eJournals PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL 35/2

PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
pm
2941-0878
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UVK Verlag Tübingen
10.24053/PM-2024-0023
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/51
2024
352 GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.

Die Kunst, die Wogen zu glätten

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2024
Oliver Steeger
pm3520004
4 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 02/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0023 Mit einem Projektmanager auf der Deichkrone am Sperrwerk Die Kunst, die Wogen zu glätten Oliver Steeger Unsere Warnwesten sind das Einzige, was hier auf dem Deich leuchtet. Die Wolken hängen tief und reglos über dem Watt. Der Horizont verschwimmt im Sprühregen. Ich erkenne Wattvögeln, die auf stelzigen Beinchen durch das ablaufende Wasser flitzen. Der Deich läuft in einem langen, gleichmäßigen Bogen auf die Silhouette einer Baumreihe zu. Pfannenkuchenflach ist die Gegend hier am Eiderdeich. Alles kalt und grau und ruhig. Der Deich, finde ich, wirkt fast unscheinbar. Sanft und gleichmäßig fällt seine Böschung zum Wattenmeer ab. „Würde dieser Deich brechen, ständen viele Kilometer Nordfrieslands unter Wasser“, sagt mir Jan Stolzenwald. Wie viele Kilometer? Der Ingenieur breitet leicht die Arme aus. „Je nach Stärke der Sturmflut vierzig Kilometer ins Land hinein, vielleicht fünfzig. Das Wasser kann bis nach Rendsburg hinaufgehen.“ Tönning etwa, ein Luftkurort an der Eider, wäre mit seinen 5000 Einwohner geflutet. Teile von Schleswig-Holstein liegen unter dem Meeresspiegel. „Deshalb verstärken wir den wichtigen Eiderdamm“, sagt Jan Stolzenwald, der dieses Projekt leitet. Hinter uns, auf der Deichkrone, passiert ein Kipper mit Baumaterial. Jan Stolzenwald-- krauses Haar, Bart, Jeans, schwere Schuhe-- winkt dem Fahrer zu. Jetzt im Oktober ist noch Bausaison an Norddeutschlands Deichen. Doch bald kommen die Sturmfluten. Dann muss die Baustelle ruhen. Ich habe nie eine Sturmflut erlebt. Ich habe nur davon gelesen, etwa in der Novelle „Schimmelreiter“. Theodor Storm schreibt von gelbbraunen Wellen, die unaufhörlich wie mit Wutgebrüll an den Deich hinaufschlagen. Von tobendem Wind und Wasser, schäumender Gischt. Dahinjagenden Wolken, Geschrei der Vögel. Von der Furcht der Menschen, dass „die Deiche ihre Not haben“. Die Furcht, dass Deiche ihre Not haben werden, hat hier heute kaum jemand noch. Das liegt auch daran, dass Schleswig-Holsteins Küstenschutz als effektiv und sicher gilt. Ingenieure wie Jan Stolzenwald wissen, wie er der vom Sturm aufgepeitschten Flut die Kraft nimmt. Und wie sie auch anderem Gegenwind begegnen: etwa der Sorge der Menschen um die geschützten Wattvögel. Ich blicke Jan Stolzenwald in sein freundliches Gesicht. Ich bin überzeugt, dass er beides kann. Mit Naturkräften und Menschen umgehen. Wir laufen weiter über den Eiderdamm. In der Ferne arbeitet ein Bagger auf der Deichkrone und füllt einen Kipper. Jan Stolzenwald erläutert mir seinen Projektplan. Bis 2026 soll der vier Kilometer lange Deich mit dem amtlichen Namen „Eiderdamm Nord“ saniert sein. Es lässt sich gut erkennen, wie weit das Projekt bereits vorangeschritten ist. Der sanierte Teil hat einen neuen, grauen „Belag“, in der Sprache der Deichbauer Deckwerk genannt. Er besteht aus eckigen, hellgrauen, rauen Betonsteinen, die an grobes, überdimensioniertes Kopfsteinpflaster erinnern. Der unsanierte Teil des Deiches hat ein glattes, dunkles Asphalt-Deckwerk. In den nächsten Jahren wird der Deich Stück für Stück seine Farbe verändern von Schwarz zu warmgrau. Der in den 1960er Jahren errichtete Eiderdamm ist etwas in die Jahre gekommen. Das Problem: Der damals als Deckwerk verwendete Asphalt wurde rissig. Wasser drang in den Deich ein und spülte Sand aus. Der Deich sackte zusammen. Früher lag die Kronenhöhe des Deichs bei 8,70 Metern. Heute erreicht sie an manchen Stellen 8,40 Meter oder noch weniger. Damit ist der Deich immer noch „wehrhaft“, wie es im Deichschutz heißt. Messlatte für diese Wehrhaftigkeit sind Extremhochwasser, die statistisch alle 200 Jahre auftreten. Doch wie lange noch? Zum einen fehlt es dem Deich an Höhe. Zum anderen lässt der Klimawandel den Meeresspiegel weiter steigen. Im Mai 2023 gab es den ersten Spatenstich und den Startschuss dafür, den Eiderdeich sturmflutfest und zukunftssicher zu machen. Im Allgemeinen ist solch eine Ertüchtigung kein schwieriges Vorhaben. Doch hier am Eiderdeich liegen die Dinge nicht so einfach, wie dies auf den ersten Blick scheinen mag. Obwohl der Deich nur von Wattenmeer, Wiese und einer Straße umgeben ist, bleibt kaum Platz zum Bauen. Denn die Anlage wird von zwei Naturschutzgebieten „eingezwängt“. Das macht’s schwierig. Reportage | Die Kunst, die Wogen zu glätten 5 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 02/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0023 Jan Stolzenwald hat sieben verschiedene Planungsvarianten durchgespielt, bevor er dafür eine gute Lösung gefunden hat. Er schaut mich vergnügt an. „Ich habe immer schon solche besonderen Herausforderungen bei meinen Projekten gesucht“, sagt er. Vor einigen Jahren hat er Entwicklungshilfe geleistet in Vietnam, in monsungeplagten, von Erosion bedrohten Landstrichen ohne die Mittel für teuren Küstenschutz. Die Herausforderungen am Eiderdamm mögen weniger dramatisch sein. Aber nicht minder spannend für ihn, wie er sagt. Bei seiner Lösung spielt die Böschung eine wichtige Rolle. Was er damit genau meint, erklärt er mir später im Baucontainer am Eider Sperrwerk, dem größten deutschen Küstenschutz-Bauwerk, zehn Autominuten von der Baustelle am Deich entfernt. Von diesem Container aus treibt Jan Stolzenwald mit seinem kleinen Team das Deich-Sanierungsprojekt voran. Neben ihm wirken eine Bauzeichnerin und ein Bautechniker mit, der draußen die Baustelle überwacht. Hier gibt es nach dem herbstlich-kalten Baustellenbesuch Kaffee. Wir schauen gemeinsam auf einen Plan, einem Querschnitt des Deiches, an dem mir Jan Stolzenwald erklärt, weshalb bei seinem Projekt die Böschung einen Dreh- und Angelpunkt spielt. „Deiche müssen sanft abfallende Böschungen haben“, beginnt er. Dies erinnert mich erneut an Theodor Storms Schimmelreiter. In der Novelle hatte der Deichgraf Hauke Haien das Meer lange beobachtet und war ebenfalls zu dieser Erkenntnis gekommen. Denn was in früher Zeit Menschen auch immer dem Meer entgegengestellt hatten, mühsam steil aufgekippte Erdwälle oder Wände aus bis zu vier Meter hohen Holzbohlen-- alles riss das Meer wieder fort. Es bot dem Meer zu viel Angriffsfläche. Hauke Haien machte seinen widerspenstigen Deichbevollmächtigten klar, dass „der milde Abfall nach der Seeseite den Wellen keinen Angriffspunkt entgegengestellt.“ Aber-- weshalb? Diese Frage mündet im Baucontainer in einer langen Diskussion. Es geht um Physik von Wasser, Wellenenergie und Wellenbewegungen. Jan Stolzenwald ist in seinem Element. Meine Überlegung ist: Steigt der Meeresspiegel künftig um einen Meter, müssen alle Deiche Norddeutschlands ebenfalls um einen Meter wachsen. „Im Prinzip ja“, sagt Jan Stolzenwald, „aber die Deichhöhe allein reicht nicht aus. Wichtig ist das Zusammenspiel von Höhe und Neigung der Außenböschung.“ Ich verstehe das, was mir Jan Stolzenwald nun erklärt, so: Bei einer Sturmflut steigt nun der Wasserstand durch die Tide sowie durch den Weststurm, der Wasser an die Küste drückt. Hinzu addieren sich die Wellen, die vom Sturm getrieben an den Deich branden. Also man hat mit zwei „Gegnern“ im Küstenschutz zu tun. Vereinfacht gesagt: Die Hälfte der Deichhöhe schützt vor dem Flut-Wasserstand (erster Gegner). „Der Rest, den wir auf den Deich packen, ist gegen den Wellenauflauf“, sagt Jan Stolzenwald. Zweiter Gegner. Wie kommt nun die Neigung der Böschung zur Seeseite in Spiel? Der technische Kniff besteht darin, dass man der Welle schon die Kraft nimmt, bevor sie gegen den Deich brandet und die Deichkrone erreicht. Dies hat der Deichgraf Hauke Haien verstanden. Eine geschwächte Welle ist für den Deich weniger gefährlich. Anders: Wenn man vor dem Deich den Wellen die Energie nimmt, braucht man den Deich beispielsweise nicht so hoch und massiv zu bauen. An diesem Punkt bekommt die Böschung ihren Auftritt. Man muss dafür wissen, dass wir von der Welle auf dem Meer nur einen Teil sehen. Denn die Welle ist eine energiereiche Wasserwalze, die sich um ihre eigene Achse dreht (ähnlich einem Nudelholz). Ein großer Teil dieser rotierenden Wasser- Walze liegt unter der Wasseroberfläche. Nun die Pointe: Auf dem Weg zum Ufer hin, wenn das Meer flacher wird, bekommt diese Walze „Bodenkontakt“ und wird unten hart abgebremst. Die Welle verformt sich zu einer Art Ellipse und bricht. Was wir am Ufer als Welle wahrnehmen sind häufig die noch immer kraftvollen Trümmer der Wasserwalze. Und jetzt verstehe ich den Sinn der Böschung: Sie ist eine natürliche Bremse für die Wellen. Das sanft ansteigende Gelände absorbiert Wellenenergie. An der Westküste Schleswig- Holsteins kommt hinzu, dass das flache Wattenmeer mit den vorgelagerten Inseln die Wellen bremst. Schon weit- - häufig kilometerweit-- vor der Deichlinie berühren Wellen den Meeresgrund im flachen Wasser. Das Wattenmeer ist also nicht nur ein Refugium für bedrohte Wasservögel und Seepflanzen, sondern auch ein natürlicher Küstenschutz. Aber-- durch den Klimawandel steigt auch der Wasserspiegel im Wattenmeer. Damit kann es die Wellen weniger bremsen. „Und damit trifft mehr Wellenenergie auf den Deichkörper“, erklärt Jan Stolzenwald. Wow! Der Klimawandel erhöht nicht nur den Meeresspiegel, sondern macht hier auch die Deiche gegen die Energie der Wellen wehrloser. Da sind zwei Effekte im Spiel. Man braucht also höhere Deiche und eine größere Böschung. Genau dies ist das Problem hier am Eiderdamm. Zum einen ist der Untergrund hier sehr weich. Bei einem höheren und damit schwereren Deich würde es zu Setzungen kommen. Zum anderen die eingezwängte Lage. Es fehlt Platz für eine größere und weiter ins Meer reichende Böschung. Direkt vor dem Deich liegt der streng geschützte Nationalpark Wat- Die menschengemachte Trennlinie zwischen Meer und Land: Deichbau hat in Norddeutschland eine besondere Bedeutung. Eine gesellschaftliche Aufgabe. Foto: Oliver Steeger Reportage | Die Kunst, die Wogen zu glätten 6 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 02/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0023 tenmeer, ein lebenswichtiges Reservat unter anderem für Vögel. Rund 140 Meter liegen zwischen der Deichkrone und der Grenze des Nationalparks. Eine Verlängerung der Böschung würde das empfindliche Ökosystem beeinträchtigen. Auch auf der anderen Deichseite- - zum Land hin- - erstreckt sich hinter einer Landesstraße ein Naturschutzgebiet. Der Deich hat also keinen Platz zu wachsen. Weder in die Höhe noch in die Breite. Mit anderen Worten: Den weit auslandenden, grasbewachsenen und von Schafherden bevölkerten „Klimadeich“, wie man ihn so häufig in Norddeutschland sieht, konnte man hier nicht verwirklichen. „Trotzdem wollen wir für den Eiderdamm das Sicherheitsniveau eines Klimadeichs erreichen“, erklärt Jan Stolzenwald. Dafür setzt er beispielsweise an der Oberfläche der Böschung- - dem Deckwerk- - an. Das Kalkül: Je unebener und rauer das Deckwerk ist, desto mehr nimmt es der Welle die Kraft. Das Deckwerk wird eine Art „Feile“. Diese grauen, klobigen Betonsteine, über die wir auf der Deichböschung gelaufen sind- - sie bilden einen raffinierten Mechanismus, der Welle zusätzlich Energie zu entziehen. An dieser Lösung hat Jan Stolzenwald lange getüftelt. Er ließ sogar Erkenntnisse, die niederländische Wissenschaftler im Wellenkanal gewannen, in seine Konzepte einfließen. Dann war er sich mit einer Lösung sicher. „Wir nehmen den alten, brüchigen Asphalt des Damms ab und ersetzen ihn mit einem neuartigen Deckwerk aus speziellen Betonsteinen“, erklärt Jan Stolzenwald. Eine Art Kopfsteinpflaster aus schuhgroßen, unebenen Steinen und breiten Fugen. Zudem stehen einige Steinreihen rund fünfzehn Zentimeter aus dem Pflaster heraus. Hier reibt sich die Welle auf. Dank dieses Kunstgriffes hat Jan Stolzenwald den Deich selbst nur um dreißig Zentimeter erhöhen müssen und die Böschung kaum verlängert. Hinzu kommt: Jan Stolzenwald verwendet den Asphalt, der bislang den Deich bedeckte, wieder. Er wird vor Ort zerkleinert und als Baumaterial für den Deichkörper eingesetzt. „Es wäre Unsinn gewesen, die geschätzt 60.000 Tonnen Asphalt als Schutt zu entsorgen“, erklärt er, „wir haben einen Weg gefunden, den Asphalt hier vor Ort aufzubereiten und sinnvoll für die Bildung einer wasserdichten Schicht im Deich einzusetzen.“ Das sei zum einen nachhaltig, zum anderen senke es die Baukosten. Er ist stolz auf die Lösung, die er für den Eiderdeich gefunden hat. Wer Jan Stolzenwald länger zuhört, bemerkt einen Akzent, der nicht ins Norddeutsche passt. „Ich stamme aus dem Süden“, sagt er, „am Rhein geboren, dann aber in Nürnberg aufgewachsen. Meine Mutter spricht noch rheinländisch.“ Wie kommt ein Rheinland-Franke dazu, sich hier im Norden für Deiche zu begeistern? Jan Stolzenwald führt dies zurück auf seine Kindheit. Die Sommerurlaube verbrachte er im familieneigenen Ferienhaus in den Niederladen. Dort ist er erstmals dem Deichbau begegnet. „In den Niederlanden gibt es für Kinder wunderbare Museen zum Küstenschutz“, erklärt er. Während seines Studiums- - zuletzt an der TU Hamburg- - weckte ein ostfriesischer Dozent sein Interesse. „Irgendwann wurde in mir der Schalter umgelegt, und ich beschloss, mich in dieses Thema zu vertiefen“, berichtet er, „das war ein längerer Prozess.“ Er denkt nach und ergänzt: „Ich fühle mich heute zum Meer hingezogen.“ Dann: „Vielleicht war für mich als Bauingenieur auch interessant, dass Deiche gewissermaßen aus der Reihe fallen und etwas anderes sind als Straßen oder Häuser. Der Statik galt nie so richtig meine Leidenschaft. Stattdessen habe ich bei mir ein Verständnis für Strömung oder Wellen entdeckt.“ Zuletzt fügt er an: „Für mich ist es wichtig, dass meine Arbeit für die Gesellschaft Nutzen bringt.“ Dies erinnert ihn an seinen Großvater. Er war Wagenbauingenieur. Beim TÜV hat er damals an der Entscheidung mitgewirkt, dass LKWs auf Autobahnen nicht schneller als 100 Stundenkilometer fahren dürfen. „Er wollte zum Wohl der Gesellschaft wirken“, sagt Jan Stolzenwald, „mir geht es ähnlich. Ich will die Lebensgrundlage der Menschen schützen.“ Dabei hat er auch eine globale Perspektive: Die Hälfte der Menschheit wohnt küstennah. „Küstenschutz“, sagt er, „ist weltweit ein wichtiges Thema.“ Dort, wo Jan Stolzenwald geboren und aufgewachsen ist-- in der Mitte und im Süden Deutschlands- - machen sich nur wenige ein Bild von der Bedeutung des Küstenschutzes. Das Leben an der Küste hängt an der Sicherheit der Deiche. Die Älteren hier wissen dies häufig aus eigener Erfahrung. Sie erinnern sich an die Wassermassen der Sturmflut von 1962, oder sie kennen es aus den Erzählungen ihrer Eltern. „Keen nich will dieken, de mutt wieken,“ sagt man sich hier auf Plattdeutsch („Wer nicht deichen will, muss weichen.“). Die Vorfahren der Menschen hier trotzten ihr Land zäh dem Meer ab. Für ihr bitternötiges Gemeinschaftsprojekt „Deichbau“ hatten alle die Pflicht, Hand anzulegen und am Deich mitzuarbeiten-- oft unerträgliche Lasten neben der ohnehin harten Tagesarbeit. Theodor Strom beschreibt im Schimmelreiter ein solches Deichbauprojekt in alter Zeit. Bei Wind und Wetter rollten aus dem Hinterland unablässig Sturzkarren heran und brachten bei Wind und Wetter schweren, klebrigen Kleiboden zur Baustelle. Der ehrgeizige Deichgraf Hauke Haien sah „ wie die Leute trieften und kaum atmen konnten in der schweren Arbeit vor dem Winde, der ihnen die Luft am Munde abschnitt, und vor dem kalten Regen, der sie überströmte.“ Bauern, die zu dieser Schinderei nicht mehr willens oder fähig waren, machten von dem Spatenrecht Gebrauch. Sie stießen symbolisch ihren Spaten in den Deich, packten ihre Habe und ließen Hof und Land zurück. Den Deichgrafen zu dieser Zeit wehte der Argwohn der Menschen entgegen, ihr Misstrauen, ihre Abneigung, auch ihr Hass. Wer Deiche baute, hatte sich nicht nur gegen das Meer durchzusetzen, sondern auch gegen die Menschen. Heute spricht niemand mehr von Pflichten und Spatenrecht. Küstenschutz ist Ländersache. Was nicht bedeutet, dass Deichbau-Projektmanagern kein Gegenwind mehr ins Gesicht blasen kann. Einwände kommen häufig aus dem Naturschutz. Deichbauer gehen heute anders- - kooperativer- - mit solchen Einwänden um als der fanatische Hauke Haien. Obwohl der Eiderdamm klar außerhalb der angrenzenden Naturreserverate liegt, macht der Schutz am Bauzaun nicht Halt. Da ist zum Beispiel der Seeregenpfeifer. Er steht weit oben auf der roten Liste; die Zahl der Brutpaare ist gerade noch zweistellig in Schleswig-Holstein. Für sie ist auch der Deich ein Platz für Brut und Aufzucht der Jungen. „Die Vögel lieben für den Nestbau das am Deich angeschwemmte Material, das sogenannte Treibsel, etwa Schilf“, erklärt Jan Stolzenwald, „hinzu kommt die willkommene Wärme des sonnenbeschienenen Reportage | Die Kunst, die Wogen zu glätten 7 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 02/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0023 Deckwerks.“ Bei der Planung hatte er sicherzustellen, dass sich die guten Brutmöglichkeiten am Deich nicht verändern. „Wir haben beispielsweise dafür gesorgt, dass das Treibsel weiterhin auf dem Deich liegenbleibt“, sagt er. Nicht ganz so einfach zu lösen war ein anderes Problem, mit dem er anfangs nicht gerechnet hatte. Viele geschützte Seevögel brüten nicht direkt auf dem Deich- - sondern landeinwärts, hinter dem Deich. Von dort müssen die flugunfähigen Jungvögel schleunigst das nahrungsreiche Wattenmeer erreichen. Dabei überwinden sie den Deich. Bislang war dies auf dem glatten Asphalt keine Schwierigkeit. Doch nun ist das Deckwerk rau und ungleichmäßig. Vogelschützer befürchteten, dass die Fugen zwischen den Betonsteinen für die Jungvögel zur tödlichen Falle würden. Und selbst Split zur Füllung würde nicht helfen; das Meer spült dieses Material schnell aus den Fugen heraus. Jan Stolzenwald sah diesen Punkt ein. Der Ingenieur ließ eine erosionsfeste, „vogelsichere“ Technik für das Füllen der Fugen entwickeln. Man entschied sich für ein Verfahren mit Dränbeton. Dann kam das nächste Problem. Einige Steinreihen ragen aus dem Deckwerk gut 15 Zentimeter hervor. Dies soll zusätzlich den Wellen die Energie nehmen. „Fünfzehn Zentimeter sind überschaubar für mich“, berichtet Jan Stolzenwald, „leider sehen das die Jungvögel buchstäblich anders.“ Für sie sind die Steinreihen wie Wände eines Labyrinths. Sie verlieren den Weg zum Meer. Die Sichtachse für die geschützten Jungvögel drohte gestört zu werden. Auch bei der verlorenen Sichtachse fand er eine Lösung, indem er die Steinbarrieren versetzt anordnen ließ „Da stoßen zwei Welten aufeinander“, sagt Jan Stolzenwald, „die des Naturschützers und die des Ingenieurs.“ Das meint er wörtlich. Wie wenig kompatibel die beiden Welten anfangs waren, zeigt sich in einem bezeichnenden Detail. Jan Stolzenwald wollte die Binnenböschung-- also die Deichböschung zum Land hin- - begrünen. Eine bunte, naturnahe, ökologisch hilfreiche Blühwiese sollte entstehen. Er vermutete, der Plan würde Zustimmung der Naturschützer finden, vielleicht sogar Wohlwollen. Doch weit gefehlt! Eine solche Wiese wäre für die Jungvögel ebenfalls ein Hindernis. Also lieber eine nackte Böschung, sodass die Jungen hinaufkommen. „Das sind zwei völlig verschiedene Perspektiven, mit denen wir und unsere Stakeholder auf das Projekt draufgeschaut haben“, sagt Jan Stolzenwald. Doch anders als vielleicht Storms Deichgraf Hauke Haien stellt Jan Stolzenwald Menschen nicht vor vollendete Tatsachen. Er sucht das Miteinander. „Wir haben von Anfang die Naturschützer involviert und geschaut, wie wir Naturschutz und Deichbau gerecht werden“, sagt er. Die Offenheit zahlte sich aus. Beide Seiten verstanden, dass es für den jeweils anderen auch gewisse, unverhandelbare Notwendigkeiten gab. Deichschutz ist wichtig. Vogelschutz ist wichtig. Erkennt man die Bedürfnisse des anderen und nimmt man sie ernst- - so kann man aufeinander zugehen und Lösungen finden. „Ich habe als Ingenieur viel gelernt über die Erfordernisse des Vogelschutzes“, sagt Jan Stolzenwald. Auf der Seite der Naturschützer mag dies ähnlich sein. Der gut entwickelte kooperative Geist zahlt jetzt während der Bauphase seine Dividende. Jan Stolzenwald einigte sich mit den Naturschützern auf eine sogenannte Umweltbaubegleitung, die auf der Baustelle tätig wird- - und beispielsweise während der Brutzeit schon bei Morgengrauen den Dienst aufnimmt. Die meisten Vögel wandern nachts; ihre Nachzügler sammeln Fachleute vor Baubeginn ein. Danach beobachten sie das Gelände. Anfangs hatte man die „Leute mit den Eimern“ auf der Baustelle belächelt. Doch sehr schnell lernte man ihre Hilfe zu schätzen. Jan Stolzenwald erinnert sich an einen besonders mutigen Brutvogel, der sich mitten in der Baustelle niedergelassen hatte. Für viele Bau-Projektleiter sind solch streng geschützten Gäste mitten im Bautrubel ein Alptraum. Doch am Eiderdeich waren schnell die Fachleute zur Stelle. „Wir konnten Eingriffe sofort mit der Artenschutzstelle klären“, sagt er. Eines hat er dabei auch gelernt: Man muss nicht nur die Position des anderen akzeptieren, sondern gründlich verstehen. Die Welt durch ihre Augen sehen. Lernen zu denken wie sie. Anderenfalls kann es selbst bei gutem Willen zu Fehleinschätzungen und Missverständnissen kommen. Graue Steinblöcke decken jetzt den Deich. Der alte Asphalt wird nachhaltig wiederverwendet. Jan Stolzenwald (rechts) erklärt Chefredakteur Prof. Steffen Scheurer, wie das neue Deckwerk dem Wasser die Kraft nimmt. Foto: Oliver Steeger Reportage | Die Kunst, die Wogen zu glätten 8 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 02/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0023 Nicht immer können Projektmanager auf das Prinzip konstruktiven, sanften Interessenausgleichs setzen. Mitunter müssen sie sich dem Druck entgegenstellen und ein Bollwerk gegen Widerstand bilden. Dies erlebte Jan Stolzenwald ausgerechnet bei seinem Ziel, das alte Deckwerk-- den Asphalt-- als Baumaterial wiederzuverwenden. Bei einigen Beteiligten wurden Zweifel laut an dem Plan, den Asphalt vor Ort zu zerkleinern und im Deich einzusetzen. Viele Fachleute und Gutachter hatten dem Konzept ihren Segen gegeben. Trotzdem wurde immer wieder versucht, Jan Stolzenwald von seiner Idee abzubringen. Sie ihm „madig zu machen“, wie er sagt. Über Monate kämpfte er mit Einwänden, Ablehnung, „Dasgeht-niemals“-Kritik. Mit Rückendeckung seiner Behörde bestand Jan Stolzenwald auf seinem Konzept. „Doch die Brachialität, mit der man dieses Konzept zu verhindern suchte, hat mich überrascht,“ sagt er, „wenn einem einer über Wochen erzählt, dass das, was man über vier Jahre sorgfältig geplant hat, eigentlich Humbug ist-- das perlt nicht mehr an einem ab.“ Das perfide Störfeuer, das ihn Zweifeln machen sollte am eigenen Plan, belastete ihn; er nahm die Sache auch nach Feierabend mit heim. Dennoch setzte er sich am Ende durch. „Dadurch haben wir etwa zwei bis vier Millionen Euro Mehrkosten vermeiden können“, sagt er. Triumph liegt dabei nicht in seiner Stimme, eher Bedrückung. Zusammenarbeit in Projekten stellt er sich anders vor. „Deiche sind meine Leidenschaft“, sagt Jan Stolzenwald unumwunden. Er hat seine Berufung gefunden. Ist er auf Reise, hält er immer Ausschau nach Deichen. In den Niederlanden- - selbst bei privaten Urlauben- - fachsimpelt er mit dortigen Deichbauern. „Der Vorteil der Niederländer ist, dass in ihrer Gesellschaft der Deichbau sehr tief verankert ist“, erklärt er, „die Niederländer wissen, dass es ohne die Deiche ihr Land nicht geben würde. Entsprechend innovativ ist man dort.“ Unlängst war er in England. Dort schaute er sich die britischen „Sea Walls“ an, mächtige Verteidigungsanlagen gegen Sturmfluten, die häufig auch Strandpromenaden aufnehmen. „So etwas haben wir hier noch nicht gemacht“, sagt er, „vielleicht kann man die Prinzipien mal aufgreifen.“ „Ist Deichbau eine Kunst? “, frage ich. Jan Stolzenwald schüttelt langsam den Kopf. „Wir Wasserbau-Ingenieure haben einen Werkzeugkoffer, mit dem wir fast jedes Projekt lösen können“, sagt er. Moment- - fast jedes Problem? „Es gibt bestimmte Sonderprojekte, bei denen man kreativ werden muss“, antwortet er. Ein solches „Sonderprojekt“ hat er gerade auf dem Schreibtisch. Es betrifft Helgoland. Hier am Eiderdamm ist wenig Platz für den Deich. Auf der kleinen Insel Helgoland ist kaum Platz für Böschungen. Eigentlich müsste man in den sauren Apfel beißen und massiv in die Höhe bauen. Aber: Der Damm müsste meterhoch sein- - ein Unding! „Mit meinem üblichen Werkzeugkoffer komme ich so nicht weiter”, sagt Jan Stolzenwald. Doch solche Projekte jenseits des Üblichen fesseln ihn. Er ließ Helgoland als Modell nachbauen und tüftelte im Wellenbecken des Ludwig-Franzius-Instituts der Leibniz Universität Hannover an Lösungen. Gefunden hat er eine. Doch bevor es mit dem Deichbau auf Helgoland losgeht, muss der Eiderdeich fertigwerden. Im Herbst bricht die Zeit der Sturmfluten an. Traditionell kommen die Arbeiten an Deichen Anfang Oktober, manchmal auch Anfang November zum Stillstand. Stillstand heißt: Die Deichkörper und die Außenböschungen müssen sturmflutsicher sein. Im vergangenen Winter hat Jan Stolzenwald am Schreibtisch Pläne ausgearbeitet. Jetzt, ab Mitte April geht’s auf der Baustelle weiter. Jan Stolzenwald hat noch mehr als drei Kilometer Deich vor sich, um das Land bis nach Rendsburg vor dem Meer zu schützen. Sein Projekt liegt passabel in der Zeit. Er zuversichtlich. Tönning, die anderen Orte hinter dem Deich und die einstreuten Bauernhöfe- - sie werden auch bei steigendem Meeresspiegel sicher sein. Eingangsabbildung: Der Deich am norddeutschen Eidersperrwerk. Er wird in einem Projekt auf rund vier Kilometer verstärkt. Foto: Oliver Steeger