tendenziell überlastet. Doch satte 43 Prozent fühlen sich von ihrer Arbeit sogar unterfordert. Sie langweilen sich. Der Anteil der Überforderten und Unterforderten macht zusammen 60 Prozent. Ich finde dies erschreckend aus zwei Gründen. Zum einen laufen Unternehmen im heutigen Fachkräftemangel Gefahr, dass sie Mitarbeiter verlieren. Zum anderen denke ich als Psychologe auch an optimale Arbeitsbedingungen. Aus dem Flow-Modell des Psychologen Mihaly Csikszentmihalyi wissen wir, wie wichtig eine optimale Herausforderung für Mitarbeiter ist-… Reportage | Mehr als Mitfühlen 26 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 34. Jahrgang · 04/ 2023 DOI 10.24053/ PM-2023-0070 …-der „sweet spot“ zwischen Unterforderung und Überforderung! Sind Aufgaben weder langweilig noch überlastend-- dann kommen Menschen in eine Art Flow-Zustand, in dem die Arbeit gut von der Hand geht, die volle Leistungsfähigkeit entfaltet wird und man sich glücklich fühlt. Mit einem Wort: Eine optimale Arbeitsbedingung. Viele Führungskräfte nehmen nicht wahr, wenn Mitarbeiter unter der Last ihrer Arbeit leiden -oder sich am Arbeitsplatz langweilen. Sie erkennen nicht, welches Potenzial und welche Erwartungen jemand hat, welche Aufgaben für ihn angemessen sind, was ihn interessiert, was ihn antreibt und wie er sich bei der Arbeit fühlt. Vielleicht sind diese Führungskräfte abgestumpft, vielleicht sind sie mit dem falschen Menschenbild unterwegs-… Unter Empathie versteht man vielfach Mitgefühl. Man sieht, dass es jemanden nicht gutgeht-- und teilt den Kummer. Nun sagen Sie, dass solch ein Verständnis von Empathie trügen kann. Jemand weint, und man weint mit. Jemand freut sich, und man freut sich mit. Natürlich ist auch dies Empathie. Aber sie ist aus wissenschaftlicher Sicht eher unreif und naiv. Mitweinen, wenn jemand weint- - dieses Verhalten zeigt bereits ein Säugling. Das ist ein sympathischer, menschlicher Reflex emotionaler Ansteckung - aber in der Arbeitswelt nicht ausreichend. Sondern? In der Arbeitswelt brauchen wir eine gereifte, reflektierte Empathie. Es geht dabei um mehr als das passive Mitfühlen. Gereifte Empathie hilft uns zu erkennen und zu verstehen, welche Motive und Interessen jemand hat. Was hat er für eine Persönlichkeit? Wie „funktioniert“er? Was hat diese Person für Gewohnheiten? Was ist sie in der Lage zu leisten? Welches Potenzial steckt in dieser Person? Bei dieser reflektierten, gereiften, analytischen Empathie ist es sogar hilfreich, sich ein Stück weit freizumachen von dem reinen Mitfühlen. Es kann sinnvoll sein, Emotionen mit einer gewissen Distanz einzuordnen. Das erinnert mich an die Empathie guter Mediziner. Bei Diagnose und Therapie fühlen sie mit dem Patienten mit-- und halten dennoch innere Distanz zu dem Schmerz und der Angst, die der Patient fühlt. Eher analysieren sie, wie weit sie einen Patienten bei der Therapie fordern dürfen, wo buchstäblich seine Schmerzgrenze liegt. Das ist ein gutes Beispiel für Empathie. Ein erfahrener Arzt kann Patienten „lesen“. Welche Therapie kann er einem Patienten zumuten? Wie weit geht der Patient mit? Wie steht es um dessen Compliance? Nimmt der Patient die verordneten Medikamente? Ein Arzt darf sich dabei nicht oberflächlich am Gefühl orientieren. Vielleicht auch, weil viele Patienten keine Gefühle offen zeigen? Das ist ein wichtiger Punkt, und er gilt auch für Mitarbeiter! Einige Mitarbeiter zeigen Gefühle, andere tun dies nicht. Es gibt introvertierte und extrovertierte Menschen. Will man nur Gefühle teilen, geraten die stillen Introvertierten schnell ins Hintertreffen. Hinzu kommen gesellschaftliche Konventionen. In unserer Kultur wird Frauen eher erlaubt, Gefühle zu zeigen, zu weinen oder vielleicht sogar die Türe zornig hinter sich zuzuschlagen. Männern wird dies eher selten zugestanden. In München am Oktoberfest kann man gut sehen, wie Frauen in den Fahrgeschäften ungehemmt kreischen. Männer müssen cool bleiben, zeigen ein Pokerface. Wenn wir als Führungskraft also nur passiv auf gezeigte Gefühle reagieren, diese miterleben - dann würden wir tendenziell Männer zu wenig beachten. Das sind Stereotypen-… Natürlich handelt es sich um Stereotypen, und wir müssen achtgeben, die Vielfalt menschlichen Verhaltens nicht aus dem Blick zu verlieren. Fakt ist: Es gibt Menschen, die Gefühle wenig oder gar nichts äußern. Es kann sein, dass diese Menschen benachteiligt werden, wenn man ihnen nur mit naiver Empathie begegnet. Dies gilt übrigens auch für interkulturelle Teams. Zum Beispiel ein Team aus Südamerikanern, Japanern und Deutschen: Da könnte es mit einem eher unterentwickelten Verständnis von Empathie schnell zu Problemen kommen. Südamerikaner zeigen kulturell eher ihre Gefühle, Deutsche wenig und Japaner zumeist für uns gar nicht wahrnehmbar. In bestimmten Kulturen lernen schon Kinder, dass sie keine Emotionen zeigen dürfen, schon gar nicht negative. Führungskräfte, die eine naive Idee von Empathie haben, kümmern sich dann in diesem Beispiel zu wenig um die Japaner. Vorhin sprachen Sie von der reflektierten, gereiften, analytischen Empathie. Wie kann ich feststellen, ob ich wirklich in diesem Sinne empathisch bin? Kann man dies messen? Man kann Empathie heute messen. Aber diese Testverfahren brauchen Sie vielleicht gar nicht. Aus meiner Sicht gibt es zwei zentrale Merkmale guter Empathie, und sie können diese gut an sich selbst beobachten. Erstens: Hören Sie anderen zu? Stellen Sie Fragen? Oder unterbrechen Sie andere? Können Sie sich nach einem Gespräch überhaupt daran erinnern, was die andere Person gesagt hat? Wir groß ist Ihr Redeanteil, wie groß der der anderen? Für Bewerbungsgespräche hat man herausgefunden, dass ein zu großer Redeanteil der Führungskraft ungünstig wirkt auf die prognostische Validität des Gesprächs. Sollten Sie also feststellen, dass Sie mehr selbst reden als zuhören, ist damit bereits eine wichtige Erkenntnis gewonnen. Im Internet gibt es viele gute Anleitungen und Regeln, mit denen Sie die Fähigkeit des aktiven Zuhörens entwickeln können. Das zweite zentrale Merkmal für Empathie ist Körpersprache. Meine Körpersprache-- inwiefern? Achten Sie auf die Körpersprache Ihres Gesprächspartners? Nehmen wir an, Sie wollen einem Mitarbeiter eine schwierige Projektaufgabe übertragen. Wie ist die Körpersprache Ihres Mitarbeiters? Öffnet sich die Haltung, lehnt sich der Mitarbeiter nach vorne, beginnen seine Augen zu leuchten? Oder beobachten Sie das Gegenteil: Lehnt sich der Mitarbeiter zurück? Verschränkt er die Arme? Wirkt die Haltung verschlossen? Ich käme nie auf die Idee, jemanden zu fragen, ob er die Aufgabe übernehmen will, solange die Körperhaltung verschlossen und abweisend wirkt - und nicht zu dem passt, wie sich diese Person sich sonst verhält. Reportage | Mehr als Mitfühlen 27 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 34. Jahrgang · 04/ 2023 DOI 10.24053/ PM-2023-0070 Man sagt, dass Körpersprache nicht lügt. Wir können vielleicht das kontrollieren, was wir sagen. Ein Stück weit können wir auch unsere Mimik beherrschen. Doch die allermeisten können nicht das kontrollieren, was ihre Körperhaltung ausdrückt, ihre Arme und Beine. Ich lege daher jeder Führungskraft ans Herz, mehr auf die Körpersprache zu achten, auf die eigene und die der anderen. Also an einem Seminar für Körpersprache teilnehmen? Seminare sind Einmal-Maßnahmen, wichtiger ist der Alltag. Es kann reichen, jeden Tag auf einen Aspekt der Kommunikation und Körpersprache zu achten. Vermeiden Sie beispielsweise für einen Tag, andere zu häufig zu unterbrechen. Achten Sie an einem anderen Tag auf Ihre eigene offene Körpersprache. Oder versuchen Sie an Ihren Sprecherqualitäten zu arbeiten, also beispielsweise Mitarbeiter so zu loben, dass Ihre konstruktive Rückmeldung sie wirklich ins Herz trifft. Das klingt nach im Grunde einfachen Dingen, die helfen, die eigene Empathie zu verbessern. So ganz einfach ist es nicht! Zur Empathie gehört auch die innere Haltung. Albert Einstein soll einmal gesagt haben, dass es schwieriger ist, eine vorgefasste Meinung zu verändern als ein Atom zu zertrümmern. Vorhin haben Sie das Stichwort „falsches Menschenbild“ genannt. Was wäre solch ein falsches Menschenbild? Nicht wenige Führungskräfte glauben heute immer noch, dass es beim Arbeiten vor allem ums Geld geht. Sie wollen ihre Mitarbeiter allein mit Geld motivieren, also rein monetäre Anreize bieten. Das ist ein sehr unempathisches Menschenbild. Andere Führungskräfte glauben der Redensart, dass Diamanten nur unter hohem Druck entstehen; sie arbeiten viel mit Kontrolle und extrinsischen Anreizen. Beides sind Menschenbilder, die nur sehr begrenzt funktionieren. Weshalb ist das Menschenbild so wichtig für Empathie? Vergleichen Sie Ihr Menschenbild mit einer Landkarte. Diese Karte drückt das aus, was Sie glauben, wie andere „funktionieren“. Mit einem falschen Menschenbild zu führen-- das ist, als wenn sie mit einem Stadtplan von Berlin versuchen sich in München zurechtzufinden und sich wundern, weshalb Sie nicht ans Ziel kommen. Aber das merkt man doch-…! Klar merken Führungskräfte, dass sie mit ihrem Verhalten nicht zum Ziel kommen. Doch statt eine passende Landkarte zu verwenden, versuchen sie „radikaler“, mit der alten voranzukommen. Wer Mitarbeiter nur mit Druck motiviert, wird vielleicht immer mehr Druck ausüben. Es kommt recht selten vor, dass Menschen dann Ihre innere Landkarte in Frage stellen. Die Veränderung des Menschenbilds ist eine der vielleicht schwierigsten Aufgaben in der Entwicklung von Führungskräften. Viele Menschen klammern sich bis zuletzt an ihre Überzeugungen. Der Philosoph Friedrich Nietzsche hat einmal bemerkt: dass Überzeugungen gefährlichere Feinde der Wahrheit sind als Lügen. Jedenfalls sind diese inneren Barrieren große Hindernisse für Empathie. Ich habe allerdings auch beobachtet, dass viele Führungskräfte dieses Problem kennen und eine bessere Landkarte für sich suchen. Sie räumen ein, dass achtzig Prozent ihres Führungsalltags Psychologie ist. Einige haben mir halb im Scherz, halb im Ernst gesagt, sie hätten besser Psychologie studiert. Doch als Psychologe wären sie meist nicht zu ihrer Position gekommen. Wir haben bislang viel über Führungskräfte gesprochen. Ich würde mich gerne auch den Mitarbeitern und Teams zuwenden. Viele Teams werden heute nicht mehr klassisch durch einen Manager geführt. Besonders in agilen Teams organisieren sich die Mitarbeiter selbst und eigenverantwortlich. Sie befinden sich in ständiger Interaktion, definieren ihre Rollen, entwickeln ihre Vorgehensweise, diskutieren und verteilen untereinander Aufgaben, lösen Konflikte und stimmen sich über Fortschritte ab. Wenn immer mehr Teams und Mitarbeiter sich selbst managen-- dann wäre vermutlich auch für sie Empathie wünschenswert? Selbstverständlich. Das sehe ich genauso. Früher war es für einzelne Mitglieder im Team nicht ganz so wichtig, empathisch zu sein; es hat gereicht, wenn die zentrale Führungskraft über diese Fähigkeit verfügt. Doch die modernen Arten der Teamarbeit haben dies verändert. Die neuen Prinzipien von Freiheit, Selbstorganisation und Selbstverantwortung machen Empathie bei allen Beteiligten erforderlich. In vielen Teams arbeiten Menschen mit unterschiedlichen Persönlichkeiten eng zusammen. Ein Beispiel: Sie müssen erkennen, dass etwa ein introvertierter Kollege bei Besprechungen sich nicht schnell zu Wort meldet - obwohl er vielleicht essenzielle Ideen oder Bedenken ins Gespräch bringen könnte. Bei multidisziplinären und interkulturellen Teams kommt hinzu, dass die Mitglieder aus verschiedenen Fachrichtungen oder Arbeitskulturen stammen. Die Teammitglieder müssen verstehen, welche Bedürfnisse oder Erwartungen sie aus ihrer Fachrichtung oder Kultur mitbringen und aus welcher Perspektive sie auf das gemeinsame Projekt blicken. Bei solche Teams ist der Entwicklungsdruck hinsichtlich der Empathie sehr hoch. Empathie kann dann beispielsweise bedeuten, dass ein Betriebswirt versucht zu verstehen, wie ein Jurist denkt und fühlt. Oft beklagen Betriebswirte, dass von Juristen entworfene Verträge so kompliziert sind, dass sie wirtschaftlich keinen Sinn mehr ergeben. Solche Verträge führen zu einer Verteuerung und Verlängerung des Projekts. Ein Jurist ist häufig bemüht, Entscheidungen aus seiner Sicht wasserdicht zu machen. Diese Sichtweise und dieses Bedürfnis muss man verstehen, bevor man zu einer Lösung kommt. Ein Ausgleich funktioniert nur, wenn jeder die Sicht des anderen einnehmen kann. Reportage | Mehr als Mitfühlen 28 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 34. Jahrgang · 04/ 2023 DOI 10.24053/ PM-2023-0070 Unlängst habe ich mit einem interdisziplinär zusammengesetzten Team gesprochen. Es umfasste Spezialisten für Software, Robotik, Psychologie, Ethik und Therapie-- also eine diverse Sammlung von Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen und Wissenshintergrund, Perspektiven auf das Projekt und Erwartungen. Dieses Team wusste, wie wichtig es für den Projekterfolg ist, die Perspektive der anderen Teammitglieder aktiv zu verstehen. Sich also um das Verständnis zu bemühen. Amerikaner nennen dies häufig “to walk a mile in someone’s shoes”. Genau diesen Rollentausch hat dieses Team in einem Workshop gemacht: Die Mitglieder setzten die Brille von Kollegen auf und betrachteten das Vorhaben aus deren Sicht-- die Programmierer aus der Sicht der Psychologen oder die Psychologen aus Sicht der Robotik-Spezialisten. Das ist ein gutes Beispiel. Ich finde es gut, wenn Teammitglieder aktiv versuchen, wie andere zu denken - und auch vermitteln, wie sie selbst denken. Dies bedeutet dann auch, dass Spezialisten wissen, wann sie andere Spezialisten holen und ihre Sichtweise hören sollten, um Betriebsblindheit vorzubeugen. Kommt es nach Ihrer Einschätzung zu Fehlern in Projekten, wenn dieser aktive Perspektivenwechsel fehlt? Natürlich! Es muss zunächst einmal das Bewusstsein entstehen, dass es die verschiedenen berechtigten Sichtweisen gibt. Das Team soll diese Pluralität der Perspektiven zur Kenntnis nehmen und sie akzeptieren. Wenig empathische Menschen können dies häufig nicht. Sie sehen nicht den Wert, der durch verschiedene Perspektiven ins Projekt hineingebracht wird. Sind ein oder zwei unempathische Mitglieder in solch einem Team, kann es schon zu Problemen und Fehlern kommen. Angenommen, jemand hat überhaupt kein Interesse an der Perspektive des Juristen, also an den rechtlichen Rahmenbedingungen für ein Projekt-- dies kann schon sehr gefährlich werden. Das ist, als wenn ein Autofahrer kein Interesse am Glatteis zeigt-… Wir haben viel über Empathie für andere gesprochen. Eine Frage aus der anderen Perspektive: Wie wichtig es ist, dass Menschen Empathie für sich selbst entwickeln? Ich habe einige Male mit jungen Gründern zu tun gehabt. Einige waren noch keine dreißig, und sie hatten bereits Unternehmen gegründet und ihre erste Million verdient. Bei einigen dieser jungen Gründer entdecke ich eine bestimmte Form der Selbstüberschätzung. Sie sind überzeugt, dass sie gut sind und sie jederzeit wieder solch eine Gründung leisten können. Wobei das Letztere wahrscheinlich schwierig ist-… Genau das ist der Punkt. Einige von Anfang an sehr erfolgreiche junge Gründer denken, dass sie immer wieder erfolgreich sein werden; sie besser sind als alle anderen, es einfach „draufhaben“. Aus diesem Grund bringen sie den Erfolg ihrer bestehenden Gründung häufig in Gefahr-- etwa, weil sie sich leichtfertig mit einem Geschäftspartner zerstreiten. Sie meinen, sie könnten notfalls eine neue Company gründen. Sie sehen nicht, wie schwierig Gründungen generell sind und wie wenige Gründungen überleben. Diese Menschen überschätzen sich. Resultiert solch eine Selbstüberschätzung aus dem Mangel an Empathie für sich selbst? Empathie für sich selbst schließt ein, dass man auch Distanz zu seinen eigenen Meinungen und Vorurteilen entwickelt. Wir haben eben von Menschenbildern gesprochen, von Landkarten. Eine reife innere Haltung setzt voraus, dass man die innere Landkarte, nach der man navigiert, überprüft. Also vorgefasste Meinungen und Überzeugungen konstruktiv infrage stellt. Anderenfalls läuft man immer wieder wie gegen eine Wand- - ohne dass man merkt, dass die Türe einen halben Meter weiter links ist. Also eine Art emphatische Selbsterkenntnis-…? Ja-- wobei diese Selbsterkenntnis meiner Einschätzung nach sehr zentral ist im Arbeitsleben. Bei dieser Selbsterkenntnis spielen auch allgemeine Fragen eine Rolle, zum Beispiel: Welches Potenzial habe ich? Was ist realistisch für mich? Wo liegen meine „blinden Flecken“? Augenblick! Weshalb sollte ich mich beispielsweise nach meinem Potenzial fragen? Viele Menschen schöpfen wenig von ihrem Potenzial aus - aus verschiedenen Gründen. Der tägliche Medienkonsum etwa von Internet, Streamingangeboten, Videogames und Fernsehen liegt im Durchschnitt bei täglich etwas über fünf Stunden. Da bleibt wenig Zeit, das eigene Potenzial zu entdecken und zu entwickeln. Vielfach stehen Menschen aber auch vor inneren Hürden. Sie wissen beispielsweise nicht, wie sie schlechte Gewohnheiten ablegen und gute Gewohnheiten aufbauen können, etwa Selbstdisziplin. Unlängst hat eine Studie an unserer Hochschule stattgefunden zur Frage, was die größten Herausforderungen beim Studium sind. Also beispielsweise Probleme mit Klausuren und Prüfungen, mit dem Lernpensum, mit fachlichen Schwierigkeiten oder der Finanzierung. Doch die größte Herausforderung ist die Prokrastination. Viele Studierende schaffen sich große Probleme damit, dass sie nötige Arbeit zu lange aufschieben und ihre Ziele nicht erreichen. In dieser Umfrage haben siebzig Prozent angegeben: Sie wissen nicht, wie sie sich selbst motivieren können. Ich finde dies erschreckend! Erschreckend ja-- aber was hat dies mit Empathie für sich selbst zu tun? Empathie für sich selbst bedeutet, dass man zunächst einmal offen ist für seine eigenen Emotionen, Bedürfnisse und Träume. Dass man weiß, wie man selbst tickt - und lernt, beispielsweise Prokrastination oder ungesunden Pessimismus zu überwinden. Vielleicht ist diese Empathie sich selbst gegenüber eine Voraussetzung, um empathisch anderen gegenüber zu sein. Eine Voraussetzung-- wie darf ich dies verstehen? Ich habe viel mit Führungskräften zum Thema Mitarbeitermotivation gearbeitet. Dabei habe ich festgestellt, dass sich die Führungskräfte häufig mehr dafür interessieren, wie sie sich selbst motivieren können, als dafür, wie sie andere motivieren. Dies ist ein intuitiv richtiger Schluss! Die Führungskräfte fragen sich: Wie soll ich andere glaubwürdig motivieren, wenn ich selbst nicht motiviert bin? Wie sollen sie bei ande- Reportage | Mehr als Mitfühlen ren ein Feuer für ihre Arbeit entfachen, das in ihnen selbst nicht brennt? Wir haben bislang über Mangel an Empathie gesprochen. Wie sieht das Gegenteil aus-- zu viel Empathie? Kann es sein, dass zu empathische Menschen sich beispielsweise ausnutzen lassen, zu nachgiebig werden oder ihre eigenen Interessen nicht mehr durchsetzen können? Diese Gefahr sehe ich nicht. Es ist wichtig, dass man die Bedürfnisse anderer versteht - aber auch die eigenen. Versteht man sich und andere besser, dann ist es wahrscheinlich, dass man auch gerechtfertigt Grenzen zieht und nein sagt. Man durchschaut ausbeuterische Personen dann besser. Empathisch zu sein heißt also nicht unbedingt „netter“ zu anderen sein zu müssen. Nein, ganz im Gegenteil. Empathie erlaubt klare Linien zu ziehen. Eine Abschlussfrage: Wir haben über die Notwendigkeit von Empathie bei moderner Teamarbeit gesprochen. Sehen Sie in der gereiften, reflektierten Empathie, wie Sie sie beschrieben haben, eine Schlüsselqualifikation für das Arbeitsleben der Zukunft? (lacht) Da fragen Sie natürlich den Psychologen, der dies durch seine Brille sieht. Natürlich! Aus meiner Perspektive ist Empathie eine wichtige Fähigkeit für ein gelungenes Leben. Viele Menschen bleiben unter ihren Möglichkeiten, weil sie sich schwertun, etwa mit Prokrastination umzugehen, pessimistisches Denken zu überwinden oder Grenzen zu ziehen. Sie verwirklichen deshalb nicht ihre Träume. Insofern wäre es schade, wenn wir Empathie nur auf das Arbeitsleben beziehen. Aber Sie haben recht: Im Arbeitsleben wird Empathie immer wichtiger - und ist damit eine Schlüsselqualifikation. Eingangsabbildung: © kovalto1 - stock.adobe.com Prof. Dr. Florian Becker Diplom-Psychologe Prof. Dr. Florian Becker ist Spezialist für Wirtschaftspsychologie und Keynote-Speaker. Er forscht und berät zu Führung, Motivation, Teamarbeit und Positive Psychologie. Nach dem Studium der Psychologie, Betriebswirtschaftslehre und Kommunikationswissenschaften promovierte er über Wirtschaftspsychologie. Er leitete das Marktpsychologische Labor der Universität München (LMU) und führte an der International School of Management (ISM) den Fachbereich Psychology & Management. An der University of Rosenheim leitete er den MBA-Studiengang Management und Führungskompetenz (MBA). Er ist Autor zahlreicher Fachbücher, darunter: „Teamarbeit, Teampsychologie, Teamentwicklung: So führen Sie Teams! “ (Springer, 2016) „Psychologie der Mitarbeiterführung: Wirtschaftspsychologie kompakt für Führungskräfte“, (Springer, 2015) „Mitarbeiter wirksam motivieren: Mitarbeitermotivation mit der Macht der Psychologie“ (Springer, 2018) Foto: Jörg Eberl Anzeige Christoph Zahrnt Projektverträge Ein Leitfaden für Projektmitarbeiter: innen 1. Au age 2023, 302 Seiten €[D] 34,90 ISBN 978-3-7398-3240-1 eISBN 978-3-7398-8240-6 Bei der Arbeit in Projekten hat man auf verschiedene Weise mit dem Vertragsrecht zu tun. Das Buch unterstützt unter anderem dabei, was bei der Erstellung einer Leistungsbeschreibung aus rechtlicher Sicht beachtet werden sollte. Die Leistungsbeschreibung kann den größten Teil eines Vertragsdokuments ausmachen. Der Autor erklärt zudem, was bei der sachgerechten Projektdurchführung in rechtlicher Hinsicht zu beachten ist. Hier spielt insbesondere die Abnahmeprüfung eine zentrale Rolle.
