PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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2941-0878
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UVK Verlag Tübingen
10.24053/PM-2024-0046
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/71
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GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.Das Projekt im Märchenschloss
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Oliver Steeger
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15 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 03/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0046 Perfektion gefragt: Die Restaurierung auf Schloss Neuschwanstein Das Projekt im Märchenschloss Oliver Steeger „Schauen Sie her! “ Heiko Oehme hebt den Saum eines Leinentuches, und ein Schwanenkopf schaut hervor, mit fein gebogenem Hals und anmutig gesenktem Kopf. „Kommen Sie näher. Dann erkennen Sie, wie fein er gearbeitet ist! “ Und tatsächlich-- der Schwanenkopf ist mit bewundernswerter Kunstfertigkeit aus Metall gefertigt. Schön, rein und ausdrucksvoll wie ein mittelalterliches Wappentier. Der Schwan gehört zu einem Prunkleuchter- - und er ist nur ein Zierelement unter Dutzenden. Heiko Oehme lässt das Tuch wieder sinken, das den Leuchter während des Restaurierungsprojekts schützt. „Das ist perfektes Kunsthandwerk“, sagt er, „eine hochqualitative Arbeit aus dem 19. Jahrhundert.“ Wie so vieles hier auf Schloss Neuschwanstein. Auf dem Weg durch das Schloss schlägt einem eine überwältigende Fülle von Gemälden und Ornamenten entgegen, von Schnitzereien und Beschlägen, Figuren, Säulen und Kapitellen. Romanische Fensterbögen finden sich nahe gotischen Säulchen, byzantinische Malereien neben maurischen Anklängen. Im Thronsaal ein perfekt gearbeitetes Bodenmosaik mit 1,5 Millionen Steinchen. Im Sängersaal vier wunderbar farblich schillernde Buntfenster. Wer vermag überhaupt solche Perfektion zu erkennen in meterweit entfernten Fenstern? Oder an hoch über ihm schwebenden Kronleuchtern? Ist das nicht alles-- zu perfekt? Heiko Oehme ist stellvertretender Baureferent bei der bayerischen Schlösserverwaltung: einem der größten Museumsträger in Deutschland mit 45 Schlössern, Burgen und Residenzen sowie weiteren Baudenkmälern und Künstlerhäusern. Unter den insgesamt rund 900 denkmalgeschützten Gebäuden, die die Schlösserverwaltung unter ihren Fittichen hat, sticht das Märchenschloss am Fuß der Alpen hervor. Und Heiko Oehme kennt es besonders genau. Ein Schwanenkopf mit fein gebogenem Hals und anmutig gesenktem Kopf. Foto: Bayerische Schlösserverwaltung, Oliver Steeger Reportage | Perfektion gefragt: Die Restaurierung auf Schloss Neuschwanstein 16 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 03/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0046 Er leitet die erste große Restaurierung mit: ein Mammutprojekt, wie er es nennt, und es geht nach 12 Jahren jetzt im Herbst zu Ende. Heiko Oehme hat sich intensiv mit dem Bauwerk beschäftigt. Er weiß: Die Perfektion der ursprünglichen Arbeiten erfordert perfekte Restaurierung- - und perfektes Projektmanagement. Seit fast 140 Jahren bezaubert Schloss Neuschwanstein die Menschen. Nach dem geheimnisvollen Tod Ludwigs II-- seines Erbauers- - wurde es für das Publikum geöffnet. Binnen der ersten acht Wochen kamen 18.000 Besucher. Heute sind es manchmal über 7.000 am Tag. Für viele Touristen aus dem Ausland gilt Schloss Neuschwanstein als Pflichtbesuch- - und als Inbegriff deutscher Kultur: Ritter, Romantik plus perfekte Qualität. Alle fünf Minuten startet eine neue Besuchergruppe zu der dreißigminütigen Tour unter anderem durch Sängersaal, Thronsaal, Arbeitszimmer, Grotte, Schlafzimmer und Wohnzimmer. Die schiere Menge an Besuchern ging Schloss Neuschwanstein an die Substanz. Heiko Oehme staunt, dass sich die Qualität der ursprünglichen Arbeiten dennoch lange als widerstandsfähig erwies. Doch dann war es Zeit für das erste große, rund 20 Millionen Euro umfassende Restaurierungsprojekt der Prunkräume. In Zahlen: Das Vorhaben umfasste 93 Räume mit über 2.300 Einzelobjekten. Darunter 355 Möbel, 65 Gemälde, 184 Wandbilder, mehr als 600 Fenster und Außentüren. „Wir Menschen neigen ja dazu, die Dinge buchstäblich begreifen zu wollen“, sagt Heiko Oehme. Nachsicht schwingt leise in seiner Stimme mit, wenn Menschen im Schloss-- häufig unbewusst-- Dinge berühren. Doch dadurch entstehen im Laufe der Jahre buchstäblich abgegriffene Stellen. Auf dem Weg durch das Schloss zeigt Heiko Oehme Stellen, an denen Taschen oder Rucksäcke geschabt haben. In einem Zimmer sind noch unrestaurierte Möbel und Leuchter untergebracht. Beim genauen Hinsehen fällt ins Auge, dass hier und da Schmucksteine oder Ziernägel fehlen; Besucher ließen sie offenbar als Souvenir mitgehen. Schwerer noch wiegt der klimatische Effekt der Besucher. Der feuchte Atem der Besucher und bei Regentagen nasse Kleidung trägt Feuchtigkeit ins Schloss. Die schwankende Luftfeuchte setzte Holz, Metall, Farben und Stein zu. „Wir haben deshalb eine komplexe Lüftungsanlage eingebaut“, sagt Heiko Oehme. Es gibt aber auch Schäden, die nicht dem Besucherverkehr anzulasten sind. Sie waren hausgemacht: gut gemeinter, doch leider schädlicher Pflege aus vergangenen Zeiten geschuldet. Fachleute stutzen, als sie die historischen Archivalien mit den erhaltenen Räumen abglichen: Es war in einem Raum von einem „Zigarren-ähnlichen“ Farbton die Rede. Dieser Farbton war aber nirgends zu finden. Einzig der helle Braunton eines Kachelofens hatte diesen „Zigarrenton“. Doch dieser Ton stand nicht im Kontext zum dunklen Ton der Hölzer: Der Ofen fiel optisch aus dem Gesamtkonzept. „Das hat uns verwundert“, sagt Heiko Oehme, „denn die historischen Pläne lassen stets eine ausbalancierte Farbharmonie erkennen.“ Es stellte sich heraus: Das Interieur war über die Jahrzehnte unbemerkt nachgedunkelt. Heiko Oehme zeigt ein Foto mit einem geschnitzten Löwenkopf. Die gereinigte, restaurierte Hälfte des Kopfes wirkt deutlich heller. Das Holz ist fast honigfarben. „Das ist der Originalton vieler Hölzer“, sagt Heiko Oehme. Aber-- wie kam es, dass das Holz sich über die Jahrzehnte fast schwarz färbte? Die Geschichte geht so: Über Jahrzehnte hatte das Personal vergangener Generationen buchstäblich alles, was es in die Finger bekommen konnte, mit einem Pflegeöl behandelt. Damit glänzten Möbel und Wände zwar proper. Doch das Öl band weder ab noch zog es ins Holz ein. Es stand auf den Oberflächen. Staub setzte sich auf der klebrigen, fliegenleimartigen Masse ab- - und wurde bei der nächsten Pflegeaktion weiter in die Oberflächen eingerieben. Nur der Kachelofen wurde nicht eingeölt. Der fatale Ölfilm trieb die Restauratoren fast in die Verzweiflung. Sie probierten diverse Reinigungsmittel an unauffälligen Stellen aus. Bald fanden die Fachleute einen Lösungsansatz. Bis sie aber ein Konzept hatten, diesen Ansatz auf den großformatigen Flächen umzusetzen- - das war ein schwieriger und langer Weg. „Jeder Restaurator hat seine eigene Handschrift“, sagt Heiko Oehme, „dies gilt auch für das Abnehmen von Ölfilmen. Man sieht unter Umständen einen Unterschied in der Restaurierungsintensität- - je nach Tagesform der jeweiligen Fachleute.“ Solche Schwankungen Geduldige Sorgfalt bei der Restaurierung von Ornamenten. Foto: Bayerische Schlösserverwaltung, Heiko Oehme Reportage | Perfektion gefragt: Die Restaurierung auf Schloss Neuschwanstein 17 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 03/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0046 muss man vermeiden. „Die Bearbeitungszustände an ein und derselben Wandfläche dürfen hinterher nicht unterschiedlich sein“, sagt Heiko Oehme, „das haben wir auch hinbekom- Nach der Reinigung hat das Holz hat seinen originalen, hellen, warmen Ton wiederbekommen. Foto: Bayerische Schlösserverwaltung, Oliver Steeger Der eingerüstete Sängersaal. Zwischenzeitlich sind die Gerüste wieder abgebaut. Foto: Bayerische Schlösserverwaltung, Heiko Oehme men.“ Heute wirken die Räume lichter, wärmer, harmonischer im Ton. Doch dafür brauchte es eine mehrjährige Reinigungsaktion-- eine Herausforderung und Geduldsarbeit angesichts der detailversessenen Perfektion des Bauherrn. Im Sängersaal Wer die im Schloss allgegenwärtige Perfektion und Fülle von Details verstehen will, muss den Bauherren Ludwig II kennen. Kaum 23 Jahre alt, schwärmte der König gegenüber Richard Wagner von seinem neuen Traumprojekt. Ludwig-- gutaussehend, athletisch, über 1,90 Meter groß- - schrieb 1868 dem Komponisten über seinen Plan für eine neue Burg. „Die Lage ist eine der schönsten, die man finden kann, heilig und unzugänglich“, warb er enthusiastisch für sein Projekt. Ihm schwebe ein Bau „im echten Stil der alten deutschen Ritterburgen“ vor. Auch plane er Reminiszenzen etwa an Wagners Opern Lohengrin und Tannhäuser. In drei Jahren, so schrieb er, werde er einziehen. Er versprach einen „würdigen Tempel für den lieben Freund und Mitstreiter“ Richard Wagner. König Ludwig II kannte seinen Bauplatz sehr genau. Eine atemberaubende Kulisse: Im Hintergrund der majestätische, schneebekrönte Gipfel des Säulings („Wächter des Allgäus“ genannt), der durch eine Schlucht strömende und im freien Fall herabrauschende Wildbach Pöllat, die Sicht auf den Schwansee, den Alpsee und ins weite Land hinaus. Alles einen Steinwurf weit weg vom Schloss Hohenschwangau-- dem Ort, wo Ludwig seine Jugend verbracht hatte. So erhaben die Kulisse war, so freudlos waren seine Jugendjahre hier. Das fantasievolle, einzelgängerische Kind blieb ohne viel Einfühlung und Liebe. Dies drückte sich tief in seine Seele. „Ein ewig Rätsel will ich bleiben mir und anderen“, schrieb er noch jung in einem Brief. Zur Mutter eine schwierige Beziehung, zum Vater gar keine. In der Hand und Obhut von Ammen und Erziehern suchte Ludwig Zuflucht in Büchern und Baukunst. Später, als Sechzehnjähriger, flüchtet er sich in die romantische Musik Richard Wagners. Hier fand er Erfüllung. Die Sage vom Gralskönig Parzival lieferte ihm das Fundament für seine Idealkultur des Königtums: Überhöht und weltabgewandt, wie der Ring der Nibelungen. Mit seinem Sängersaal setzte Ludwig II diesem Ideal einen Tempel. Gemälde mit Motiven aus Lohengrin und Parzival schmücken den größten Prunkraum des Schlosses. Eine durch Arkaden gegliederte Bühne wird heute als Sängerlaube bezeichnet. Doch Musiker-- oder gar Sänger-- waren hier im Saal Reportage | Perfektion gefragt: Die Restaurierung auf Schloss Neuschwanstein 18 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 03/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0046 zu Ludwigs Zeiten nicht zugegen. Der menschenscheu gewordene Hausherr zog sich in seine Traumwelt zurück. Allein. Im Sängersaal haben die Restauratoren über Monate auf Gerüsten gearbeitet. Die Holzdecke und die vier Leuchter wurden komplett bearbeitet. Restauratoren reinigten- - und überarbeiteten manchmal-- die Wandflächen und den Parkettboden. Sehr viel Arbeitszeit floss in die Restaurierung der Kandelaber. Sie waren nach den vielen Jahren stark verschmutzt und auch statisch instabil. Heiko Oehme weist zudem auf die einzigartigen Buntglasfenster hin. Sie sind aufgebessert und jetzt von außen mit speziellen Gläsern gegen Hagelschlag geschützt. Es war schwierig, reflektionsfreies Spezialglas zu finden und einzusetzen. Doch der Schutz ist nötig geworden. Unwetter treten immer häufiger auf. Vor einiger Zeit hat Hagel die Dächer des bayerischen Klosters Benediktbeuern zerschlagen. Das war wie eine Warnung. Auch an den anderen Fenstern-- die mit normalem Scheibenglas- - haben die Restauratoren Hand angelegt. „Im Schloss haben wir sehr viele Metallfenster, und sie sind noch in einem überraschend guten Zustand“, sagt Heiko Oehme, und er ergänzt: „Metallfenster waren im 19. Jahrhundert ein Novum. Das Schloss war Pionier bei dieser Innovation.“ Dies ist vielleicht das Erstaunliche an Schloss Neuschwanstein: Der Bau mag ganz der mittelalterlichen Phantasiewelt verhaftet sein. Die Baumeister allerdings bedienten sich damals völlig neuer Verfahren. Ludwig, der vermeintliche Märchenkönig, interessierte sich durchaus für moderne Wissenschaft und Technologie. „Vielleicht ging er nicht in die Details“, sagt Heiko Oehme, „aber er wusste, dass mit damals innovativen Bauansätzen manche seiner Vorstellungen überhaupt erst zu realisieren waren.“ Und dass der Fortschritt überdies Annehmlichkeiten brachte, die sein idealisiertes Mittelalter nicht kannte: etwa fließend Wasser, Aufzüge, Haus-Sprechanlagen. Oder auch Wärme durch eine zentrale Heizung. Das Heizsystem in Schloss Neuschwanstein ist verblüffend modern mit seinen vertikalen Luftschächten und kunstvoll versteckten Warmluftklappen in den Räumen. Für das Restaurierungsprojekt war es ein Segen. „Wir konnten diese historischen Schächte für unsere moderne Lüftungsanlage verwenden“, sagt Heiko Oehme. Die historischen Steigschächte waren noch zugänglich-- und dank der alten Pläne auffindbar. Das Archiv mit Bauplänen und Bautagebüchern ist vollständig erhalten: mit allen Grundrissen und Schnitten, Vorentwürfen und Detailzeichnungen, Vorarbeiten und Änderungsskizzen. Für das Restaurierungsprojekt ein Glücksfall. Als 2012 das Projekt startete, machte das Team diesen Schatz digital zugänglich. Das war einer der allerersten Schritte. Die akribisch geführten Bautagebücher zeigten, welche Materialien verwendet und wie sie eingesetzt wurden. „Das hat uns manchmal erklärt, weshalb die Schäden so sind, wie wir sie heute sehen“, sagt Heiko Oehme. Und die Originalpläne selbst? Da gerät Heiko Oehme ins Schwärmen: „Meisterwerke! Man könnte sich stundenlang in diesen Plänen verlieren. Heute würde kaum ein Architekt diese Pläne in ihrer künstlerischen Perfektion liefern können! “ Der nächste Schritt im Projekt, um die Restaurierung vorzubereiten: Eine detaillierte Aufnahme der Schäden. Wand für Wand, Decke für Decke, Möbelstück für Möbelstück. Mit speziellen, hochpräzisen fotografischen Verfahren dokumentierte das Team den Zustand der Räume. „Viele Bereiche konnten wir nicht direkt untersuchen“, erklärt Heiko Oehme, „beispielsweise den Zustand der Deckengemälde.“ Die Experten zoomten in die hochauflösenden Fotos hinein, prüften auf ihnen kleinste Schäden und katalogisierten sie. Die Grundlage für die weitere Planung. „Ein solches Restaurierungsvorhaben muss man perfekt planen“, sagt Heiko Oehme, „nur so bringt man solch ein Mammutprojekt ansatzweise ‘sicher’ zu Ende.“ Inwiefern ansatzweise? „Trotz minutiöser Planung ist man vor Überraschungen nicht gefeit, die die Pläne durchkreuzen“, antwortet er. Und dann lässt er für einen Augenblick durchblicken, wie sehr sein Projekt unter Erfolgsdruck stand: Ein weltweit bekanntes Objekt. Ein Prestigesymbol für Bayern. Der Sympathieträger für die Tourismuswirtschaft. Und: „Wir stehen kurz davor, den Weltkulturerbe-Titel zu bekommen. Da schaut die Im Vorhof von Schloss Neuschwanstein: Heiko Oehme (links) mit Story-Autor Oliver Steeger. Foto: Bayerische Schlösserverwaltung, Steffen Scheurer Reportage | Perfektion gefragt: Die Restaurierung auf Schloss Neuschwanstein 19 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 03/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0046 internationale Fachwelt genau hin, ob und wie wir höchste Standards bei der Restaurierung anlegen.“ Und? Gab es Überraschungen bei der Restaurierung? „Natürlich gab es die“, sagt Heiko Oehme. Eine davon: Die Kachelöfen der sogenannten Königswohnung im Torbau sollten nur restauriert werden. Es stellte sich heraus: Sie waren komplett instabil. „Wir mussten sie gänzlich demontieren und auf ein neues Untergestell stellen“, sagt er. An anderer Stelle erwies sich in einem Gang die Unterkonstruktion eines Fliesenbodens als- - wie Heiko Oehme es nennt- - „statisch sehr bedenklich“. Doch die Überraschungen haben sein Projekt nicht ernsthaft aus dem Zeitplan gebracht. Die Arbeiten gehen pünktlich dem Ende entgegen-- obwohl hier und da noch Gerüste stehen und Alkoven mit provisorischen Holzwänden abgetrennt sind. Im nördlichen Treppenhaus Im nördlichen Treppenhaus steht noch eines der Gerüste. Die Restauratorinnen arbeiten an der Kuppel und der Mittelsäule, die in Form einer Palme gestaltet ist, dem Symbol für Gerechtigkeit und Güte. Über schmale Aluleitern geht es durch Luken zwei Etagen hinauf; es knarzt bei jedem Schritt. Im Scheinwerferlicht bessern zwei Restauratorinnen die rotgolden gehaltenen Rundbögen aus- - unter einem gemalten nachtblauen Himmel mit goldenen Sternen. Auf den Malereien liegen „Pflaster“ aus Gaze und einer sandartigen Substanz, die schonend Schadstoffe aus dem Putz ziehen. Eine Restauratorin nimmt einen Scheinwerfer in die Hand und richtet ihn auf die Ornamente: Sie strahlen in Detailreichtum und überwältigenden Farben, eine Pracht, wie man sie vielleicht von spätmittelalterlichen, illuminierten Handschriften her kennt. Sogar die Schattierung der Palmblätter-- obwohl von der Treppe aus kaum zu erkennen-- ist minutiös ausgeführt. An anderer Stelle, in einem Seitengang, hockt eine Restauratorin auf dem Boden und arbeitet die Ornamente an der Wand nach, verschlungene Ranken, stilisierte Blätter und Blüten. Die Plastikpalette mit Farbmischungen vor sich, trägt sie mit einem winzigen Pinsel Farbe auf. Zentimeter um Zentimeter. Nur einen Augenblick Zeit für ein Gespräch. „Man braucht viel Geduld für diese Arbeit“, sagt sie, „Geduld ist für Restauratoren ebenso wichtig wie etwa Kunstsinn und Kenntnis der alten Materialien.“ Die Bayerische Schlösserverwaltung verfügt über einen Pool von Restauratoren etwa für Gemälde, Schnitzereien, Vergoldung, Textilien oder Fensterglas. Doch für solch ein Mammutprojekt braucht es Hilfe auch von außen. „Ludwig II hatte die seinerzeit besten Handwerker und Künstler“, erklärt Heiko Oehme, “wir brauchen heute die besten Restauratoren für unser Projekt.“ Und die sind- - heute wie damals- - am Markt nicht leicht zu finden. Zum einen mit der nötigen Fachkenntnis, zum anderen auch mit freien Kapazitäten. Und selbst wenn sie über Expertise verfügen und Kapazitäten freihaben- - es ist schwierig, sie für ein umfangreiches, langjähriges Projekt zu gewinnen. Natürlich ist es verlockend, Schloss Neuschwanstein in seinen Referenzen zu haben. Doch viele kleinere Betriebe fürchten, dass sie durch das lange Engagement für mehrere Jahre vom Markt verschwinden und dann den Anschluss an die Szene verlieren. Hinzu kommt die Arbeit bei laufendem Besucherverkehr. Zwar zerstreute sich die Befürchtung, dass Besucher an den Gerüsten, Folien und Absperrungen Anstoß nehmen. Ganz im Gegenteil: Viele begeisterten sich dafür, den Spezialisten über die Schulter zu schauen- - und entwickelten reges Interesse für die Detailarbeit. In einem der Säle wurde während des Projekts ein Kronleuchter herabgelassen und in situ-- vor den Augen des Publikums-- restauriert. Mitten im Saal. „Das haben die Besucher als willkommenes Event wahrgenommen“, sagt Heiko Oehme, „doch für die Restauratoren kann konzentriertes Arbeiten schwierig werden, wenn sie alle fünf Minuten von einer neuen Besuchergruppe in Gespräche verwickelt werden.“ Noch immer laufen die Arbeiten, doch das Projekt geht dem Ende entgegen. Foto: Bayerische Schlösserverwaltung, Oliver Steeger Reportage | Perfektion gefragt: Die Restaurierung auf Schloss Neuschwanstein 20 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 03/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0046 Im Thronsaal Einen „modus vivendi“ zwischen Besuchern und Restauratoren herzustellen-- das war nicht immer leicht. „Unsere Besucher wussten, dass das Restaurierungsprojekt in vollem Gange war“, sagt Heiko Oehme. Sie wussten auch, dass einzelne Räume geschlossen werden mussten-- und in den offenen die Arbeiten weitergingen. Da war beispielsweise der Lärm. Auf Stahlgerüsten kann es scheppern und krachen. Die Geräuschkulisse macht es Besuchern manchmal unmöglich, ihre Audioguides zu verstehen. „Anfangs haben wir alle fünf Minuten, wenn eine Gruppe vorbeikam, die Arbeiten unterbrochen“, sagt Heiko Oehme, „wir haben sogar versucht, die Gerüste mit Teppich auszukleiden.“ Besonders laute Arbeiten verlegte das Team in die Zeit, wenn der letzte Besucher das Schloss verlassen hatte. Dann kam Corona-- und erleichterte einiges. So tragisch die Pandemie war: Für Heiko Oehmes Projekt bot sie Chancen. Die Restauratoren hatten plötzlich das Schloss für sich. Sie versuchten, die Arbeiten an „Nadelöhren“ vorzuziehen: Arbeiten etwa an Türdurchlässen oder am Fußboden, die eigentlich für die Nacht geplant waren. Einziges Problem: Die neue Freiheit auf den Gerüsten war nicht kalkulierbar. Niemand wusste, wie lange der Lockdown dauern würde. Zudem war es schwierig, die Abstandsregeln auf den Gerüsten einzuhalten. „Doch im gewissen Sinne war die Pandemie für uns ein Segen“, sagt Heiko Oehme. Im Thronsaal ist von den Gerüsten heute nichts mehr zu sehen. Der Blick gleitet frei über die Wandgemälde, die heiliggesprochene Könige verherrlichen: ein Zug von mittelalterlichen Legendengestalten, reich an Symbolik, angeführt von Christus, den Aposteln, begleitet von Engeln. Ein bekanntes Motiv sticht ins Auge: der heilige Georg, der seine Lanze dem Drachen in den Rachen rammt. Andere Motive aus germanischer Mythologie und mittelalterlichen Legenden erschließen sich heute nur Fachleuten. Es ist, als ob der Saal den Blick dann weiter emporzieht: Zunächst auf den prachtvollen, vier Meter großen Kronleuchter, mit goldglänzenden Metallornamenten und Steinen verziert wie ein mittelalterliches Reliquiengefäß. Dann ganz hinauf zur Kuppel: ein grünblaues Firmament mit Sonnenstrahlen und Sternen, alles sauber restauriert. Doch-- Moment! Da sind dunkle Flecken in der Kuppelfarbe. Flecken wie nach einem Wasserschaden. Ist da bei der Restaurierung etwas vergessen worden? Heiko Oehme schüttelt den Kopf. „Nein, das sind alte Schäden. Wir erkennen sie schon auf Fotos aus dem 19. Jahrhundert.“ Pfusch am Bau? „Nein, nein, kein Pfusch. Der König drängte.“ Nicht nur für seinen Perfektionismus, sondern auch für seine Ungeduld war Ludwig II berüchtigt. Er trieb jeden zur Eile, auch die Maler unter der Kuppel. Doch es war ihm nicht bewusst, dass Untergrund und Farben Zeit brauchen, um sauber abzubinden und miteinander zu reagieren. Wer zu früh und forciert weiterarbeitet, handelt sich Schäden ein: Flecken, Risse, Dellen oder ähnliches. Haben die Handwerker den König nicht gewarnt? Hat Ludwig die Warnungen in den Wind geschlagen und wie versessen weitergemacht? Schwer zu sagen. Der menschenscheue König war ein schwieriger Projektsponsor, wie man ihn heute nennen würde. Vermutlich ein Alptraum für die Baumeister. Manche sagen, dass bei Ludwig II Genie und Wahnsinn dicht beieinander gelegen haben. Man muss vorsichtig sein: Mit dem Begriff Wahnsinn, den ihm seine Zeitgenossen unterstellten, ist man im 19. Jahrhundert sehr frei umgegangen. Die Psychiatrie steckte in den Kinderschuhen. Schnell wurden Schrullen zur Geisteskrankheit erklärt. Wie bei Ludwig II gerne auch per Ferndiagnose. Was trieb den Monarchen an? Der König war achtzehnjährig auf den Thron gekommen, fast stolpernd und, wie er selbst einräumte, unvorbereitet. Kaum Regent, sah er sich 1866 in den Deutschen Krieg hineingezogen. Im Konflikt mit der modernen preußischen Armee erlitt Bayern eine Niederlage. Der feinsinnige und belesene Ludwig, von Charakter aus friedliebend, musste ein Zwangsbündnis mit Preußen schließen. Die ihm darin aufgezwungene konstituelle Monarchie- - das war nicht das Königtum, das er sich romantisch erträumt hatte. Mit den Zumutungen der Gegenwart vermochte Ludwig II immer weniger seinen Frieden zu machen. Er suchte Zuflucht in seinem Ideal des Mittelalters: einer Traumwelt, in dem die mythische Einheit von Glaube und Königtum intakt war-- ganz, wie Richard Wagner diese Welt in seiner Musik überhöht hatte. Mit Neuschwanstein kreierte Ludwig II die perfekte Kulisse. Eine vollkommene Gegenwelt zur verkommenen Moderne. Schon die Planung von Neuschwanstein kam dem Ausmaß einer Wagnerschen Oper gleich. In mehreren Akten gingen die Pläne durch die königlichen Hände. „Ich finde es spannend nachzuverfolgen, wie sich Ludwig II immer akribischer in die Neue Burg vertieft hat, wie er Neuschwanstein nannte“, berichtet Heiko Oehme, „zu Anfang zeigen die Entwürfe eine eher bescheidene Burg, dann entwickelten sich die Pläne zu seinem ‘gebauten Traum’.“ Für Ludwig war die Planung ein andauerndes Geschäft. Wie bei einem Ölgemälde schälte sich aus Konturen langsam das endgültige Schloss heraus. Die ersten Bauten waren noch tastend; vieles war stilistisch noch nicht festgelegt. Für die Toranlage ließ Ludwig warmbraunen Sandstein verwenden; erst später gab er dem farblich kühleren Kalkstein aus einem nahen Steinbruch den Vorzug. Sogar noch nach Baubeginn feilte der König an seiner Vision, verwarf Ideen, ersetzte sie durch Größeres, Kühneres, Bedeutungsvolleres. Der Thronsaal ist Beispiel für eine seiner späteren Planänderungen. Mit einem Federstrich verwarf Ludwig II seine Idee, hier ein Audienzzimmer einzurichten. Stattdessen ein riesiger Saal mit byzantinischen Stilelementen, der zwei Stockwerke des Palas einnehmen würde. Der Thronsaal war fortan nicht mehr für Besuch und Audienz bestimmt, sondern als Denkmal des Königtums und ein Abbild der sagenhaften Gralshalle. Solch eine jähe Änderung und Wendung ins Gigantische hätte Baumeister und Statiker um den Verstand bringen können. Man entschloss sich, die mythischen Visionen des Königs mit modernem Stahl auszuführen. In den feingliedrigen, Lapislazuli-blauen Säulen des Saals befinden sich Stahlkerne; das stuckummantelte, unsichtbare Stahlskelett stützt die Konstruktion. Doch auch hier ist alles in Perfektion ausgeführt. „Der Restaurator, der an diesen Säulen gearbeitet hat, sagte uns, er habe selten eine solche Qualität bei einer Stuckarbeit gesehen“, sagt Heiko Oehme. Doch diese Perfektion hatte ihren Preis. Der König verschliss Architekten, Baumeister, Künstler und Handwerker, zwang ihnen ein mörderisches Tempo auf, forderte das Äu- Reportage | Perfektion gefragt: Die Restaurierung auf Schloss Neuschwanstein 21 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 03/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0046 ßerste von ihrem Können. „Ludwig II war oft auf der Baustelle zugegen“, sagt Heiko Oehme, „kompromisslos korrigierte und änderte er bereits ausgeführte Arbeiten so lange, bis sie bis ins Detail seinen Vorstellungen entsprachen. Er hat sein Traumprojekt ohne Wenn und Aber durchgezogen.“ Dann sagt er: „Es ist eigentlich bitter, dass dem König selbst deutlich weniger Tage in seinem Schloss vergönnt waren als heute unseren hier arbeitenden Restauratoren. Zum Beispiel hat er den Leuchter im Thronsaal selbst nie gesehen.“ Trotz des Drucks des Bauherrn entstand ein mustergültiger Bau. „Die vorhandene Bausubstanz ist ausgesprochen gut,“ sagt Heiko Oehme. Das Tragwerk wurde fachmännisch errichtet. Die handwerklichen Techniken waren ausgereift und zeugen von Meisterschaft. Heiko Oehme ergänzt: „Wären sie nicht so hochwertig, hätten wir heute wesentlich größere Schäden zu restaurieren gehabt. Es gibt nichts, über das man sagen könnte, dass bei der Wahl besserer Materialien und Techniken Schäden hätten vermieden können.“ Dies nötigt ihm, dem Ingenieur, Respekt ab. Respekt vor den Menschen damals auf der Baustelle, die trotz des massiven Drängelns des Königs ihre Arbeit meisterhaft verrichteten. Dennoch-- so ganz perfekt war diese Gegenwelt nicht. Zumindest nicht statisch. Auf dem Dachboden Welch ein Kontrast! Nach all der Pracht versetzt der Dachboden des Schlosses Neuschwanstein einen Stich. Profan, fast roh erscheint er: die Giebel gemauert aus rotem Ziegel, die Konstruktion aus mächtigen, aber alltäglichen Holzbalken. Doch hier oben zeigt sich, dass es doch Probleme gab mit der alten Bausubstanz. Die Dachbalken liegen hier ganz auf den Mauerkronen auf. Die Konstruktion hat ein immenses Gewicht, zusätzlich belastet im Herbst von Stürmen und im Winter von Schneelast. Die Folge: Das Gewicht hat die Mauern leicht auseinandergedrückt. An der Traufe zeigten sich Risse. Zudem senkten sich die Dachbalken gefährlich. Sie drohten von oben die Kuppel des Thronsaals „einzudrücken“. „Wir mussten hier am Dachboden Anker einziehen, um die Außenmauern zusammenzuhalten“, sagt Heiko Oehme. Eine dünne Ankerkonstruktion reicht um den Dachboden herum. Filigran-- wie fast alles im Schloss. Auf dem Balkon Immer wieder ist man geneigt, durch eines der Fenster einen Blick auf die Berge zu erhaschen. Heiko Oehme schüttelt den Kopf und sagt: „Warten Sie auf den Balkon.“ Die Geduld lohnt sich. Die Naturkulisse ist überwältigend. Der Blick auf den spiegelglatten Alpsee, grünlich, von Wald und Bergen eingerahmt. Dahinter die fernblaue Kette der Tiroler Alpen mit ihren gezackten Gipfelzügen und schneebedeckten Flanken. Weiter unten ist- - fast winzig- - Schloss Hohenschwangau zu erkennen, die „Kinderstube“ Ludwigs. „Schloss Neuschwanstein ist ein gebauter, perfekt inszenierter Traum“, sagt Heiko Oehme, die Hände auf dem kühlen Stein der Balkon-Balustrade, „das ist es, was seine Bedeutung als Gebäude ausmacht: Eine Demonstration, dass es möglich war und ist, sich Träume zu bauen.“ Und mit einem Mal die Erkenntnis: Der „gebaute Traum“ ist wörtlich zu nehmen. So erklärt sich der Detailreichtum im Schloss. Die hervorragende Arbeit. Die Versessenheit des Königs. Sein Drängen zur Eile. Denn im Gegensatz zur realen Welt können-- müssen! -- Träume perfekt sein. Auf dem Weg durch das Schloss begegnet man immer wieder dem Schwan: in Wandmalereien, stilisierten Ornamenten oder auch als Zierstück des Kronleuchters. Der Schwan symbolisiert Reinheit, Schönheit und Entrücktheit. Darin drückt sich die tiefe, universelle menschliche Sehnsucht nach einer besseren Welt aus. Aus der Perfektion des Schlosses spricht Ludwigs Sehnsucht zu uns. Das macht seinen Mythos aus. Anders als Könige können wir keine Traumschlösser bauen. Doch verstehen können wir die Sehnsucht. Sie weckt Bewunderung. Mitgefühl. Vielleicht eine Art Verbundenheit. Fest steht: Ludwigs Sehnsucht wird bleiben. Jetzt noch länger- - Dank der Restaurierung. Eingangsabbildung: Ein Postkartenmotiv in aller Welt: Schloss Neuschwanstein © Foto: Bayerische Schlösserverwaltung, Oliver Steeger Für jede Branche die passende Lösung projektron.de/ branchen PROCESSES Projektportfolio Ressourcenmanagement Multiprojektcontrolling Angebote und Rechnungen Scrum, Kanban, PRINCE2 ® , IPMA, BPMN Anzeige