eJournals PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL 35/1

PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
pm
2941-0878
2941-0886
UVK Verlag Tübingen
10.24053/PM-2024-0002
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/31
2024
351 GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.

Ein „Hilfsmotor“ mit Start-up-Feeling

31
2024
Oliver Steeger
pm3510004
4 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 01/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0002 Wie ein DigiLab die öffentliche Verwaltung verändert Ein „Hilfsmotor“ mit Start-up-Feeling Oliver Steeger Was der estnische Kollege über konsequente Digitalisierung erklärte, rang Marina Zöfeld und René Binnewerg Staunen ab. Jeder Bürger Estlands, so sagte ihnen der Kollege, hat eine persönliche Nummer, eine ID. Diese ID ist wie der Schlüssel zu seinem persönlichen digitalen Datentresor. In diesem Tresor sind zentral Daten hinterlegt, etwa der Führerschein, ÖPNV-Tickets, Stromrechnungen oder Telefondaten. Sofern es der Bürger ausdrücklich erlaubt, können Behörden und Privatunternehmen aus diesem Datentresor Informationen abrufen oder dort hinterlegen. Beispielsweise sehen Ärzte den Impfstatus ein. Oder Verkehrsunternehmen überprüfen den Wohnort. Alles transparent und gemäß europäischem Datenschutz. Was die beiden Hamburger staunen ließ, war nicht die Software selbst. Sondern die Tatsache, dass diese Digitalisierung so breit akzeptiert wird. Bis in die Behörden hinein. Das estnische Modell führte ihnen auch vor Augen, weshalb sich Deutsche mitunter so schwer tun mit der Digitalisierung. Es ist nicht die Technik. Sondern die Akzeptanz. Digitalisierung kann Arbeitsweisen, Vorstellungen von Datenschutz oder liebgewonnene Gewohnheiten verändern. Das hat man in Deutschland nicht besonders gerne. Dies ist der Stachel, der Marina Zöfeld und René Binnewerg im Fleisch sitzt. Sie leiten das DigiLab im Landesbetrieb Straßen, Brücken und Gewässer Hamburg, kurz: LSBG. Und sie sind Projektmanager. Sie wollen daran mitwirken, Mobilität und Verkehr in ein neues Zeitalter zu führen. Mit Digitalisierung. Das mag etwas groß klingen, sagen sie. Aber: Sind vier Millionen Menschen in der Hansestadt künftig intelligenter geleitet unterwegs- - dann macht dies einen Unterschied. Zum einen für die in die Jahre gekommene Infrastruktur Hamburgs. Zum anderen für Klimaschutz und Nachhaltigkeit. „Wenn wir die Menschen mit digitalen und verlässlichen Angeboten zum Umdenken bekommen, ist das ein Riesenschritt“, sagen sie. Etwa, indem die Hamburger andere Verkehrsmittel wählen. Statt Auto beispielsweise den Bus oder die Bahn. Doch bevor andere umdenken können, muss ihre Behörde umdenken. Das weiß man im LSBG. Anstöße dafür kamen auch von René Binnewerg und Marina Zöfeld-- und von ihrem hochagilen „DigiLab“, dass sie mit einigen Mitstreitern gegründet haben. Im DigiLab treibt René Binnewerg gemeinsam mit Marina Zöfeld die digitale Transformation der Hamburger Infrastruktur voran. Dort entstand beispielsweise Software zur Stauprognose, für Verkehrsmanagement und zur Koordination von Baumaßnahmen. Derzeit arbeiten sie an einer Software, die lernen kann und Verkehrsmanagement mit künstlicher Intelligenz verbindet. Das ist, wie die beiden meinen, ein neuer Weg. Manchmal auch ein mühsamer Weg: Von ihren Projekten und der agilen Arbeitsweise müssen sie andere immer wieder überzeugen. „Wege entstehen dadurch, dass man sie geht“, zitiert René Binnewerg den Dichter Franz Kafka. Hamburg lebt von seinen Wegen, um in diesem Wortbild zu bleiben. Buchstäblich. Die Infrastruktur ist das Kapital der Hansestadt. Sie liegt an einem Verkehrsknotenpunkt. Wer in Europa von Ost nach West oder von Süd nach Nord reist-- der muss häufig Hamburg passieren. Zudem hat Hamburg den größten Seehafen Deutschlands und drittgrößten Containerhafen Europas. Seine Infrastruktur ist Segen und Fluch zugleich. Segen für die prosperierende Handelsmetropole. Und Fluch: Hamburg kann den wachsenden Verkehr kaum noch aufnehmen. Die Kapazität platzt aus allen Nähten. Hinzu kommt die laufende Instandhaltung an Straßen und Brücken. Rund 700 Mitarbeiter sind im LSBG für weite Teile der Hamburger Infrastruktur zuständig-- von den Hauptverkehrsadern bis hin zu Elbbrücken oder Nebenstraßen im Stadtgebiet. René Binnewerg kam 2016 zum LSBG. Er sollte Prozessmanagement-Projekte durchführen. Er traf auf Marina Zöfeld. Sie ist seit 2010 im LSBG und zu dieser Zeit Projektleiterin in der Strategischen Organisationentwicklung. „Wir stellten ziemlich schnell fest, dass wir bestimmte Dinge sehr ähnlich sahen“, erklärt sie. Eine Erkenntnis: Es braucht Veränderung im LSBG. Für diese Veränderung braucht die Verwaltung Unterstützung. Unterstützung in Form eines „Hilfsmotors“ wie René Binnewerg es nennt-- eines „DigiLabs“ als Keimzelle für Digitalisierung und neues Projektmanagement. Dass es nicht einfach sein würde, solch einen Digitalisierungs-Hilfsmotor durchzusetzen - darüber machten sich Marina Zöfeld und René Binnewerg keine Illusionen. Man wies ihre Ideen zurück. Ein klares, hartes „nein“. Das schmerzte. repräsentative Studie zum Anteil der Projektarbeit in Deutschland 2023 uvk.de Reportage | Ein „Hilfsmotor“ mit Start-up-Feeling 6 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 01/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0002 Doch der Schmerz tat etwas, das nicht im Drehbuch einer Verwaltung stand: Er stachelte die beiden DigiLab-Visionäre weiter an. Um ihre Hartnäckigkeit und die zwingende Logik ihrer Argumente kam man auf Dauer nicht herum. Zumal es sich bei Marina Zöfeld und René Binnewerg um loyale Mitarbeiter handelt. Sie spielen mit offenen Karten und sind bis zur Selbstaufgabe der Sache verpflichtet. Dann die revidierte Entscheidung: Macht einfach! Allerdings ohne weitere Mitarbeiter, ohne Budget und ohne weitere Unterstützung. Dies reichte den beiden fürs Erste. „Macht einfach“ heißt für sie-- machen! Zwei Glücksfälle kamen ihnen zu Hilfe. Der eine Glücksfall: Hamburg bekam Ende 2017 den Zuschlag für den ITS-Weltkongress 2021, dem weltweiten Leitkongress für intelligente Transportsysteme. Hamburg wollte sich als weltoffene Stadt mit zukunftsweisender Mobilität präsentieren. Die Hansestadt hatte nun Projekte aufzusetzen: Es mussten intelligente Transportsysteme in Hamburg auf die Beine gestellt werden. Der zweite Glücksfall waren die „Dieselmilliarde“, das Bußgeld der Autokonzerne nach dem Dieselskandal. Die Politik wollte mit den Milliarden schnellstmöglich Verkehrsprojekte fördern- - und rief auf, sich um Zuwendungen zu bewerben. Marina Zöfeld und René Binnewerg ließen sich dies nicht zweimal sagen. Sie brachten ihre Anträge auf den Weg. Macher-Typen. Plötzlich waren Projekte für das DigiLab greifbar und Geld im System. Was nun fehlte waren Mitarbeiter. „Wir durften noch kein Personal einstellen“, berichtet Marina Zöfeld, „deshalb unterstützten uns externe Berater in den Projektteams.“ Das kleine Team des DigiLabs schrieb eilig Beraterstellen aus, ein oft zeitraubender Verwaltungsakt. „Häufig stand bürokratisch gegen pragmatisch“, sagt René Binnewerg. Innerhalb eines Jahres stockte das Team auf sechs externe Berater auf und holte Projekte zur Digitalisierung herein. Dr. Melanie Mergler, damals externe Beraterin und heute feste LSBG-Mitarbeiterin, spürte den Start-up-Spirit inmitten einer Behörde. „Wir hatten solche Projekte noch nie gemacht. Es gab nicht einmal anderswo Vergleichsprojekte dazu“, berichtet sie, „und wir sollten solche Vorhaben innerhalb eines Jahres umsetzen! “ Zigtausende Baustellen an Straßen und Brücken fallen in Hamburg an, wie in jeder anderen Großstadt auch, immer verbunden mit Fahrbahnverengungen, Straßensperren, Ausweichverkehr und Stau. Eine Vielzahl von Playern mischen mit: etwa Bezirks-Tiefbauämter, Wasserversorger, Bahnen, Hafenbehörde, Stromnetzbetreiber. Lange Zeit lief die Abstimmung zwischen den Playern auf konventionellem Wege: auf Sitzungen, in denen Excel-Listen diskutiert wurden. Doch häufig wurden Straßen dann doch mehrmals hintereinander gesperrt- - weil der eine Leitungen erneuerte und ein halbes Jahr später der andere Kabel verlegte. „2017 hat der LSBG eine digitale Lösung mit Hilfe eines Dienstleisters entwickelt, die eine Koordination zwischen den bauenden Playern ermöglichte“, sagt René Binnewerg. „Die Lösung erlaubt es, auf digitaler Basis systematisch miteinander zu reden, gemeinsam zu planen und Projekte abzustimmen.“ Er meint die Software ROADS City (Roadwork Administration and Decision System). Dank ROADS sind heute alle wesentlichen Baumaßnahmen in der Stadt Hamburg auf einer digitalen Oberfläche zu erkennen-- und zwar auf einen Blick. Die städtischen Baustellen-Partner greifen auf die Daten zum Beispiel mittels einheitlicher Touch Tables zu: Planungstische mit großflächigem Touch-Display. Darüber hinaus gibt es auf jedem Rechner einen Zugang zum System. Über diese beiden Wege haben die Partner Zugang zum gleichen Datenbestand. Sie können sehen, wann, wo, von wem und in welchem Zeitraum welche Baustelle geplant ist-- und wie ihre eigenen Baumaßnahmen in den Gesamtplan passen. Das Prinzip ist einfach: Das System präsentiert den Beteiligten eine interaktive Straßenkarte. In dieser Karte wird jede geplante Baumaßnahme so früh wie möglich erfasst (städtische Baumaßnahmen haben eine Vorlaufzeit von bis zu fünf Jahren! ). Auf der Karte springen die Wechselwirkungen zwischen den Baumaßnahmen deutlich ins Auge: Hindernisse werden deutlich und Abhängigkeiten sichtbar. Das System ermöglicht dann Planspiele: Was bedeutet es für den Verkehr, wenn beispielsweise eine Baustelle um ein halbes Jahr vorgezogen wird? Oder mit einer anderen, späteren Baustelle zusammengelegt wird? Sogar spezielle Details wie Umleitungen, Schwerlastrouten oder Ferien und Großevents kennt das System mittlerweile. Dieses abgestimmte Vorgehen funktioniert nur, wenn bei allen Beteiligten die Prozesse für eine Baumaßnahme gleich ablaufen. Damit ist René Binnewerg beim Projektmanagement. Ein gemeinsamer Prozessablauf, sagt er, eröffnet die Chance zu kooperieren und gemeinsam zu bauen. Sein Team erarbeitete ein „Prozesshaus“ für und gemeinsam mit den Partnern, ein einheitliches Prozess-Raster für Baumaßnahmen. Anfangs war es nicht leicht, die Partner für dieses Prozesshaus zu gewinnen. Doch René Binnewerg hielt ihnen die Vorteile vor Augen, die sie selbst aus den abgestimmten Prozessen ziehen. Beispielsweise können die Partner Kooperationen bilden und Baumaßnahmen zusammenlegen. Beispielsweise reißt der Stromversorger eine Straße auf und verlegt seine Stromleitungen. Dann legt der Gasversorger seine Leitung daneben-- und schließt die Baustelle wieder. Die Kosten werden geteilt. Solche Synergien sind im Budget zu spüren. Eigentlich genial. Nur-- der Bürger selbst spürt wenig von dem Benefit, der ihm durch die Software entsteht. Er könnte ihn spüren. Er steht weniger im baustellenbedingten Stau. Doch das spürt man nicht. Wie auch? Nur Stau tut weh. „Nicht- Stau“ bleibt unbemerkt. Dies findet René Binnewerg ein Stück weit tragisch. Die Arbeit der Ingenieure und die sorgfältige Koordinierung wird draußen kaum gesehen, sagt er, und nach einer kurzen Pause fügt er an: „Der LSBG steckt voller Helden, die selten als Helden erkannt werden.“ Dies schließt auch die Helden im DigiLab ein: 2019 offiziell gegründet hat das Lab einen Senkrechtstart hingelegt. Heute arbeitet hier ein vierzigköpfiges Team. Die Vorreiter-Rolle, die das DigiLab deutschlandweit einnimmt, ist unbestritten. Besucher aus anderen Städten geben sich die Klinke in die Hand. Im vergangenen Jahr informierte sich der Münchener Stadtrat bei den Smart-City-Pionieren in Hamburg. Kooperationen mit Städten wie Stuttgart, München oder Dortmund haben sich entwickelt. 2021 stellte sich das DigiLab organisatorisch um auf einen Community-Ansatz (ohne klassische Büros) und selbstorgani- Reportage | Ein „Hilfsmotor“ mit Start-up-Feeling 7 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 01/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0002 sierende Teams. Das DigiLab warb Fachkräfte unter anderem aus Indien an; sie sind nun festangestellt bei der Stadt Hamburg. Englisch gilt als Zweitsprache im DigiLab, KI als unabdingbare Schlüsseltechnologie. Die Räume des Labs gleichen mehr einem kalifornischem Tech-Start-up als einer hansestädtischen Verwaltung. Eingerichtet wurden ein Studio für Ton- und Videoaufzeichnung, ein Raum für virtuelles Arbeiten mit VR-Brille sowie ein Drohnen- Leitstand. Da gibt es Sprossenwände, Sitzsäcke und Trimmräder an den Arbeitsplätzen. Zwei Mitarbeiterinnen haben leuchtende Acrylbilder auf die Flurwände gemalt. Das Team nutzt Sitzecken für Besprechungen oder zum Brainstormen; sie sitzen unter Fototapeten der Elbphilharmonie oder des alten Elbtunnels. René Binnewerg und Marina Zöfeld halten dies für nötige und sinnvolle Investitionen. Fachkräfte zu gewinnen ist nicht leicht, schon gar nicht für eine Verwaltung. Sie können im DigiLab nicht die in der internationalen Wirtschaft üblichen Gehälter zahlen. Doch in einer Verwaltung kann man mit Vorteilen punkten, die die profitorientierte Wirtschaft nicht bietet: Etwa, einen Beitrag zu Mobilitätswende und urbaner Gesellschaft zu leisten. Für Klimaschutz, Gemeinwohl und nachhaltige Zukunft zu arbeiten. Dies spricht Menschen an, die ähnlich intrinsisch motiviert sind wie René Binnewerg, Marina Zöfeld und alle anderen im Team. Nur- - solche Fachkräfte erwarten ein modernes Arbeitsumfeld. Sie wollen bei der Führung auf Augenhöhe sein, Verantwortung übernehmen und sich persönlich weiterentwickeln. Sie suchen das agile Mindset, das René Binnewerg und Marina Zöfeld gemeinsam aufgebaut haben. Die beiden DigiLab-Gründer halten ihre Begegnung für einen Glücksfall- - auch, weil sie in vielem grundverschieden sind (was sich am Ende wieder ergänzt). René Binnewerg ist Volkswirt, Marina Zöfeld Wirtschaftspsychologin. Er geht mit starker Präsenz auf Menschen zu, sie blickt mit psychologischer Brille auf Menschen. „Sie unterstützen sich in ihren Stärken und gleichen ihre Schwächen aus“, sagt Dr. Melanie Mergler, „diese Dynamik strahlt auf das gesamte Team im DigiLab aus.“ Eines haben sie aber gemeinsam. Den Rebellengeist. Rebellengeist kann zwei Wege nehmen: Entweder verdeckt, konspirativ und eigennützig. Oder offen, selbstlos, der Sache verpflichtet und pragmatisch. Marina Zöfeld und René Binnewerg gehen den zweiten Weg. Sie geben acht, den Bogen nicht zu überspannen. Sie suchen Ausgleich und überzeugen durch Erfolge. „Natürlich kann man probieren, bestimmte Neuerungen durchzusetzen“, sagt Marina Zöfeld, „früher oder später läuft man gegen die Wand“. „Besser ist es, Menschen mitzunehmen, indem man ihnen die Vorteile vor Augen führt, die ihnen das Projekt bringt, und sie selbst diese erleben lässt.“ Dazu gehört auch, dass René Binnewerg und Marina Zöfeld mit ihrer Arbeit „anschlussfähig“ bleiben für die Verwaltung. Ein Beispiel: Statt auf rein agiles Projektmanagement setzen sie auf eine hybride Form: Sie bringen Elemente aus dem agilen und klassischen Projektmanagement zusammen. Agilität hilft, flexibel und schnell Ideen umzusetzen. Agilität ist wie eine Aufforderung: Machen! Anfangen! Ausprobieren! Dies spricht René Binnewerg aus dem Herzen. Wieder Franz Kafka: Wege entstehen dadurch, dass man sie geht. Indes, die klassischen Steuerungsmethoden zielen auf die Entscheidungsebene in der Verwaltung, orientieren sich strukturiert an Plänen und Regeln. Diese Elemente bilden gewissermaßen die Verbindungspunkte aus der agilen Welt zur Verwaltungsorganisation: etwa über Phasenpläne, Meilensteine und Abrechnungspunkte beim Controlling. „Wir arbeiten für die Verwaltung mit klassischen Elementen des Projektmanagements, doch das Mindset im DigiLab ist agil“, fasst Marina Zöfeld zusammen, „wir brauchen die Agilität, um nutzerorientierte Produkte für die Bürgerinnen und Bürger zu entwickeln.“ Mit seinen Projekten hat das DigiLab-Team vielfach noch „unter der Motorhaube“ gearbeitet- - und, wie René Binnewerg sagt, „meistens die Symptome gelindert“. Mit Digitalisierung Chefredakteur Professor Steffen Scheurer betrachtet im DigiLab das dreidimensionale Modell einer Hamburger Brücke. Foto: Oliver Steeger Reportage | Ein „Hilfsmotor“ mit Start-up-Feeling 8 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 01/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0002 dazu beigetragen, beispielsweise Stau zu reduzieren- - etwa durch besser koordinierte Baustellen oder Echtzeit-Übersicht über Absperrungen. Dies alles heilt noch nicht die eigentliche Krankheit: die chronische Überlastung der Hamburger Straßen vor allem durch Autoverkehr. Das Therapiekonzept jetzt heißt: digital unterstützte Verkehrswende und vernetzte Mobilität. Das neue Projekt „#transmove“ ist der Schritt dorthin, sagt René Binnewerg: „Ein großer und wichtiger Schritt in die Zukunft der digital gestalteten, urbanen Mobilität.“ Gewissermaßen der heilige Gral der Digitalisierung von Infrastruktur. Dr. Melanie Mergler leitet die Entwicklung dieser Softwarelösung gemeinsam mit ihrem Kollegen Dr. Christian Messerschmidt. Sie erklärt die Idee hinter ihrem Projekt: Die KI-gestützte Software hilft den Hamburger, das individuell passende Verkehrsmittel zu wählen und dadurch schneller in der Stadt voranzukommen. Und hilft der Verwaltung, intelligenter den Verkehr zu steuern. Dr. Melanie Mergler holt etwas aus, um “#transmove“ zu erklären. In Städten wird Mobilität sorgfältig geplant. Bislang geschah dies mit sogenannter Verkehrsmodellierung. Stark vereinfacht gesagt: Mit soziologischen (Bevölkerung), geographischen (Wo sind Wohnquartiere? Schulen? Bürozentren? ) sowie historischen Verkehrsdaten wurde ein Modell des städtischen Verkehrs entwickelt. Dieses Modell ermöglichte es, Mobilität zu gestalten: etwa Buslinien einzurichten oder zu verändern, Fahrpläne zu entwickeln, Straßen zu bauen oder Ampelschaltungen zu verbessern. Das Problem: Die Verkehrsmodelle stützten sich häufig auf zwei bis drei Jahre alte Daten-- und waren recht statisch. Menschen, die unterwegs sind, verhalten sich dynamisch. Sie entscheiden je nach Wetter, Verkehrslage oder individueller Situation, ob sie mit dem Auto fahren, mit dem Bus, der Bahn oder dem Fahrrad. Und dies jeden Tag aufs Neue. Beispielsweise bei sonnigem Wetter sind in Hamburg viele Radfahrer unterwegs. Bei schlechtem Wetter nicht. Bisherige Verkehrsmodelle berücksichtigen diese Dynamik nicht. Wie viel Busse und Bahnen mehr eingesetzt werden müssen, wenn es morgen zum Berufsverkehr regnet-- darauf hat solch ein System keine Antwort. Das neue System „#transmove“ verfolgt einen Systemwechsel, an dem das DigiLab zusammen mit der PTV Group, Workplace Solutions und dem KIT Karlsruhe (Institute of Technology) arbeitet. Zum einen verarbeitet die Software Echtzeitdaten. Zum anderen arbeitet sie präziser, da sie agentenbasiert ist. Dies bedeutet: Die Software bildet den Verkehr in Hamburg virtuell mit rund vier Millionen digitalen Agenten nach. Jeder dieser digitalen Agenten steht stellvertretend für einen Hamburger Bürger. Diese digitalen Agenten verhalten sich wie die realen Bürger. Sie kaufen ein, fahren zur Arbeit, gehen zur Schule oder Uni, besuchen Freunde oder machen einen Ausflug an den Stadtrand. Es ist, als ob vier Millionen Datenpunkte auf einem virtuellen Stadtplan zu Fuß unterwegs sind, auf dem Fahrrad, im Auto, im Bus oder in der Bahn. Menschen, die ganz normal ihrem Alltag nachgehen. Was geschieht, wenn plötzlich die echten Bürger gestört werden? Angenommen durch morgendliches Schneetreiben mit Eisglätte? Was dann geschieht, zeigen die virtuellen Stellvertreter- - die Agenten- - in einer weiteren Ausbaustufe der Simulation. Die Agenten versuchen, mit der neuen Situation umzugehen. Einige bleiben vielleicht daheim. Doch die meisten wechseln vom Auto oder Fahrrad zu Bus und Bahn (wobei „die meisten“ bei vier Millionen Einwohner heißt: hunderttausende). Dies bedeutet zweierlei: Erstens, es müssten mehr Busse oder andere Mobilitätsangebote (etwa Carsharing) auf die Straßen und mehr Züge auf die Schienen, um den zusätzlichen Bedarf zu bewältigen. Zweitens, die Bürger brauchen auf einer App frühzeitig individuelle Hinweise, mit welchen Verkehrsmitteln sie heute am schnellsten etwa zum Arbeitsplatz oder in die Schule kommen. So etwas ist alles andere als trivial. Wer in das Verkehrsgeschehen einer Millionenstadt eingreift, etwa durch ÖPNV-Empfehlungen oder veränderte Ampelschaltungen-- der muss die Konsequenzen dieser Eingriffe kennen. Wie verändert es den Dr. Melanie Mergler und Dr. Christian Messerschmidt, Projektleiterin und Product Owner des Projektes #transmove, zeigen auf einem Dashboard die aktuelle Hamburger Verkehrslage. Foto: Oliver Steeger Reportage | Ein „Hilfsmotor“ mit Start-up-Feeling 9 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 01/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0002 Verkehr, wenn man 200.000 Bürgern den Umstieg vom Auto auf den ÖPNV empfiehlt? Solche Simulationen erlaubt #transmove. Es rechnet verschiedene Szenarien durch, entwickelt Prognosen und legt Empfehlungen vor. Mehr noch: #transmove lernt aus seinen Empfehlungen der Vergangenheit. Das System schaut nach, welche zurückliegenden Empfehlungen in einer ähnlichen Situation gut funktioniert haben und erfolgreich waren. „Dafür setzen wir künstliche Intelligenz ein“, erklärt Dr. Melanie Mergler. Und: „#transmove“ kann dann perspektivisch beispielsweise die aktuelle Situation mit ähnlichen aus der Vergangenheit vergleichen und erfolgversprechende Maßnahmen empfehlen.“ Hat sich in der Vergangenheit bei Glatteis eine erhöhte Taktung der Bahnen bewährt? Oder eine veränderte Ampeltaktung, um den Weg freizumachen für Busse? Der Vorteil von #transmove liegt auf der Hand. Bürger können schon bald morgens ihre persönliche Mobilität für den Tag besser planen. Bis Ende 2024 werden die von #transmove erstellen Mobilitätsprognosen in die Hamburger App „hvv switch“ integriert. Dann zeigt die App, welches Verkehrsmittel für den jeweiligen Nutzer aktuell optimal ist: Bus, Bahn-- oder vielleicht der E-Scooter? Die App stellt die schnellste Verbindung zusammen. Dieses Projekt verfolgt nicht das Ziel, den Autoverkehr abzuschaffen- - sondern die Mobilitätssysteme intelligent miteinander zu vernetzen. Diese intelligente Verknüpfung von Systemen könnte die Brücke in die Zukunft sein und den wachsenden Verkehr in Hamburg bewältigen helfen. Sicher ist: Die wachsende Mobilität ist ein Grundbedürfnis unserer Zeit. Die Frage ist nicht das „was“, sondern das „wie“. Würden mehr Menschen auf Busse, Bahnen oder Fahrräder umsteigen, könnte dies letztlich auch die Hamburger Straßen und Brücken entlasten, die heute am Limit stehen. Zudem könnte dies den Klimawandel bekämpfen helfen. René Binnewerg behauptet selbstbewusst, dass der Kampf gegen Klimawandel in dichtbesiedelten Metropolregionen entschieden wird, nicht in der Fläche. Kluge Digitalisierung in der Hansestadt sowie ein vielseitiges Angebot an Fortbewegungsmöglichkeiten kann hunderttausende Menschen überzeugen, auf das eigene Auto zu verzichten. Die Projekte in Hamburg bilden dabei einen großen Hebel. Doch das Auto ist nach wie vor des Deutschen liebstes Kind. Nehmen also die Hamburger die digitale Mobilitäts-Unterstützung in ihrem Alltag aufgeschlossen an- - ebenso aufgeschlossen wie die Menschen in Estland ihre ID, den Schlüssel zum ihrem persönlichen Daten-Tresor? Marina Zöfeld und René Binnewerg haben ihre Behörde von der Digitalisierung überzeugt. Die Chancen stehen gut, dass sie jetzt auch die Hamburger Menschen mitnehmen werden. Eingangsabbildung: Marina Zöfeld und René Binnewerg, die Gründer des DigiLabs. Foto: LSBG Anzeige