PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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UVK Verlag Tübingen
10.24053/PM-2024-0069
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GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.Die Entfesselung des Project Management Office?
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Timo Braun
Joana Gerstle
Vincent Lächelt
Project Management Offices (PMOs) haben sich im Laufe der Zeit kontinuierlich weiterentwickelt und professionalisiert. Trotz dieser Fortschritte müssen sie ihren Mehrwert für das operative Projektgeschäft und die gesamte Organisation ständig unter Beweis stellen und einen strategischen Beitrag aufzeigen. In der Praxis existiert eine große Vielfalt an PMOs mit unterschiedlichen Ausgestaltungen und Schwerpunkten, die jedoch meist innerhalb der Grenzen der eigenen Organisation agieren. Um PMOs zukunftsfähig zu machen und gleichzeitig eine neue Perspektive zu eröffnen, um die eigene Legitimation zu sichern, könnte eine Lösung darin bestehen, die Kompetenzbereiche so zu erweitern, dass ein überbetriebliches bzw. organisationsübergreifendes Agieren ermöglicht wird. Der vorliegende Beitrag basiert auf einer jüngst im Project Management Journal erschienenen Veröffentlichung [1] und stellt die daraus ableitbaren Konsequenzen für die Projektmanagementpraxis in den Mittelpunkt. Entsprechend werden die nötigen Schritte für ein „entfesseltes PMO“ aufgezeigt und erörtert, inwiefern eine schrittweise Heranführung einem überstürzten Handeln vorzuziehen ist, und dass je nach Kontext ein anderer PMO-Typ geeignet sein kann. Auch die Aufgaben für ein „entfesseltes PMO“ werden skizziert rund um das Selektieren, Regulieren, Allozieren und Evaluieren. Zum Ende des Beitrags wird kritisch beleuchtet, wie realistisch ein „entfesseltes PMO“ in der Praxis tatsächlich ist und wie wir uns diesem Typ weiter nähern könnten.
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48 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 04/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0069 Ansätze für ein organisationsübergreifendes Mandat Die Entfesselung des Project Management Office? Timo Braun, Joana Gerstle, Vincent Lächelt Für eilige leser | Project Management Offices (PMOs) haben sich im Laufe der Zeit kontinuierlich weiterentwickelt und professionalisiert. Trotz dieser Fortschritte müssen sie ihren Mehrwert für das operative Projektgeschäft und die gesamte Organisation ständig unter Beweis stellen und einen strategischen Beitrag aufzeigen. In der Praxis existiert eine große Vielfalt an PMOs mit unterschiedlichen Ausgestaltungen und Schwerpunkten, die jedoch meist innerhalb der Grenzen der eigenen Organisation agieren. Um PMOs zukunftsfähig zu machen und gleichzeitig eine neue Perspektive zu eröffnen, um die eigene Legitimation zu sichern, könnte eine Lösung darin bestehen, die Kompetenzbereiche so zu erweitern, dass ein überbetriebliches bzw. organisationsübergreifendes Agieren ermöglicht wird. Der vorliegende Beitrag basiert auf einer jüngst im Project Management Journal erschienenen Veröffentlichung [1] und stellt die daraus ableitbaren Konsequenzen für die Projektmanagementpraxis in den Mittelpunkt. Entsprechend werden die nötigen Schritte für ein „entfesseltes PMO“ aufgezeigt und erörtert, inwiefern eine schrittweise Heranführung einem überstürzten Handeln vorzuziehen ist, und dass je nach Kontext ein anderer PMO-Typ geeignet sein kann. Auch die Aufgaben für ein „entfesseltes PMO“ werden skizziert rund um das Selektieren, Regulieren, Allozieren und Evaluieren. Zum Ende des Beitrags wird kritisch beleuchtet, wie realistisch ein „entfesseltes PMO“ in der Praxis tatsächlich ist und wie wir uns diesem Typ weiter nähern könnten. Schlagwörter | Project Management Office (PMO), Projektnetzwerke, Kooperation, Zusammenarbeit, Netzwerke, Steuerung 1. Die Erfolgsgeschichte von Project Management Offices In den vergangenen Jahrzenten ist der Anteil der Projektarbeit in Organisationen gestiegen. Oft ist in dem Zusammenhang von einer „Projektifizierung“ [2] die Rede. Um die Projektaktivitäten besser managen zu können, setzen Unternehmen auf eine Bündelung von Projektmanagement-Kompetenz in Form eines oder mehrerer PMOs. Die in einem PMO konzentrierten Aufgaben und Kompetenzen unterscheiden sich jedoch erheblich. Dies ist mitunter abhängig vom spezifischen Kontext, dem Reifegrad des Projektmanagements in der Organisation und nicht zuletzt auch von strategischen, unternehmenspolitischen Fragen. Unstrittig ist die Bündelung von Kompetenz und Wissen im Projektmanagement sowie die Rolle von PMOs als Bindeglied zwischen der Strategie und dem operativen Projektgeschäft von Organisationen. So führen viele PMOs Qualifizierungsaktivitäten von Projektmanagern und anderen Fachkräften durch, die mit Projektmanagement-Aufgaben betraut sind. Darüber hinaus kann die Standardisierung des im Unternehmen eingesetzten Projektmanagements eine zentrale Aufgabe sein. Dazu gehören neben Zertifizierungen von Personen nach bestimmten Standards (wie IPMA / GPM) auch die Etablierung organisationsweiter Projektmanagement- Prozesse und Regularien, die Verbreitung von Vorlagen und Templates sowie die Einführung unternehmensweiter Projektmanagement-Tools. Auch die Etablierung eines einheitlichen Reporting mit Blick auf die im Unternehmen laufenden Projekte können von Bedeutung sein. Wissen | Die Entfesselung des Project Management Office? 49 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 04/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0069 Bei der Entwicklung von PMOs lassen sich verschiedene Entwicklungsstufen unterscheiden [3]. Ein einfaches PMO hat vor allem die Projektebene im Visier und stellt sicher, dass in der laufenden Projektarbeit organisationale Regularien und Prozesse umgesetzt werden, das Projektteam auf etablierte Methoden und Verfahren des Projektmanagement zurückgreift und Controlling-Instrumente implementiert werden. Es ist möglich und verbreitet, dass sich aus einem solchen Nukleus heraus ein PMO weiterausdifferenziert, indem es z. B. mit zusätzlichen Aufgaben und Kompetenzen ausgestattet und die Professionalisierung weiter vorangetrieben wird. Für diese Entwicklungsphase gibt es viele branchenübergreifende Erfolgsbeispiele. Gleichzeitig führt das damit in der Regel verbundene Wachstum von PMOs auch dazu, dass der Legitimationsdruck steigt. PMOs müssen immer wieder nachweisen und begründen, warum eine Konzentration von Aufgaben notwendig erscheint, und worin genau der Wertbeitrag zum operativen Geschäft besteht. Mit voranschreitender Entwicklung von PMOs wird die projektübergreifende Perspektive immer wichtiger. Hierbei rücken das Programm- und Portfoliomanagement in den Mittelpunkt. Dadurch ergeben sich neue, zusätzliche Aufgaben für das PMO wie die Bewertung und Priorisierung von Projekten basierend auf ihrem Beitrag zu den strategischen Zielen und der Ressourcenverfügbarkeit, die Entwicklung einer Projektportfoliostrategie, oder auch die Optimierung der Ressourcenzuweisung über alle Projekte und Programme hinweg, um den Nutzen zu steigern und Engpässe zu vermeiden. In seiner maximalen Ausbaustufe fungiert das PMO als strategischer Berater und Kompetenzzentrum für Projekt-, Programm- und Portfoliomanagement in der gesamten Organisation. Typische Aufgaben umfassen beispielsweise die Entwicklung und Förderung von Best Practices, innovativen Methoden und Tools im Projektmanagement, die Etablierung von Entwicklungsprogrammen für Projektmanager, die Einführung von organisationsweiten Qualitätsstandards für Projekte und Programme sowie auch den Aufbau und die Verwaltung einer Wissensbasis für das Projektmanagement, die den Austausch von Wissen und Erfahrungen fördert. Es ist anzumerken, dass PMOs auf unterschiedliche Weise in Organisationen entstehen können. Es existieren zwar Vorbilder und typische Vorgehensmodelle beim Aufbau eines PMOs, an denen sich die Beteiligten orientieren. Dennoch zeigt sich in der Praxis, dass sich PMOs in der Realität dann doch sehr häufig aus der operativen Arbeit und den Notwendigkeiten vor Ort entwickeln und keinem starr geplanten Prozess folgen [4]. Die Entstehung von PMOs in einer Organisation sollte dabei aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden, da mitunter parallel zur Professionalisierung eines PMO auch ein organisationaler Wandel stattfindet. Denn während die Notwendigkeit einer Standardisierung von Projekt- und Projektmanagementpraktiken innerhalb einer Organisation zunächst die Etablierung eines PMO rechtfertigt, können in der Folge weitere Transformationsbedarfe entstehen, die durch die Arbeit des PMO zu Tage treten (beispielsweise an der Schnittstelle von Projekt- und Stammorganisation). Viele PMOs sind in der Lage, mit genau dieser Situation kompetent umzugehen, weil sie flexible und partizipative Ansätze nutzen, um Spannungen konstruktiv zu lösen [5]. Die Entwicklung eines PMO folgt damit keinem klassischen Lebenszyklus, wie es trotz der neuen Erkenntnisse in der Literatur häufig noch angenommen wird, sondern bezieht sich immer auf den Kontext und die spezifischen Gegebenheiten des Unternehmens. Auch wenn PMOs immer wieder im Zwang stehen, ihr eigenes Dasein zu legitimieren, so können sie insgesamt als Erfolgsgeschichte gelten. Sie tragen dazu bei, die Effizienz und Effektivität des Managements von Projekten durch standardisierte Prozesse, klare Kommunikation und eine zentrale Steuerung zu verbessern. PMOs können insofern für eine bessere Ressourcennutzung, ein besseres Risikomanagement und eine strategisch konsistente Ausrichtung sorgen. Zudem fördern sie die kontinuierliche Verbesserung und Innovation im Projektmanagement. Durch ihre Fähigkeit, Projekte und Programme zu koordinieren und die strategischen Ziele der Organisation zu unterstützen, können PMOs damit zum wirtschaftlichen Erfolg beitragen. 2. Projekte enden nicht an den Organisationsgrenzen Trotz ihres Potenzials und der zunehmenden Professionalisierung von PMOs stoßen diese auch an Herausforderungen und Barrieren. Dies hat einerseits zu tun mit dem schon beschriebenen Rechtfertigungs- und teilweise auch Rationalisierungsdruck. Andererseits stoßen PMOs auch an Grenzen ihres Wirkungs- und Einflussbereichs. Denn während die Aufgaben- und Kompetenzbereiche von PMOs auf einzelne Organisationen bzw. deren Anteil am Wertschöpfungsprozess begrenzt sind, so zeigt die Praxis, dass eine Vielzahl von Projekten mitnichten an den Organisationsgrenzen enden. Vielmehr sind Projekte heutzutage in sehr vielen Fällen überbetrieblicher bzw. organisationsübergreifender Natur [6]. Dies trifft sowohl auf IT-Projekte zu, bei denen der Kunde mit externen Dienstleistern, Service-Anbietern und Trainern kooperiert wie auch auf Bauprojekte, die mitunter in eine Vielzahl von Gewerken zerlegt werden, an denen dann eine große Bandbreite an Organisationen arbeitet, darunter Planungsbüros, Projektsteuerer und ausführende Unternehmen. Eine sehr ähnliche Situation zeigt sich in vielen weiteren Branchen, beispielsweise in der Telekommunikation, der Fernsehproduktion, Luft- und Raumfahrttechnik, Energiewirtschaft, Automobilindustrie oder der Beratung. Die Vielfalt der Kooperationspartner steigert auch die Komplexität der Projekte, denn die zunehmende Zahl an Beziehungen und der erhöhte Koordinationsaufwand ist eine herausforderndere Aufgabe als bei einer rein internen Projektabwicklung. Beispielsweise zeigen Studien der Organisationsforschung, dass Wissen nicht nur innerhalb von Projekten, sondern häufig auf einer Netzwerkebene fließt [7]. Vor diesem Hintergrund kommen PMOs als Wissensvermittler in Betracht, der auch über die eigene Organisation hinaus agieren könnte. Denkbar wäre auch ein als Change Agent agierendes PMO, das dazu beiträgt, auf notwendige Änderungsanforderungen zu reagieren und neue (strategische) Ausrichtungen, nicht nur einer einzelnen Organisation, sondern beispielsweise eines ganzen organisationsübergreifenden Projektnetzwerks zu ermöglichen [8]. Da Projekte vermehrt in solchen Kontexten durchgeführt werden, ist der Fokus auf eine einzelne Organisation jedenfalls nicht mehr hinreichend. In einem sehr kürzlich veröffentlichten Beitrag [1] wird vor diesem Hintergrund beleuchtet, wie eine „Entfesselung“ des PMOs konkret aussehen und wie die Implementierung erfolgen könnte sowie Wissen | Die Entfesselung des Project Management Office? 50 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 04/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0069 welche Aufgaben solch ein organisationsübergreifendes PMO wahrnehmen könnte. 3. Ansatzpunkte für eine schrittweise Entfesselung Ein überbetriebliches PMO dürfte insbesondere für Organisationen in Betracht kommen, die bereits ein erfolgreiches PMO betreiben, das womöglich bereits einen hohen Reifegrad erreicht hat. Schwieriger vorstellbar ist die Initiierung und Etablierung eines organisationsübergreifenden PMOs, wenn die beteiligten Organisationen bislang wenig oder gar keine Erfahrungen mit PMOs im internen Bereich gesammelt haben. Vor diesem Hintergrund zeigen die nachfolgenden Typen die Möglichkeiten der „Entfesselung“ von PMOs. Dabei soll nicht suggeriert werden, dass der letzte Typ der beste und der erste Typ der schlechteste ist. Vielmehr sind in der Praxis alle vier Typen grundsätzlich möglich, und es kommt entscheidend auf den Organisations- und Netzwerkkontext bzw. die spezifischen Anforderungen an, die an das PMO gestellt werden. Entlang der folgenden Typen kann eine „Entfesselung“ des PMOs stattfinden: [1] typ 1 Vollständig intern: Das PMO agiert vollständig innerhalb der eigenen Organisationsgrenzen und beschäftigt sich ausschließlich mit den Projekten im eigenen Betrieb. Es handelt exklusiv im Auftrag einer einzelnen Organisation. Berührungspunkte nach außen beschränken sich z. B. auf Berücksichtigung von Kunden oder Zulieferern. Grund hierfür könnte z. B. eine hohe Komplexität der Projekte und damit einhergehende Schwierigkeit der Vereinheitlichung sein. Insofern handelt es sich hier allenfalls um eine erste Annäherung an einen organisationsübergreifenden Gestaltungsraum. typ 2 Vorsichtige Experimente: Das PMO handelt exklusiv im Auftrag einer einzelnen Organisation, erkennt jedoch das Potenzial, den Schritt über die eigene Grenze hinauszuwagen. Dies könnte zum Beispiel im Sinne von Wissensaustausch mit oder Teilnahme von externen Partnern bei einzelnen Prozessschritten oder Events geschehen. Dem liegt die Überlegung zu Grunde, keine zu großen Risiken einzugehen, sondern behutsam neues Terrain zu betreten. Im Falle eines Fehlschlags wäre es sodann auch möglich, zum vorherigen Status-quo relativ einfach zurückzukehren. typ 3 PMO mit einzelnen organisationsübergreifenden Aktivitäten: Das PMO ist weiterhin innerhalb einer Organisation angesiedelt, fördert und standardisiert jedoch vermehrt Kooperation und interorganisationalen Austausch. Beispielsweise könnte eine Einigung auf bestimmte Projektmanagement-Standards (z. B. IPMA / GPM) oder die Etablierung interorganisationaler Routinen die Zusammenarbeit reibungsloser und effizienter gestalten und das gegenseitige Verständnis über organisationale Grenzen hinweg fördern. Bei diesem Typ steht im Fokus, besonders aussichtsreiche Aktivitäten mit Synergiepotenzialen gemeinsam zu verfolgen. typ 4 Interorganisationales PMO: Das PMO ist keiner einzelnen Organisation vollständig zugeordnet, es setzt sich zusammen aus Akteuren verschiedener Organisationen. Es ist vollständig in einen organisationsübergreifenden Kontext eingebettet. Die beteiligten Organisationen tragen das PMO entweder gemeinsam und teilen sich die anfallenden Aufgaben untereinander auf-- oder sie etablieren eine neue Einheit, die beispielsweise gemeinsam finanziert und gesteuert wird. [1] Die vier Typen sollen als Ausdruck unterschiedlicher Tätigkeiten und Verantwortlichkeiten betrachtet werden, für die PMOs ein Mandat übernehmen. Die Typologisierung ist dabei nicht zwangsläufig als ein linearer Entwicklungsprozess (von Typ 1 zu Typ 4) zu verstehen, auch wenn dies durchaus vorkommen kann. Auch ist Typ 4 nicht zwangsläufig effektiver, effizienter oder ausgereifter als die anderen. Vielmehr dürften die meisten PMOs in der Praxis immer noch unter Typ 1 fallen und den Anforderungen ihrer Organisation dennoch gerecht werden, zumal wenn sie die Herausforderungen eines organisationsübergreifenden Projektmanagements im Blick haben. Zudem birgt das interorganisationale PMO beim Typ 4 auch Spannungen und Hindernisse, die es zu überwinden gilt, bspw. da unterschiedliche Organisationskulturen und -standards zusammengebracht werden müssen und die Frage geklärt werden muss, aus welcher Kostenstelle das PMO als Organisationseinheit oder seine Leistungen bezahlt werden soll. Für viele Organisationen ist dieser Typ daher aktuell eher noch Fiktion. Wenn PMOs zunehmend in interorganisationalen Kontexten agieren, wird es jedoch unvermeidlich sein, sich um das Management dieser Beziehungen zu kümmern, und dafür können die Typen 2, 3 und 4 einen fruchtbaren strukturellen Boden bieten. 4. Neue Aufgaben für ein entfesseltes PMO PMOs, die zunehmend über Organisationsgrenzen hinweg agieren, sehen sich neuen Aufgaben und Herausforderungen gegenüber. So müssen sie neben dem klassischen Fokus auf Professionalisierung, Standardisierung, Koordination und Qualifizierung für die Projektarbeit, nun insbesondere auch Koordinationsaufgaben zwischen den gemeinsamen Aktivitäten kooperierender Organisationen und damit folgende Funktionen zum Management der überbetrieblichen Beziehungen übernehmen: Selektieren. Hiermit ist die Auswahl passender Kooperationspartner gemeint: Wer soll Teil des PMO sein / bleiben? Relevant ist dabei sowohl die Erstauswahl bei der erstmaligen Aufstellung eines PMO als auch die Re-Selektion (wer bleibt? ) und die De-Selektion (wer geht? ) im weiteren Verlauf. Darüber hinaus kann das PMO die Selektionsfragen nicht nur für die eigene Aufstellung (des PMOs) beantworten, sondern als Teil ihrer Managementfunktion für Projekte auch Standards für die Auswahl der Mitglieder in (interorganisationalen) Projekten festlegen. Insgesamt hat die Selektionsfunktion weitreichende Auswirkungen, da die Auswahl der Akteure den Grundstein der Zusammenarbeit liefert. Beispielsweise entscheidet die Aufnahme von Partnern, welche Ressourcen und Kompetenzen eingebracht werden können oder benötigt werden und sendet darüber hinaus starke Signale an potenzielle zukünftige Partner. Eine besondere Herausforderung im überbetrieblichen Kontext ergibt sich aus den unterschiedlichen organisationalen Interessen, Standards, Kulturen und Professionalisierungsgraden, die zusammengebracht und möglicherweise aufeinander abgestimmt werden müssen. Regulieren. Hiermit ist die formelle und informelle Steuerung der Zusammenarbeit gemeint: Wie sollte die Zusammenarbeit der Projektpartner organisiert werden? Welche Art von Vertrag oder anderen formellen Steuerungsmechanismen gibt es? Welche Art der Kommunikation und Interaktion sollte gewählt werden? Hier werden sozusagen „Spielregeln Wissen | Die Entfesselung des Project Management Office? 51 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 04/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0069 der Zusammenarbeit“ aufgestellt. Diese können unterschiedliche Formalisierungsgrade einnehmen: Von offiziellen Vorschriften, formellen Verträgen oder Handbüchern hin zu losen mündlichen Absprachen oder stillschweigenden Vereinbarungen zwischen den Partnern. Das PMO hilft bei der Aufstellung solcher Standards und Richtlinien und der Etablierung oder Legitimierung informeller Regeln. Herausfordernd können dabei insbesondere fehlende Führung auf interorganisationaler Ebene, unklare Zuständigkeiten sowie Kommunikationskanäle sein, die die Umsetzung erschweren. Allozieren. Hiermit ist die Zuteilung von Aufgaben, Verantwortlichkeiten und Ressourcen gemeint: Wie sollen diese im PMO verteilt werden? Wo liegen Kompetenzen und Bedarfe? Unter Ressourcen können dabei z. B. Kapital, Anlagen, Technologien, aber auch Personal, Fähigkeiten, Wissen, Beziehungen etc. fallen. Auch hier handelt es sich nicht um einen einmalig abgeschlossenen Prozess, sondern um eine kontinuierliche Aufgabe (Re-Allokation). Dies erfordert, dass das PMO einen guten Überblick über die Kapazitäten und Fähigkeiten seiner organisationsübergreifenden Partner hat, um als Vermittler fungieren zu können und Partner mit komplementären Bedarfen und Ressourcen zusammenzuführen. Darüber hinaus kann das PMO auch als Fundraiser agieren und bei den überbetrieblichen Partnern (finanzielle und nicht-finanzielle) Mittel einholen, die an anderer Stelle oder auf interorganisationaler Ebene benötigt werden. Evaluieren. Hiermit ist die regelmäßige Überprüfung der Kooperation gemeint: Zahlt sich die Kooperation aus? Läuft es wie gewünscht? Stehen Input und Output in einem fairen Verhältnis? Was sollte beibehalten/ geändert werden? In diesem Fall spielt die Evaluierung nicht nur auf der Ebene der einzelnen Organisation und des Projekts (oder Projektportfolios) eine Rolle, sondern auch auf der Ebene des eingebetteten PMO. Herausfordernd gestaltet sich hier die Frage, wie der Wert des PMO in einem überbetrieblichen Kontext gemessen und sichtbar gemacht werden kann- - insbesondere mit Hinblick auf die große Anzahl von Projekten und den immensen Umfang der Daten. Die Evaluierung wiederum hat Rückwirkung auf die vorab genannten Prozesse, da auf Basis der Ergebnisse möglicherweise Änderungen in der Partnerauswahl, den Regularien und der Verteilung von Ressourcen und Aufgaben erfolgen. Somit werden die vier Funktionen nicht in einem linearen Prozess nacheinander abgehandelt, sondern laufen teilweise nebeneinander und beeinflussen sich immer wieder gegenseitig. Die vier spezifischen Unterstützungsfunktionen eines PMO können entweder in einer der teilnehmenden Organisationen zentralisiert werden oder als gemeinsame organisatorische Einheit von mehr oder weniger allen zusammenarbeitenden Organisationen oder auf noch dezentralere Weise, z. B. im Rahmen einer gemeinsamen Verwaltung, ausgeführt werden [9].Bei der Ausführung der spezifischen Funktionen erfordert die Unterstützung des Managements über Organisationsgrenzen hinweg eine umfangreiche Netzwerkarbeit, die insbesondere eine intensive Kommunikation, Kollaboration und soziale Integration umfasst. 5. Fazit: Ein weiter Weg mit ungewissem Ausgang PMOs haben sich mit Blick auf Ihre Kompetenzbereiche und Aufgaben in der Vergangenheit immer wieder neu erfunden und es ist ein Pfad der Professionalisierung erkennbar. PMOs stehen unter einem permanenten Legitimierungszwang, da sie ihren Mehrwert für das operative Projektgeschäft wie auch für die Organisation insgesamt nachweisen und bestenfalls einen strategischen „Impact“ aufzeigen müssen. Vor diesem Hintergrund, und gekoppelt mit einem steigenden Kosten- und Rationalisierungsdruck, sind PMOs in den vergangenen Jahren zunehmend unter Druck geraten. In der Praxis ist eine große Bandbreite an PMOs vorzufinden, die sich in der konkreten Ausgestaltung und den Schwerpunkten unterscheiden. Allerdings sind die allermeisten PMOs strikt auf die Organisationsgrenzen beschränkt. Das führt dazu, dass die bereitgestellten Leistungen in der Vielzahl überbetrieblicher Projekte an ihre Grenzen stoßen. Deshalb erscheint es notwendig, über neue Wege nachzudenken mit der zentralen Frage im Hintergrund: Wie können PMOs einen messbaren Mehrwert leisten? Eine „Entfesselung“ des Kompetenzbereichs, die ein stärker interorganisationales Agieren eröffnet, wäre eine aussichtsreiche Möglichkeit. Der Beitrag zeigt, welche Schritte dabei nötig sind und welche Aufgaben ein solches PMO zu erledigen hätte. Trotzdem bleiben ungeklärte Folgefragen, beispielsweise: Wer zahlt die Leistungen des PMOs, die Anderen zu Gute kommen? Und wo ist das PMO verankert: in einer der Organisationen oder als eine gemeinschaftliche Einheit? Womöglich lassen sich solche Fragen klären, wenn erste Schritte in Richtung eines entfesselten PMOs tatsächlich erfolgt und Erfahrungen gemacht wurden. Literatur [1] Braun, T. & Sydow, J. (2024): The mandate of project management offices beyond organizational boundaries- - Still a blind spot for organizational design? Project Management Journal, 55, im Druck. [2] Midler, C. (1995): “Projectification” of the firm: the Renault case. Scandinavian Journal of Management, 11(4), 363-375. [3] Hill, G. M. (2004). Evolving the project management office: A competency continuum. Information Systems Management, 21(4), 45-51. [4] Hobbs, B., Aubry, M., & Thuillier, D. (2008). The project management office as an organisational innovation. International Journal of Project Management, 26(5), 547-555. [5] Aubry, M., Müller, R., Hobbs, B., & Blomquist, T. (2010). Project management offices in transition. International Journal of Project Management, 28(8), 766-778. [6] Sydow, J., & Braun, T. (2018). Projects as temporary organizations: An agenda for further theorizing the interorganizational dimension. International Journal of Project Management, 36(1), 4-11. [7] Brady, T., & Davies, A. (2004). Building project capabilities: From exploratory to exploitative learning. Organization Studies, 25(9), 1601-1621. [8] Braun, T. & Müller-Seitz, G. (2023): Digitale Transformation: Wandel durch Projekte. München: Vahlen. [9] Braun, T. (2018). Configurations for interorganizational project networks: The interplay of the PMO and network Wissen | Die Entfesselung des Project Management Office? 52 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 04/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0069 administrative organization. Project Management Journal, 49(4), 53-61. Eingangsabbildung: © iStock.com / mattjeacock Braun/ Lächelt: © Universität Kassel, Sascha Mannel Gerstle: © Privat, Lars Riemann Univ.-Prof. Dr. Timo Braun Univ.-Prof. Dr. Timo Braun leitet das Fachgebiet „Projektmanagement in der Digitalen Transformation“ an der Universität Kassel. Er kooperiert in verschiedenen Projekten und Gremien seit fast 15 Jahren mit der GPM und ist wissenschaftlicher Leiter der aktuellen GPM Gehalts- und Karrierestudie sowie Mitglied der Jury des Deutschen Studienpreis Projektmanagement. Universität Kassel, Fachgebiet Projektmanagement in der Digitalen Transformation, Heinrich-Plett-Straße 40, D-34109 Kassel Internet: http: / / uni-kassel.de / go / pmdt eMail: timo.braun@uni-kassel.de Joana Gerstle Joana Gerstle ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Projektmanagement in der Digitalen Transformation an der Universität Kassel. Ihre Forschung bezieht sich auf die Anwendung psychologischer Konzepte in Projektkontexten; im Vordergrund stehen dabei individuelles und Team-Verhalten in Projekten, Führung in Projekten und Veränderungsmanagement. eMail: gerstle@uni-kassel.de Vincent lächelt Vincent Lächelt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Projektmanagement in der Digitalen Transformation an der Universität Kassel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen dabei im Risikomanagement und Controlling von Projekten, unter anderem zu der Verbesserung der Akzeptanz sowie Wirtschaftlichkeit von Verkehrsinfrastrukturprojekten. eMail: laechelt@uni-kassel.de