PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
pm
2941-0878
2941-0886
UVK Verlag Tübingen
10.24053/PM-2023-0102
121
2023
345
GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.Schöne neue Welt
121
2023
Jens Köhler
Die Kolumne „Ehrlich und Priesberg“ möchte mit unterhaltsamen Dialogen rund um das Thema „Mensch – Kommunikation, Verhalten, Entscheidungen“ Denkanstöße für den PM-Alltag geben.
pm3450071
71 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 34. Jahrgang · 05/ 2023 DOI 10.24053/ PM-2023-0102 Jens Köhler Priesberg betritt aufgeregt das Büro von Ehrlich. „Wir haben einen neuen Projektleiter aus einer anderen Firma, der vom Konstruktivismus nur so schwärmt“, sprudelt es aus ihm heraus. Er fährt langsamer fort: „Seine Grundannahme ist, dass die gesamte Projektwelt pure Konstruktion sei. Man könne also alles durch Diskurs erzeugen und beliebig ändern.“ Ehrlich steckt sich einen Zigarillo in den Mund. Priesberg schluckt und entgegnet: „Seit wann rauchst du denn? “ „Habe ich gesagt, dass ich rauche? Ich habe mir lediglich einen Zigarillo in den Mund gesteckt. Gehst du davon aus, dass ich ihn mir gleich anzünden werde? “, fragt er weiter. „Ja natürlich, das wäre doch nur logisch“, antwortet Priesberg etwas spöttisch. Ehrlich antwortet im gleichen Tonfall: „Dann dekonstruiere mal dein Weltbild, in dem sich Menschen, die sich Zigarillos in den Mund stecken, gleich mit dem Rauchen beginnen wollen.“ Priesberg springt zum Projekt zurück: „Es geht um ein neues System zur automatischen Bearbeitung von Rechnungen. Jede Rechnung soll mithilfe einer künstlichen Intelligenz dem richtigen internen Buchungsposten zugeordnet werden.“ Ehrlich entgegnet: „Das hört sich nach ziemlichem Standard an, nichts Aufregendes. Weshalb ist dein Projektleiter jetzt im Fieber des Konstruktivismus? “ Priesberg antwortet: „Naja, er ist mit den Kundenanforderungen nicht einverstanden. Meilensteine und Budgets stören ihn auch.“ Ehrlich ist verblüfft: „Das lässt sich doch mit der guten alten Tante ‚Wasserfall‘ lösen. Erzähl mal mehr aus dem Projekt.“ Priesberg fährt fort. „Der Projektleiter will immer wieder neue Versionen des KI-Algorithmus ausprobieren, auch Funktionen, die aus meiner Sicht nicht benötigt werden. Er fordert das Projektteam auf, sich Gedanken zu machen, wie man den Stakeholdern, also den Auftraggebern klarmachen kann, dass sie ein ‚falsches‘ Bild haben.“ Ehrlich zündet sich zum Entsetzen von Priesberg den Zigarillo tatsächlich an und lehnt sich zurück: „Jetzt wird es wirklich spannend. Immer nur weiter.“ Priesberg spricht: „Als erstes sollten wir das magische Dreieck ‚Qualität‘, ‚Budget‘ und ‚Zeit‘ hinterfragen. Es hemmt angeblich unsere Kreativität. Er lädt die Stakeholder dann zu regelmäßigen ‚Sitzungen‘ ein, an denen sie einsehen sollen, dass ihre Denkweise den höheren Zielen des Projektes entgegensteht.“ Ehrlich zieht kräftig an seinem Zigarillo und bläst den Rauch aus dem offenen Fenster. „Ich würde einem solchen Projektleiter eine nicht allzu große Zukunft in der Firma voraussagen, wenn er so weiter macht, oder rauche ich hier das falsche Zeug? “ Priesberg entgegnet: „Zu deiner letzten Frage: Ich fürchte, ja. Wir haben uns nämlich ‚Kreativität‘ auf die Fahnen geschrieben und alles, was dem entgegensteht, soll verschwinden. Unser Projektleiter liegt also voll im Trend unserer Abteilung.“ Ehrlich hakt nach: „Okay, was passiert denn, wenn die Auftraggeber die Abnahme verweigern? “ Priesberg spricht trocken: „Das tun sie nicht. Denn sie haben erkannt, dass das ‚alte‘ Denken aus Qualität, Budget und Zeit nicht zu einer kreativen Lösung führt. Das neue Tool kann erst dann fertig sein, wenn eine kreative Lösung auch unter Beteiligung der Stakeholder gefunden wird. Und der Projektleiter hat die herkömmliche Sichtweise der Auftraggeber erfolgreich dekonstruiert. Sie meckern nicht mehr und machen mit.“ „Jetzt verstehe ich, weshalb dein Projektleiter den totalen Konstruktivismus so mag. Er gibt ihm Macht“, kratzt sich Ehrlich am Kopf und fährt fort: „Wie all das enden wird, brauche ich dir ja nicht zu sagen: im Desaster. Spätestens wenn die ersten Buchungen durch das neue System fehlerhaft sind, also harte Fakten vorliegen, dann werden alle wieder zur Vernunft kommen.“ Ehrlich entspannt sich wieder und legt den Zigarillo auf den Rand des Aschenbechers. „Ich muss dich enttäuschen und du solltest lieber weiter an deinem Zigarillo ziehen“, unterbricht Priesberg seinen Kollegen. „Der Projektleiter hat auch dafür gesorgt, dass niemand ein fertiges System haben will, sonst verschwindet ja die Kreativität und am Ende kommen schlechte Vibes auf.“ Ehrlich überlegt: „Schon dämonisch genial: Dein Projektleiter hat ein unwiderlegbares Kommunikationssystem geschaffen und Fakten durch Gefühle ersetzt. Allerdings gelingt das nur so lange, wie dessen Abteilung brauchbaren Output erzeugt, also ihre Kosten einspielt. Wenn nicht, dann hört auch dieses kreative Orchester ganz schnell auf zu spielen.“ „Dann besteht am Ende doch noch aller Grund zur Hoffnung“, schließt Priesberg erleichtert. Eingangsabbildung: © iStock.com/ Comeback Images Jens Köhler Dr. Jens Köhler, BASF SE, fokussiert sich auf die Digitalisierung in Forschung und Entwicklung. Sein Spezialgebiet ist die Regulation sozialer Komplexität zur Effizienz- und Effektivitätssteigerung von Projektteams. Anschrift: BASF SE, RGQ/ IM, 67056 Ludwigshafen, eMail: Jens.Koehler@basf.com Kolumne Schöne neue Welt Die Kolumne „Ehrlich und Priesberg“ möchte mit unterhaltsamen Dialogen rund um das Thema „Mensch-- Kommunikation, Verhalten, Entscheidungen“ Denkanstöße für den PM-Alltag geben.