PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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UVK Verlag Tübingen
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GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.Minutiöse Planung für ein Mammutprojekt
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Steffen Scheurer
Oliver Steeger
Kein Restaurierungsprojekt ist gegen Überraschungen gefeit: Plötzlich stoßen die Fachleute etwa auf Mauerrisse, faule Bodenbalken oder hartnäckigen Schmutz. Doch so wahrscheinlich Überraschungen sind – dies entbindet das Projekt nicht von der Pflicht minutiöser Planung. Beim Schloss Neuschwanstein hat sich dieser Projektmanagement-Grundsatz hervorragend bewährt. Projektleiter Heiko Oehme berichtet über den Umgang mit Überraschungen, über die Koordination der Restaurierung mit dem Besucherverkehr – und darüber, weshalb das erhaltene Bauarchiv des berühmtesten deutschen Schlosses ein fantastischer Glücksfall ist.
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22 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 03/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0047 Wie man einen „gebauten Traum“ restauriert Minutiöse Planung für ein Mammutprojekt Steffen Scheurer, Oliver Steeger Kein Restaurierungsprojekt ist gegen Überraschungen gefeit: Plötzlich stoßen die Fachleute etwa auf Mauerrisse, faule Bodenbalken oder hartnäckigen Schmutz. Doch so wahrscheinlich Überraschungen sind- - dies entbindet das Projekt nicht von der Pflicht minutiöser Planung. Beim Schloss Neuschwanstein hat sich dieser Projektmanagement-Grundsatz hervorragend bewährt. Projektleiter Heiko Oehme berichtet über den Umgang mit Überraschungen, über die Koordination der Restaurierung mit dem Besucherverkehr- - und darüber, weshalb das erhaltene Bauarchiv des berühmtesten deutschen Schlosses ein fantastischer Glücksfall ist. Herr Oehme, Schloss Neuschwanstein gehört möglicherweise bald zum Weltkulturerbe. Unter dem Titel „Gebaute Träume“ wurde es für die Nominierung vorgeschlagen. Heiko Oehme: Nicht nur Neuschwanstein, sondern auch die Königsschlösser Linderhof, Herrenchiemsee und das Königshaus am Schachen. Die Schlösser Ludwigs II sind in ihrer Art ein einzigartiges Gesamtkunstwerk aus Architektur, Kunst und Inszenierung. Und dabei sind sie perfekt in die jeweiligen Landschaften eingepasst. Besonders Neuschwanstein war unter Touristen schon immer beliebt. Voraussichtlich im Sommer 2025 entscheidet das Welterbekomitee über die Eintragung der Königsschlösser. Doch Schloss Neuschwanstein stand nicht immer so hoch in der Gunst der Kunstexperten. Sie haben Schloss Neuschwanstein lange Zeit als gebauten Kitsch abgetan und eher geringgeschätzt. Wie hat sich diese Sichtweise verändert? Heute gelten die Königsschlösser als die repräsentativsten Bauwerke und Zeugnisse einer Modeerscheinung im 19. Jahrhundert. In der „besseren Gesellschaft“ war es zu dieser Zeit in Mode, gewissermaßen fiktive Reisen zu unternehmen: zu fernen Orten, anderen Kulturen-… …-oder auch in andere Zeiten, etwa das Mittelalter? Ja. Wer über die finanziellen Mittel verfügte, ließ sich Idealwelten nach seinen eigenen Vorstellungen schaffen. Dies waren irdische Paradiese, gebaute Träume. Ludwig II hatte diese Möglichkeit des fiktiven Reisens perfektioniert. Auf Neuschwanstein begab er sich in die Opernwelten Richard Wagners: Er ließ sich von dem Komponisten in die Mythen edler Ritter des Mittelalters entführen-- in eine idealisierte Welt des Mittelalters. Nennen Sie deshalb Schloss Neuschwanstein einen „gebauten Traum“? Ja, ein gebauter Traum für das perfekt inszenierte Hinübergleiten in die Irrealität. In dieser Konsequenz, Absolutheit und Dimension gibt es kein Bauwerk auf der Welt wie Schloss Neuschwanstein. Sie haben gemeinsam mit dem Staatlichen Bauamt Kempten seit 2017 Schloss Neuschwanstein restauriert. Die Planungen begannen bereits 2012. Es handelt sich dabei um die erste, vollumfängliche Restaurierung in der Schlossgeschichte. Das Projekt schien zunächst überschaubar. Dann aber wurde es schon in der Bestandsaufnahme sehr schnell sehr groß. Weshalb? Anfangs ging man davon aus, dass es sich „nur“ um eine Restaurierung der eigentlichen Prunkräume handeln würde, beispielsweise Sängersaal, Thronsaal, Schlafzimmer, Speisezim- Reportage | Wie man einen „gebauten Traum“ restauriert 23 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 03/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0047 mer. Die Bausubstanz selbst schien-- obwohl nie grundlegend restauratorische Hand angelegt wurde- - in gutem Zustand. Doch je mehr wir uns in die Thematik eingearbeitet haben, desto mehr erkannten wir: Es mussten noch weitere Themenbereiche in diese Restaurierungsmaßnahme einfließen. Die erste ganz grob angedachte Budget-Idee Ihres Projekts lag bei 5 Millionen Euro. Wenn ich Sie richtig verstehe, hat man noch weit vor der Planung zusätzliche, große Aufgaben in das Projekt hineingenommen. Der Projektumfang, mit dem Sie dann gestartet sind, lag dann bei 20 Millionen-- und Ihr Budget haben Sie gut eingehalten. Absolut! Wir haben die vorab kalkulierten Kosten bisher gut eingehalten- - trotz einer nun bereits laufenden Restaurierungszeit von sieben Jahren. Noch ins Projekt hinzugekommen sind beispielsweise die statische Sicherung der Kuppel im Thronsaal, die Restaurierung aller Außenfenster und Türen: wir sprechen hier übrigens von über 600 Stück. Hinzu kamen überdies der Einbau eines Textildepots, die komplette Erneuerung der Sicherheitstechnik, fünf Lüftungsanlagen und die Restaurierung der sogenannten Königswohnung im Torbau, von der aus König Ludwig II den Baufortschritt verfolgt hat. Das waren alles dringend erforderliche Maßnahmen. Nehmen Sie beispielsweise den Lichtschutz im Schloss: den Schutz gegen die Wirkung des Tageslichts. Wir sind im Schloss Neuschwanstein auf 1.000 Meter Höhe. Das Sonnenlicht ist hier aggressiv und hat oft Schäden auf empfindlichen Oberflächen hinterlassen: Zerschlissene Textilien, verblasste Wandmalereien, sogar rissige Stuckmarmorflächen. Dieser Schutz war eines der Ziele unseres Projekts. Sprechen wir weiter über diese Ziele. Über die generelle Zielsetzung einer Restaurierung wird gerne diskutiert. Die einen bevorzugen die Wiederherstellung des Urzustands; das Kunstobjekt erstrahlt buchstäblich in neuem Glanz. Andere sagen: Man muss dem Denkmal das Alter ablesen können; man darf es durch die Restaurierung nicht verfälschen. Also erhalten, sichern, reparieren, schützen-- aber nichts erneuern. Was war Ihr Ansatz? Wir sind den zweiten Weg gegangen und haben eine vorwiegend konservatorische Behandlung gewählt. Alterungsbedingte Spuren und Veränderungen haben wir belassen-- und gewissermaßen geschützt. In diesem Sinne nicht schützenswert waren für uns aber die Spuren von nutzungsbedingtem Verschleiß etwa durch die Besucher. Auch haben wir der Reste früherer Reparaturen, Ergänzungen oder Überarbeitungen entfernt- - sofern diese Eingriffe unsachgemäß durchgeführt worden waren oder heute den Gesamtzusammenhang stören. Das Ergebnis ist: Die Restaurierung zeigt den Besuchern nun einen Zustand der Räume, der die von König Ludwig II gewünschte Aussage wieder nahezu original wiedergibt. Aber jeder kann die vergangenen Jahrzehnte der Alterung ablesen. Was bedeutete dieser Ansatz konkret für Ihr Restaurierungsprojekt? Was haben Sie genau gemacht? Wir haben beispielsweise Oberflächen vorsichtig gereinigt, trocken oder manchmal auch lokal feucht. Wir haben Fehlstellen retuschiert, lose Teile gefestigt, behutsam Brüche repariert oder Risse behandelt. Auch die Spuren früherer, unsachgemäßer Pflege haben wir beseitigt. Dagegen haben wir viele altersbedingte Schäden wie Schwundfugen an Materialübergängen oder Pigmentveränderungen bei Farben toleriert. Foto: Bayerische Schlösserverwaltung, Oliver Steeger Reportage | Wie man einen „gebauten Traum“ restauriert 24 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 03/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0047 Was war die wesentliche Herausforderung bei Ihrem Projekt? Das lässt sich mit einem Satz kaum beantworten. Bei dieser Restaurierung gestaltete sich ziemlich alles kompliziert-- und manchmal kaum lösbar. Zum Beispiel? Es war nicht immer absehbar, ob wir auf einen genügend großen Pool an spezialisierten Restauratoren zugreifen konnten. Ein ganzes Schloss restaurieren-- dafür braucht man ungewöhnlich viel Know-how und Expertise. Diese Expertise in Sachen Denkmalpflege und Restaurierung haben wir zum Glück bei der Bayerischen Schlösserverwaltung im Hause. Unser Restaurierungszentrum ist mit Fachleuten für alle Themen besetzt: Vergolder, Schnitzer, Spezialisten für historisches Glas, Metall, Wandoberflächen, Textil, Papier und vieles mehr. Sie haben schon viele ähnliche Restaurierungsmaßnahmen fachlich begleitet. Inwiefern fachlich begleitet? Sie haben vorgegeben, wie die jeweiligen Restaurierungsmaßnahmen durchzuführen sind: etwa die Restaurierung des Treppenhausfreskos von Tiepolo in der Würzburger Residenz, die des Cuvilliéstheaters in der Münchner Residenz oder auch des Markgräflichen Opernhauses in Bayreuth. Dennoch haben Sie ergänzende Unterstützung von außen gebraucht, vom freien Markt-… Ergänzende Unterstützung ist hier nicht der richtige Ausdruck. Unser Restaurierungszentrum hat das fachliche Know-how, nicht aber die Manpower, solch große Projekte zu bearbeiten. Die Restaurierungen werden dann mit den Vorgaben des Restaurierungszentrums von Spezialisten vom freien Markt ausgeführt. Aber, der „Freie Markt“, wie Sie es nennen, ist oftmals recht „dünn“. Je spezieller das restauratorische Aufgabengebiet, desto „dünner“. Mit welcher Folge? Manchmal waren wir froh, wenn Angebote auf unsere Ausschreibungen in ausreichender Anzahl abgegeben wurden, um hier wirklich die Kriterien des „Wettbewerbs“ einhalten zu können. Einige Firmen scheuten sich, sich über längere Zeit an ein Objekt zu binden- - und damit vielleicht den Anschluss an andere Objekte zu verlieren. Nebenbei bemerkt: Eine große Herausforderung war es, die Restaurierung in den Bereichen des Schlosses so zu organisieren, dass sich Restauratoren und Besuchergruppe nicht gegenseitig stören. Auf diese Notwendigkeit wurde in jeder Ausschreibung in den Vorbemerkungen hingewiesen. Dies mag auch ein Grund gewesen sein, nicht unbedingt euphorisch ein Angebot abzugeben. Die Restaurierung fand ja großenteils bei laufendem Besucherverkehr statt. Wo liegen da die Herausforderungen? Vieles, aber nicht alles kann man bei laufendem Betrieb machen. Man muss sehen, dass man das, was die Besucher stören könnte, in Nachtarbeit schafft. Das aber ist nicht ganz einfach, wenn beispielsweise Trocknungszeiten zu beachten sind. Da stellen sich über das Timing hinaus viele Detailfragen: Wie kann man mit Lösungsmitteln umgehen, ohne dass sich Besucher davon gestört fühlen? Wie Gerüste so ausstatten, dass diese nicht so laut klappern oder quietschen, dass Besucher ihren Audio-Guide nicht mehr verstehen? Sie hätten das Schloss für ein paar Jahre sperren können. Weshalb ist das für Sie kein gangbarer Weg gewesen? Natürlich, eine Sperrung hätte uns ermöglicht, das Projekt in kürzerer Zeit durchzuziehen. Aber es gab gute Gründe, das Schloss auch während der Restaurierung offenzuhalten: Viele Betriebe in Bayern sind mittelbar oder unmittelbar vom Tourismus auf Neuschwanstein abhängig, etwa Hotels, Gastwirte, Verkehrsunternehmen oder Kutschenbetriebe. Sie wären mit Sicherheit gegen unser Projekt Sturm gelaufen, wenn ihnen durch eine Schließung bis zu 1,5 Millionen Gäste jährlich hier Restaurierung im Schloss Neuschwanstein. Foto: Bayerische Schlösserverwaltung, Oliver Steeger Reportage | Wie man einen „gebauten Traum“ restauriert 25 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 03/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0047 fehlen. Meiner Meinung nach wäre dieser Widerstand auch berechtigt und verständlich gewesen. Wie haben Sie Besucherverkehr und Restauration unter einen Hut gebracht? Im Wesentlichen durch minutiöse Planung. Wir haben vor Beginn der Arbeiten genau durchgespielt, wann was wie einzutakten ist. Planung ist gut. Doch Restaurierungsprojekte gelten als anfällig für Überraschungen. Niemand weiß, wie gut die Substanz etwa unter dem Putz ist. Solche Überraschungen hatten wir durchaus. Trotz aller Überlegungen und Planungen muss man dann aber auch extrem flexibel sein. Das ist letztlich wie eine Operation am offenen Herzen. Aber: Die Wahrscheinlichkeit, dass Überraschungen auftreten, entbindet das Projekt nicht von der Pflicht zur minutiösen Planung. Nur nahezu perfekt geplant lässt sich solch ein Mammutprojekt ansatzweise sicher ins Ziel zu bringen. Startet man solch ein Projekt wegen vermeintlicher Unsicherheiten im Blindflug-- dann ist das Scheitern fast vorprogrammiert. Ihr Projekt ist ein Erfolg. Doch spielen wir theoretisch die Alternative durch. An was könnte solch ein Projekt scheitern? Die Arbeiten an solch einem Projekt wie unserem stehen weltweit unter Beobachtung. Die Fachwelt schaut genau darauf, ob bei einem Objekt wie dem Schloss Neuschwanstein wirklich die höchsten Ansprüche eingehalten werden. An der Qualität unserer Arbeit werden wir weltweit gemessen. Sichtbarer Unterschied: Alt (das dunkle Holz) gegen gereinigt (das helle Holz). Foto: Bayerische Schlösserverwaltung, Heiko Oehme Sie haben einen Ruf zu verlieren! Ja-- und wir steuern obendrein auf den UNESCO-Welterbe-Status zu! Allein schon der Qualität wegen muss man die Befundung und die Restaurierung präzise planen. Ein weiteres Risiko unzureichender Planung ist, dass die geschätzten Kosten explodieren. Kosten laufen aus dem Ruder, wenn während der Arbeiten immer mehr Überraschungen ans Tageslicht kommen. Aufgabe sorgfältiger Planung und Vorbereitung ist ja, diese Überraschungen vorher zu erkennen oder zumindest darauf vorbereitet zu sein. Zudem hätten Probleme durch schlechte Planung auch Auswirkungen auf den Tourismus gehabt. Gäste und Reiseunternehmen buchen den Besuch teils Monate im Voraus. Wir konnten und wollten es uns schlichtweg nicht leisten, den Tourismus in ernsthafte Schwierigkeiten zu bringen. Ihr Projekt stand unter Zeitdruck. Letztlich hat auch die Politik gedrängt. Moment! Es stimmt, dass wir erheblichen Zeitdruck hatten. Doch seitens des zuständigen Bayerischen Staatsministeriums für Finanzen und Heimat wurden uns keine unrealistischen Vorgaben gegeben. Also ganz klar: Zeitdruck ja-- aber keine unrealistischen Vorgaben! Wie hat das Ministerium Sie unterstützt? Sehr gut. Dort war man sich bewusst, dass eine gute, gründliche Restaurierung nicht von heute auf morgen umsetzbar ist. Man wusste: Das Projekt würde zeitintensiv sein. Auch dann, als wir begründet haben, weshalb sich die Prognosen zum Projektende teils nach hinten verschoben haben-- auch dann noch haben alle Seiten dies als notwendig akzeptiert. Neuschwanstein ist nicht irgendein Schloss. Es ist ein Aushängeschild für den bayerischen Tourismus, sogar ein weltweites Symbol für Deutschland. Also auch Prestigeobjekt für die Politik und einzelne Politiker. Hat dies Auswirkungen auf Ihr Projekt gehabt? Natürlich! Neuschwanstein stand und steht in den Medien. Das ist zum einen wichtig und gut. Zum anderen aber fürchtet die Politik natürlich Schreckensmeldungen über Kostensteigerung, Missmanagement, unwägbarer Probleme oder nicht einzuhaltender Termine. Sie sagten, dass Sie viel Zeit nicht nur in die Planung investiert haben, sondern auch in die akribische Grundlagenermittlung. Weshalb ist die Grundlagenermittlung so wichtig? Glücklicherweise können wir für Schloss Neuschwanstein auf die historischen Originalpläne und Bautagebücher zurückgreifen. Das vollständig erhaltene Archiv gibt uns Auskunft über verwendete Materialien. Es zeigt uns, wie diese Materialien wann wie eingesetzt wurden. Diese Informationen sind für eine Restaurierung von unschätzbarem Wert. Wir konnten häufig früh anhand der Aufzeichnungen und Pläne erkennen, woher Schäden kamen und wie wir sie beheben konnten. Oder wie wir neue Technologie integrieren konnten. Welche neuen Technologien zum Beispiel? Durch die historischen Pläne war es uns möglich, die Lüftungsanlage für den Besucher fast unsichtbar einzubauen. Wir haben dank der Pläne die Lage der historischen Kanäle der Zent- Reportage | Wie man einen „gebauten Traum“ restauriert 26 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 03/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0047 ralheizung nachvollziehen können. Diese wurden dann für die Lüftungsanlage genutzt. Wir sprechen übrigens bewusst nicht von einer Klimaanlage; es war nie das Ziel, die Temperatur im Schloss zu steuern, sondern die Spitzen der Luftfeuchte zu kappen. Als das Schloss erbaut wurde, war die Idee einer Zentralheizung revolutionär. Der Erbauer Ludwig II mag in seiner mittelalterlichen Fantasiewelt Zuflucht gesucht haben. Doch er schätzte auch die Errungenschaften seiner Zeit: damals moderne Baumaterialien und Technologien wie etwa Beton und filigrane Metallprofile, fließend Wasser an Waschtischen und WCs sowie eine erstaunlich zeitgemäße Küche. Das Haustelefon gilt als eine der ersten Fernsprechanlagen in Bayern. Hat Sie diese seinerzeit moderne Technologie bei der Restaurierung vor Herausforderungen gestellt? Nein, sie hatte für uns durchaus positive Seiten; der Einbau der Lüftungsanlage ist ja ein Beispiel dafür. Ein anderes Beispiel sind die damals neuen Eisenfenster: Ihr Zustand war, vielmehr ist nach der langen Zeit immer noch erstaunlich gut. Gleiches gilt für die gewaltigen Eisenkonstruktionen, auf denen das Gewicht des Thronsaals abgelastet ist. Alles ist nach fast 140 Jahren immer noch in ausgesprochen gutem Zustand. Dies gilt auch für die gesamte Bausubstanz! Wäre die Substanz nicht so hochwertig, wären die zu restaurierenden Schäden wesentlich größer gewesen. Und wir hätten auch vielleicht noch mehr Überraschungen erlebt. Trotzdem gab es diese unvermeidlichen Überraschungen. Welche zum Beispiel? Eine Überraschung war statischer Natur: Unter einem Terrazzo-Fliesenboden waren im Laufe der Jahrzehnte Tragbalken angefault und korrodiert- - bedingt durch den Eintrag von Feuchtigkeit durch Millionen von Besuchern. Das wurde erst sichtbar durch den Ausbau einzelner zu ersetzender Fliesen. Letztendlich hat dies dazu geführt, dass der gesamte Boden in diesem Schlossbereich bis hin zu dessen Unterkonstruktion ausgebaut wurde. Er wurde statisch modifiziert und dann wieder „neu“ unter Verwendung der historischen Schüttung und Fliesen eingebaut. Ein anderes Beispiel: Bei der Restaurierung des Mosaikbodens im Thronsaal hatten wir erst im Rahmen der laufenden Restaurierung die Möglichkeit, den Bodenaufbau zu erkunden. Auf einmal stellte sich heraus, dass wir hier keine Möglichkeit hatten, das angedachte Restaurierungsprozedere anzuwenden. Es musste nun ein Plan B gefunden werden. Der Bodenaufbau des Mosaikbodens war auf Kante genäht: sprich extrem dünn ausgeführt. Somit konnten die losen Mosaiksteinchen nicht mit Mörtel hinterfüllt und gefestigt werden? Richtig. Doch keine dieser Überraschungen hat unseren eingetakteten Restaurierungsablauf ernsthaft aus dem Konzept gebracht. Hier und da waren die Restauratoren mal länger an einem Ort als geplant. Manche Einschränkung für Besucher dauerte vielleicht länger als gedacht. Aber letztlich konnten wir den unerwarteten Abweichungen elastisch begegnen. Es gab auch andere Überraschungen. Eine davon war die Pandemie. So schlimm dieses Ereignis war-- für Sie war es günstig. Das Schloss war mit einem Mal leer. Ursprünglich hatten wir viele Bauabschnitte in kostspieliger Nachtarbeit geplant, um Besucher nicht zu stören. Plötzlich versiegte der Besucherstrom. Das half uns. Allerdings: Niemand wusste ja genau, wie lange der Lockdown dauern und wann das Schloss wieder geöffnet würde; das machte die Planung letztendlich schwierig. Zudem mussten wir plötzlich strenge Abstandsregeln zwischen den Restauratoren einhalten- - was etwa auf einem Rollgerüst nicht leicht zu bewerkstelligen ist. Der Erfolg eines solchen Projekts lebt ja auch stark von den Beteiligten. Wie haben Sie zusammengearbeitet? Seitens der Bayerischen Schlösserverwaltung haben wir für unser Restaurierungsprojekt mit dem Kemptner Bauamt zusammengearbeitet. Und da möchte ich mich wirklich bedanken: Alle Erkenntnisse, Vorgaben, Zielvorstellungen, Mittelzuweisungen, denkmalpflegerischen Entscheidungen, Ausschreibungs-Auftrags- und Abrechnungsmodalitäten, Besprechungen vor Ort, menschlichen Höhen und Tiefen auf der Baustelle- - dies alles wurde perfekt über den Flaschenhals Bauamt Kempten sortiert, gewichtet und gesteuert. Eine Mammutaufgabe für das Projektteam des Bauamts unter Projektleiter Christoph Weber! Doch wir haben gespürt, dass es dem Amt und allen Beteiligten ein echtes Bedürfnis war, dieses Projekt mit uns zum Erfolg zu führen. Professionell und auch menschlich hat es gestimmt. Nicht vergessen möchte ich natürlich, dass auch die hausinterne Abstimmung mit der Schlossverwaltung existenziell war und ist. Nur in einem ständigen Dialog hinsichtlich der anstehenden Arbeiten kann die Verwaltung die Besucherströme entsprechend steuern. Auch hier von meiner Seite ein großer Dank für das stets konstruktive und harmonische Miteinander! Eine Abschlussfrage: Während des 19. Jahrhunderts haben sich die Menschen stark auf ihre Denkmäler zurückbesonnen. Überall in Deutschland wurden alte Burgen und Schlösser wieder aufgebaut. Ähnlich war es ja mit Neuschwanstein-… Letztlich handelte es sich bei dem Wiederaufbau historischer Burganlagen um eine modische Zeiterscheinung. Aber: Ich bin mir da gar nicht so sicher, ob man bei Neuschwanstein von einem Wiederaufbau sprechen soll. Sicher hatte es hier die Ruinen zweier mittelalterlichen Burgen gegeben. Diese Ruinen ließ Ludwig II gänzlich abtragen. Auf der frei gewordenen Fläche wurde der Baugrund für Neuschwanstein hergerichtet. Also das war keine Rekonstruktion? Nein, hier handelt es sich definitiv um keine Rekonstruktion. Ludwig II wollte dies auch nicht. Es ist das unter dem Einfluss des Historismus entstandene Idealbild eines Bauwerks, das die Welten, in die sich der Bauherr sehnte, in einmaliger Weise widerspiegelt. Reportage | Wie man einen „gebauten Traum“ restauriert 27 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 03/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0047 Der gebaute Traum-…? Ja. Schloss Neuschwanstein ist in meinen Augen weder Schloss noch Burg. Es ist Inbegriff des „Gebauten Traums“ eines in seiner Vorstellungskraft und seiner Kenntnisse zur Kultur und Architektur genialen Mannes. Die Begeisterung der Menschen für Schloss Neuschwanstein ist heute vielfach verbunden mit der schillernden Figur des Märchenkönigs. Manche bezeichnen das Schloss als Märchenschloss. Hat es aus Ihrer Sicht diese Mystik und Magie? Absolut! Fahren Sie an einem Herbstmorgen von Füssen kommend durch diese Landschaft, erblicken Sie das Schloss, das sich mit seiner Kalksteinfassade weiß, fast strahlend von dem bunt gefärbten Bergwald abhebt. Sehen Sie dann auf den Bergen darüber den ersten Schnee unter dem blauen Himmel-- mehr Klischee geht nicht. Das ist Magie! Eingangsabbildung: Der Blick in die Kuppel des Thronsaals. Foto: Bayerische Schlösserverwaltung, Oliver Steeger Detail eines Leuchters-- nach der Restaurierung! Foto: Bayerische Schlösserverwaltung, Heiko Oehme Heiko Oehme Heiko Oehme ist stellvertretender Baureferent bei der bayerischen Schlösserverwaltung: einem der größten Museumsträger in Deutschland mit 45 Schlössern, Burgen und Residenzen sowie weiteren Baudenkmälern und Künstlerhäusern. Foto: privat Heiko Oehme