eJournals PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL 35/5

PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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UVK Verlag Tübingen
10.24053/PM-2024-0085
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2024
355 GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.

Olympische Spiele in Paris – ein Großprojekt aus der Perspektive einer teilnehmenden Athletin

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Steffen Rietz
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22 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 05/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0085 Olympische Spiele in Paris-- ein Großprojekt aus der Perspektive einer teilnehmenden Athletin Steffen Rietz Ein sportbegabtes Kind zu einem international erfolgreichen Leistungssportler weiterzuentwickeln, ist eine mehrjährige Herausforderung ohne Erfolgsgarantie. Neben dem sportartspezifischen Training muss viel strukturiert & organisiert, analysiert & konzipiert, koordiniert & kommuniziert, zielorientiert geplant & gesteuert werden, was sehr viele Parallelen zur professionellen Projektarbeit aufweist. Während alle vorolympischen Infrastrukturprojekte in Paris einen klaren Projektauftrag und ein Gesamtbudget von ca. 3,5 Mrd. € hatten (die Spiele insgesamt ca. 8,8 Mrd. €)[1], sind private Sportkarrieren oft auch privat zu organisieren, zu koordinieren und zu finanzieren. Diese Anwendung von Projektmanagementmethoden außerhalb klassischer Projektarbeit wurde bereits in PMA 02/ 2024, S. 59-69 am Beispiel der Dualen Karriere studierender Leistungssportler thematisiert. Inzwischen hat Sandra Paruszewski dazu ihr Buch „Projektmanagement Know-how für die Duale Karriere“ publiziert und selbst an den Olympischen Spielen in Paris teilgenommen. Ähnlich wie die Projektplanung auf der Zielgeraden eine detaillierte Feinplanung für einen fristgerechten Projektabschluss erfordert, soll ihre letzte Vorbereitungsphase genauer betrachtet werden. Wir ergründen die Details von Paruszewskis Weg seit ihrer erfolgreichen Qualifikation über vier Monate bis zu ihrem olympischen Ringerwettkampf in Paris. Neben der chronologischen Verfolgung aller Planungsnotwendigkeiten liegt ein besonderer Fokus auf den Projektmanagement-Aspekten. Frau Paruszewski, Sie waren eine von 211 Top- Athletinnen, die neben ähnlich vielen Männern das Team D bei den Olympischen Spielen vertreten haben. Am 06. April, dem Tag Ihrer erfolgreichen Qualifikation, haben Sie ein langjähriges Ziel erreicht und ein neues Ziel definieren müssen. Was hat sich an dem Tag geändert? An dem Tag selbst ist, abgesehen von der spontanen Freude, nichts mehr passiert. Da ist mir nur ein Stein vom Herzen gefallen, dass die formale Anforderung erreicht war. Richtig realisiert habe ich die Tragweite erst nach ein paar Tagen. Das war auch der erwartbare Rhythmus. Nach jedem großen Turnier hat man einige Tage Ruhe, steigt dann wieder ins Training ein und resümiert nach und nach das Erreichte und das Gelernte. Dann wurde auch die grobe Planung besprochen. Sie meinen, Sie haben begonnen bis Paris zu planen. Abbildung 1: Sandra Paruszewski-- die Olympia-Qualifikation ist oft die Erreichung eines langjährigen Ziels und gleichzeitig der Start eines neuen, noch herausfordernderen Projektes (Bild-Quelle: UWW) Reportage | Olympische Spiele in Paris-- ein Großprojekt ... 23 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 05/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0085 Nein, die grobe Planung war fertig und wurde nur noch besprochen. Die macht ohnehin der Bundestrainer und der hat aus zurückliegenden internationalen Turnieren einen Standard, wie Athleten vorbereitet werden. 2024 hatten sich schon andere Ringer vor mir für Paris qualifiziert. Für die gab es einen konkreten Wettkampfvorbereitungsplan und in den bin ich mit eingestiegen. Grobkonzept Es gab also eine Art „Schablone“, welche Schritte zu durchlaufen sind, ähnlich wie in Projekten der Bauindustrie oder der Produktentwicklung? Keine individuelle Vorbereitung? Die Grobplanung im Vorfeld großer Turniere ist immer sehr ähnlich. Es gibt eigentlich nur drei nennenswerte Gestaltungsparameter: 1.) Je nach Länge der Gesamtvorbereitungszeit fallen die einzelnen Phasen der Vorbereitung mal länger, mal kürzer aus. 2.) Man kann individuell gestalten, ob man in der Vorbereitung auf ein großes Turnier noch an anderen kleinen Turnieren teilnimmt oder eher nicht. Und 3.) müssen internationale Trainingsgegnerinnen organisiert werden. Man muss sich mit unbekannten und sehr guten Gegnerinnen auseinandersetzen, und nicht nur mit den beiden Vereinskameradinnen, deren Stärken und Schwächen ich aus zehn gemeinsamen Jahren schon in- und auswendig kenne. Oh, bitte langsam und einzeln. Beschreiben Sie uns zunächst den zugrunde liegenden Standard. Das ist ein 3-Phasen-Modell, beginnend mit der Grundlagenphase, also Krafttraining, Muskelaufbau, Konditionstraining, Aufbau von Grundschnelligkeit- - eben die Basics. Das lernt man ja nicht nur einmalig in der Jugend, sondern arbeitet daran ein Sportlerleben lang. Dann kommt die Aufbauphase, d. h. mehr Matten- und Techniktraining und die Feinkorrektur noch nicht perfekter Bewegungsabläufe. Als letztes dann die Intensitätsphase. Da werden die Matteneinheiten wieder deutlich kürzer, dafür intensiver zum Aufbau der notwendigen Wettkampfhärte. Das ist dann stark individuell skalierbar durch die Anzahl der echten Wettkämpfe, an denen man noch vorbereitend teilnimmt. Um das gesagte nicht aus dem Auge zu verlieren: Sie sprachen von der Notwendigkeit, internationale Trainingsgegnerinnen zu organisieren-- für den gesamten Prozess? Nicht vom ersten bis zum letzten Tag, aber für mehr als nur einen Tag. Es ist eine Grundsatzfrage, ob man ein eigenes internationales Trainingslager in Deutschland anbietet oder ein anderes bereits angekündigtes besucht. Wir sind z. B. zwei Mal in die Türkei gefahren, haben uns dort dem Trainingslager der türkischen und kirgisischen Ringer angeschlossen und auch selbst eine ecuadorianische Ringerin mit ihrem Trainer dorthin eingeladen. Also Ihre persönliche Vorbereitung auf das olympische Turnier war integriert in die Vorbereitung aller qualifizierten Ringerinnen für Paris und war abhängig von der Vorbereitung mehrerer anderer nationaler Verbände? Ja, genau. Aber das ist normal. Die genannten Phasen sind konzeptionell weltweit fast einheitlich. Wenn man dann in der unmittelbaren Wettkampfvorbereitung angekommen ist und alle Athleten bereiten sich in ähnlicher Weise auf den gleichen Wettkampf vor, auf Olympia, dann wird das sinnvollerweise mit befreundeten Verbänden koordiniert, mindestens europaweit. Anmeldung und Frühphase der Vorbereitung Lassen Sie uns die strukturellen und organisatorischen Aspekte fokussieren. Was war der erste Meilenstein? Der Wettkampfablaufplan, d. h. die zwei Wettkampftage pro Gewichtsklasse stehen schon sehr früh mit Datum und Uhrzeiten fest. Vorkämpfe zwischen 11: 00 und 14: 00 Uhr, Finalkämpfe im Abendprogramm von 18: 00 bis 20: 00 Uhr, dazwischen die Halbfinalkämpfe und Hoffnungsrunden. Der erste Schritt ist dann die Anmeldung, bei mir sogar schon vor der Qualifikation. Ist die Qualifikation nicht die Voraussetzung für die Teilnahme? Ja, aber nicht für die Anmeldung. Es wird sehr früh eine ‚Long List‘ erstellt. Für alle infrage kommenden Athletinnen wird alles eingereicht, um Richtigkeit, Vollständigkeit und Fristenwahrung frühzeitig sicherzustellen. Entstehen in Projekten die ersten Überlegungen und Dokumente nicht auch schon vor dem Projektstart? Sorry, vielleicht war ‚angemeldet‘ das falsche Wort, aber erfasst und registriert. Dazu gehören neben meinem Namen alle persönlichen Daten, ein umfangreicher Fragebogen, die Einwilligung in Datenschutzaspekte zur Digitalisierung und Verarbeitung aller Informationen, alle Anträge, Unterschriften-… Als Anfang Juli die Nominierung kam, war das administrative schon seit Mitte März abgehakt. Und dann beginnt die eigentliche Vorbereitung. Mehr oder weniger konkret, je nach Zeitpunkt der Qualifikation. Die früh qualifizierten haben fast sechs Monate Vorlauf und Gewissheit. Bei mir waren es noch vier Monate. Andere sind vielleicht lange auf einer Nachrückerposition und werden bei einem ungeplanten Ausfall anderer Sportler erst wenige Wochen oder gar Tage vor ihrem Wettkampf nachnominiert. Haben spät Nachnominierte überhaupt noch eine reale Chance? Der Bundestrainer empfiehlt jedem konkret 1-2 kleine Vorbereitungsturniere. Die Auswahl und Entscheidung trifft aber der Athlet. Wenn die Zeit dazu nicht mehr reicht, kommen die Nachrücker nicht unvorbereitet, sondern lediglich aus einer nicht Olympia-spezifischen Trainingsroutine. Die Botschaft an potenzielle Nachrücker ist immer: Haltet Euch fit! Also eine permanent begleitende Chancen- und Risikobetrachtung: Die einen können trotz ihrer Nominierung noch ausfallen und andere trotz Nichtnominierung plötzlich aktiviert werden und nachrücken. Haben Sie konkrete Beispiele? Der Zehnkämpfer Manuel Eitel hat Corona bekommen und kurzfristig Platz gemacht für Till Steinforth. Lena Oberdorf hat sich im letzten Vorbereitungsspiel verletzt. Janina Minge Reportage | Olympische Spiele in Paris-- ein Großprojekt ... 24 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 05/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0085 ist sehr kurzfristig eingesprungen und hat mit den Fußballerinnen sogar Bronze geholt. Meine Ringerkameradin Annika Wendle ist ebenfalls nachgerückt, weil die vor ihr qualifizierten Weiß-/ Russinnen nicht angetreten sind. In der Risikobetrachtung müssen also viele Aspekte gesehen und interpretiert werden. Corporate Identity Nachdem Sie von keinem der genannten Risiken betroffen waren, ging es irgendwann zur Einkleidung? Ja, aber deutlich später. Das war ein schöner Tag. Es war ein Zeitfenster von ca. 2 Wo. für alle deutschen Olympiateilnehmer auf dem Messegelände in Düsseldorf definiert. An einem Freitag sind wir dann als Ringerteam geschlossen dorthin gefahren. Über den Trainer sprachen Sie schon. Im Sinne der Stakeholderbetrachtung stellen Sie uns bitte das gerade genannte Ringerteam vor. Die Frauenmannschaft bestand aus vier Athletinnen zzgl. Trainer & Co-Trainer. Zwei Trainingspartnerinnen waren dabei, eine für die unteren, eine für die oberen Gewichtsklassen. Ein Physiotherapeut; das war schon ein Privileg. Sehr kleine Teams oder Einzelsportler müssen auf die zentralen DOSB- Physios zurückgreifen. Dann noch ein paar Betreuer und Funktionäre-- in Summe ca. 10-15 Personen. Wie müssen wir uns eine solche Einkleidung vorstellen? Jeder bekommt seine Liste mit-- es waren wohl um die 80 Dinge, die ich bekam-- und dann geht es von Station zu Station: Taschen, Rucksäcke, Trainingsbekleidung, einheitliche Kleidung für die Eröffnungs- und Abschlussfeier, Bekleidung für die Medaillenzeremonie, einheitliche Freizeitkleidung für den Aufenthalt im Olympischen Dorf, Schuhe, Badelatschen, verschiedene Mützen-- insgesamt schon sehr viel. Zu viel? Orientiert am funktionalen Bedarf vielleicht zu viel. Aber es spielen ja viele Aspekte mit rein. Ich habe es auch als Wertschätzung empfunden. All die Kleidungsstücke sind nach den Olympischen Spielen sofort zu Erinnerungsstücken geworden. An große und erfolgreiche Projekte erinnert man sich ja gern und lange. Und Olympia ist das Größte. Die Einkleidung ist auch eine Imagefrage. Wie will Deutschland sich auf dem vermutlich größten Event der Welt präsentieren? Es gab auch explizit einen Kleiderleitfaden, in dem genau geregelt ist, wann was wie zu tragen ist. Einheitlichkeit schafft Zusammenhalt- - in jedem Team. Die Sachen waren alle sehr hochwertig, identitätsstiftend und ein Motivationsschub. Abbildung 2: Das Team der deutschen Ringerinnen, einheitlich gekleidet und bereit für die Spiele (Foto: privat) (Untere Reihe: Sandra Paruszewski (rechts) und die genannte Annika Wendle (2.v.l.)) Reportage | Olympische Spiele in Paris-- ein Großprojekt ... 25 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 05/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0085 Ernährung, Wiegen und andere Risiken Als Ringerin sind Sie ja auch den Grenzen der Gewichtsklassen unterworfen. Ändert das ggf. auch temporär Ihre Konfektionsgröße oder bleibt die Einkleidung davon unberührt? Laut lachend: Wir wachsen oder schrumpfen ja nicht. In unterschiedlichen Sportarten und auch von Typ zu Typ abhängig wird das ‚Gewicht machen‘ mehr oder weniger extensiv betrieben. Ich beginne meist erst zehn Tage vor dem Wettkampf, gezielt auf das Wettkampfgewicht hinzuarbeiten. Was heißt das? Die Essensportionen werden insgesamt kleiner. Kohlenhydrate werden reduziert, der Eiweißkonsum dafür etwas hochgeschraubt. Vor allem ist die Energiezufuhr viel stärker auf die Trainingsbelastung abzustimmen, d. h. an einem Regenerationstag sollte man nicht viel essen, nur weil es gerade gut schmeckt. Das ist in der Phase dann mal kein Argument. Auch wenn man Frauen nicht auf ihr Gewicht anspricht. Darf ich das ausnahmsweise mal tun? Hatten Sie Gewichtsprobleme? Lassen Sie mich zunächst auf etwas anderes hinweisen: Typische Projektmitarbeiter sind in der Arbeitszeit oft sehr engagiert, machen oft auch Überstunden. Aber irgendwann ist Feierabend. Das Projekt Olympiateilnahme gewährt keinen Feierabend. Die Ernährung ist Teil des Trainingsplans. Der Schlafrhythmus wird a) geplant und b) überwacht. Auch wenn man nicht ununterbrochen körperlich trainiert, so ist doch das ganze Leben 24 / 7 dem Ziel untergeordnet. Damit zurück zu Ihrer „gewichtigen“ Frage: Es ist seit Jahren so, dass wir in Deutschland zwei Frauen sind, die in der 59-kg-Klasse international kämpfen. Das ist aber leider keine olympische Klasse. Immer abwechselnd, mal sie, mal ich, gehen wir dann weiter runter in die olympische 57 kg-Klasse. Die zwei Kilo sind keine große Herausforderung. Ich hatte Übergewicht in Ihrem Sport als größeres Risiko vermutet, zumal die indische Ringerin Vinesh Phogat mehrere Tage auch durch die deutsche Presse ging. In dem Einzelfall kamen mehrere Faktoren ungünstig zusammen bis hin zur Art der Darstellung in der Presse. Das sollten wir nicht verallgemeinern. Dann bleiben wir bei den Risiken, gehen aber eher in die verallgemeinerbaren Themen. Wie gehen Sie mit Risiken grundsätzlich um? Allgemein gibt es ein breites Spektrum an Risiken, allem voran die Finanzierung, d. h. Förderung oder das individuelle Einwerben von Sponsorengeldern. In meinem Buch ist vieles dazu ausgeführt. Im Vorfeld von Olympia vereinfacht sich das temporär etwas, weil fast alle Kosten vom DOSB übernommen werden. Es reduziert sich dann mehr auf die allgemeine Fitness, Verletzungen zu vermeiden und die optimale Tagesform auch am richtigen Tag zu haben. Wie gehen Sie das Thema methodisch an? Im Grunde nicht anders, als jeder gewissenhafte Projektleiter auch: Risiken identifizieren, vor großen Turnieren wie EM, WM oder Olympia ggf. noch ein ergänzender Austausch mit dem Trainer, dann Maßnahmen festlegen, sofern man das kann-… Können Sie Beispiele nennen, welche Maßnahmen möglich oder nicht möglich sind? Corona macht es sehr deutlich: 2020 war die Maßnahme, die Olympischen Spiele in Tokyo abzusagen. 2021 wurden sie dann nachgeholt, aber extrem reglementiert. Beides hatten wir Athleten nicht zu entscheiden. Ich selbst überlege mir solche Dinge zwar ganz grundsätzlich, aber nicht täglich. Wenn die Coronaprophylaxe, also das Social Distancing zum ständigen Begleiter wird, das legt sich auch aufs Gemüt und schwächt mich mental. Dann werde ich erst recht krank. Ich habe erst in der letzten heißen Phase auf Abend- und Großveranstaltungen verzichtet. Wettkampfanmeldung und die letzten Tage Kommen wir zurück zu Ihrem Vorbereitungsprozess. Wann erfolgt die eigentliche Anmeldung? Meine erste persönliche Anmeldung war die im Olympischen Dorf vor Ort. Da wird dann die vorherige Registrierung in eine Akkreditierung umgewandelt, und die ist ständig mitzuführen wie ein Betriebsausweis auf dem Firmengelände. Sie ist die Zugangskarte zum Olympischen Dorf, zur Mensa, zum Athletenbereich der Wettkampfstätten, eigentlich zu allem. Ist das Besondere am Olympischen Dorf sichtbar, oder ist es eher die Atmosphäre? Eine Kombi aus beidem. Es war ein richtiges kleines Dorf mit kleinen Straßen und Grünanlagen. Wir vier deutsche Ringerinnen waren in einem Appartement, zwei Zweierschlafzimmer, ein gemeinsamer Aufenthaltsraum; für uns genau richtig. Wer die typischen Probleme internationaler Dienstreisen kennt: Wir haben weder unsere Zeitzone, noch die Klimazone verlassen. Trotzdem waren wir von Sportlern aus aller Welt und allen Sportarten umgeben. Das war schon toll. Abbildung 3: Olympischer Ringerwettkampf mit Blick auf ausgewählte Stakeholder: die Gegnerin, Schiedsrichter, Punktrichter, Ringarzt, offizielle Turnierfotografen, Reporter, Journalisten, Kameraleute, ca. 8.500 Zuschauer in der ausverkauften Champ-de-Mars-Arena und Millionen an den TV- Geräten weltweit (Foto: privat) Reportage | Olympische Spiele in Paris-- ein Großprojekt ... 26 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 05/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0085 Noch mal einen Schritt zurück: Mit der Frage nach der Anmeldung dachte ich an die konkrete Wettkampfanmeldung. Auch die ist sehr wichtig und wird irgendwann recht kurzfristig erfolgen. Um ehrlich zu sein: so genau weiß ich das nicht. Das hat auch der Verband gemacht. Oder auch nicht. Um nochmals Pressemeldungen zu zitieren: die nigerianische Sprinterin Favour Ofili durfte nur die 200 m laufen, war aber auf den ebenfalls geplanten 100 m durch eine vergessene Anmeldung nicht startberechtigt. Die Nichterfüllung formaler Anforderungen sind in vielen Projekten K. O.-Kriterien. Solche Fälle gibt es, aber selten. In Deutschland ist jede Leistung eine Teamleistung. DOSB (Deutscher Olympischer Sportbund) und DRB (Deutscher Ringerbund) als Verbände, aber auch viele einzelne Stakeholder im persönlichen Umfeld des Athleten sorgen dafür, dass man sich weitgehend auf den Wettkampf konzentrieren kann. Viel wichtiger ist das vermutlich bei den Leichtathleten oder Schwimmern, die über mehrere Distanzen oder in mehreren Disziplinen starten. Dann steigt auch der Koordinations- und Kommunikationsaufwand. Gibt es für Sie zumindest eine Kontrollmöglichkeit über die Anmeldung, damit Sie auch ruhig schlafen können? Ca. 2-4 Wochen vor dem Wettkampf gibt es Meldelisten. Man kann dann beim Ringerweltverband im Internet sehen, wer in welcher Gewichtsklasse gemeldet ist und wie das Starterfeld sich zusammensetzt. Dann wird es sicherlich spannend und auch erfolgskritisch, gegen wen man konkret kämpft? Bis zu diesem Zeitpunkt läuft eine professionelle Wettkampfvorbereitung sehr projektähnlich ab, entlang strukturierter Prozesse, mit Methoden zur Zeit- und Ressourcenplanung, meilensteinorientiert mit begleitender Statusmeldung und Leistungsmessung, stets die formalen Anforderungen im Blick inkl. der Kostendeckung und Finanzierung- … Jetzt sprechen Sie aber zwei große Unterschiede an. In welcher Form. Klären Sie uns auf! Nachdem die Weltführenden in den Kampfpaarungen gesetzt sind, werden die anderen Turnierteilnehmer zugelost. Das Losverfahren ist eine Methode, die in der „normalen“ Projektarbeit eher nicht vorkommt, sondern eher dem Glücksspiel zuzuordnen ist. Mal hat man mehr und mal weniger Glück. Auf jeden Fall gibt es keine Möglichkeit der Beeinflussung. Wir kommen darauf gleich zurück. Sagen Sie uns noch den zweiten Unterschied zwischen professioneller Wettkampfvorbereitung und professioneller Projektarbeit. Wir kennen alle das sehr breit gefächerte Verhalten der Stakeholder. Es gibt Unterstützer und Verhinderer, aktive und passive. Aber im Kern wird in der Produktentwicklung ein Produkt entwickelt, im Eventmanagement eine Veranstaltung organisiert usw. Im Sport ist der Erfolg ausschließlich auf Kosten Anderer möglich, die zwangsläufig verlieren müssen. Jeder sportliche Gegner hat das persönliche Ziel, mir das Leben schwer zu machen und meinen (Projekt-)Erfolg zu verhindern. Im Kampfsport wird das besonders deutlich. …-durch die Anwendung körperlicher Gewalt der Stakeholder? Etwas schmunzelnd: So würde ich es nicht formulieren, aber im Grunde ist es so. Wir kennen das von der Fußball-EM. Die begann am 14. Juni 2024. Auslosung für die Gruppenphase war am 02. 12. 23, auch im Losverfahren. Man hat also nur ein gutes halbes Jahr, sich auf den Gegner einzustellen. Wir Ringer müssen da deutlich schneller sein. Die Auslosung ist genau einen Tag vor dem Wettkampf. Die individuelle Einstellung auf die Gegnerin beschränkt sich dann auf einen Hinweis des Trainers in der Aufwärmphase unmittelbar vor dem Wettkampf, dass z. B. tendenziell ein Beinangriff rechts zu erwarten ist. Und dann geht es auch schon los. Abbildung 4: Sportler und ihre Fans treffen auch außerhalb der Wettkampfstätte oft aufeinander, hier im Parc des Champions (Foto: privat) Reportage | Olympische Spiele in Paris-- ein Großprojekt ... 27 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 05/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0085 Ja, und dann ging es los. Für Sie ist es aber nicht ausgegangen wie geplant, oder? Nein, leider nicht. Bis zur Olympiaqualifikation ist die Teilnahme immer das große Ziel. Wenn das geschafft ist, will man natürlich mehr. Ich habe leider gleich den ersten Kampf verloren, durchaus erwartbar gegen die Favoritin aus Moldawien, die später auch im Finale um Gold gekämpft hat. In meinem zweiten Kampf habe ich gegen eine Brasilianerin, die später im kleinen Finale um Bronze gekämpft hat, auch nicht gut ausgesehen. Wenn man zwei so starke Brocken nicht aus dem Weg räumen kann, dann hat man zwar viel Erfahrung gesammelt, aber eben nicht gewonnen. Also kein Losglück gehabt? Nein, wirklich nicht. Aber ich wollte es vorhin nicht auf den Faktor Glück reduzieren. Beide Gegnerinnen waren schon besser als ich. Aber wenn nach mehrjähriger intensiver Vorbereitung innerhalb weniger Minuten alles vorbei ist, das ist schon sehr ärgerlich. Andere entwickeln jahrelang ein Auto und dann kippt es beim Elchtest plötzlich um. Das passiert. Beleg Ihrer Leistungsfähigkeit sind ja zwei Europameisterschaftsmedaillen. Erzählen Sie uns lieber noch etwas über die bereits erwähnten Stakeholder. Stakeholder Als maßgebliche Verhinderer Ihres sportlichen Erfolgs hatten Sie schon Ihre jeweils direkte Gegnerin genannt. Gibt es dazu Videoanalysen, wie man sie aus dem Fußball kennt? Kampfanalysen gibt es. In der Weltspitze einer Gewichtsklasse reden wir nicht von hunderten Athletinnen. Der Trainer hat sein Büchlein, ich meines auch und im Laufe der Jahre schreibt man sich zu jeder Gegnerin auf, was man bei ihr schon erlebt oder beobachtet hat. Das scheint dann ja ein wichtiges Büchlein zu sein. Was steht da konkret drin? Ich nehme es zu jedem Turnier mit, um darin zu lesen, Erinnerungen zu rekapitulieren und Neues zu erfassen. Zu jeder, gegen die ich schon gerungen habe-- im Laufe der Jahre sind das weltweit fast alle nennenswerten Athletinnen meiner Gewichtsklasse-- ist notiert, was sind ihre Stärken & Schwächen? Was sind ihre Hauptangriffstechniken und welche meiner Spezialtechniken könnte ich bei ihr ggf. gut anwenden und durchkriegen. Projektleiter tun sich oft schwer mit der konkreten Benennung von Opponenten und deren Charakteristik, wie und warum sie den Projekterfolg verhindern wollen und was man selbst dagegen tun kann. Ich habe davon erfahrungsbasiert ein ganzes Buch voll. Viele andere Sportler wohl auch. Den Trainer- und Betreuerstab nannten Sie schon. Der Fernsehreporter verriet noch „… ihr Ehemann Stefan Mosmann ist dabei und Mama Brigitte.“ Familie und Freunde würden sich natürlich immer über Freikarten freuen, aber die hatte ich leider nicht. Jeder Athlet bekommt zwei Karten, die aber bezahlt werden müssen. Alle weiteren Karten müssen auf offiziellem Wege über die Ticket- APP-- und wieder mit etwas Glück im Losverfahren-- besorgt werden. Mein Mann war selbst lange Ringer, kennt die Anspannung vor dem Wettkampf und nimmt mir diese organisatorischen Kleinigkeiten oft ab. Ist der gerade zitierte Kommentator ein Stakeholder für Sie? Auf jeden Fall, spätestens wenn ARD & ZDF sich vorher bei mir melden und persönliche Details abfragen, die sie bei der Übertragung für die Fernsehzuschauer einstreuen können. Solche Termine muss man ernst nehmen. Was im Fernsehen gesagt wird, erscheint wenige Minuten später im Internet, am nächsten Tag in der Presse. Das lesen meine Sponsoren. Da muss man sich schon Zeit für die Leute nehmen, die nach außen das Bild prägen. Gab es viele Pressekontakte? Einige regionale Anfragen aus dem Heimatort, aber so lange Ringen eine Randsportart ist, hält sich das in Grenzen. Gab es analog der Kleiderordnung auch Verhaltensvorschriften im Kontakt mit der Presse? Es gab keine Verbote und auch kein Medientraining. Wir hätten reden können mit wem wir wollen, wann wir wollen und worüber wir wollen. Der Bundestrainer hat uns lediglich den persönlichen Rat gegeben, die letzten zwei Wochen vor der Olympia-Eröffnung Presseanfragen eher restriktiv zu behandeln, um sich gedanklich nicht ablenken zu lassen. Apropos gedankliche Ablenkung. Was machen Sie am letzten Abend vor dem Wettkampf? Wer ist dann für Sie da? Was macht eine Mädchen-WG vor dem großen Höhepunkt? Sich gegenseitig die Haare. (lacht) Aber im Ernst: da machen Abbildung 5: Auch Zuschauer sind Stakeholder, hier aus Polen, Chile und der Ukraine friedlich nebeneinander. Bei Olympia klatscht jeder für alle (Foto: privat) Reportage | Olympische Spiele in Paris-- ein Großprojekt ... 28 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 05/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0085 wir uns die Kampffrisur. Da werden enge Zöpfe geflochten. Das ist nicht schwer und bei allen fast gleich. Wir sitzen dabei meist vor dem Fernseher, sehen den Live-Stream anderer Wettkämpfe und können das nebenbei gleich auswerten. Das ist schon zu einem festen Vorabendritual geworden. Da wir uns aus vielen gemeinsamen Trainingslagern kennen, ist auch klar, wer eher reden möchte und wer eher seine Ruhe braucht. Das ist meist ein sehr persönlicher Abend. Der Morgen danach Das mehrjährige Ziel der Olympiateilnahme ist jetzt erreicht. Wie geht es weiter? Eine gute Frage. Ein bisschen hat sich ein Kreis geschlossen von meiner ersten Senioren-WM 2017 in Paris bis zu den Olympischen Spielen in Paris. Nochmal vier Jahre bis zu den Spielen 2028 in L. A. sind altersbedingt eher unrealistisch. Mein Vertrag als geförderte Sportsoldatin läuft zum Jahresende auch aus. Vielleicht sollte ich dem Nachwuchs Platz machen? War das eine Frage? Das klingt eher unentschlossen. In den Medien hört man dieser Tage oft von der sog. Nach-Olympia-Depression. Kennen Sie das? Ist das eine Art Naturgesetz, dass alle Athleten einholt? In meinem Buch gibt es u. a. ein Interview mit Nicole Brandes, die seit längerem Spitzensportler coacht und davon berichtet. In wenigen Extremfällen entstehen wirklich Depressionen, aber im Kern geht es darum, dass man viele Jahre auf ein Ziel hinarbeitet, und von einem Tag zum anderen ist das Ziel weg; manchmal erreicht, aber in vielen Fällen nicht mal das. Die olympischen Spiele sind einfach ohne Medaille vorbei, die Trainingsmotivation entfällt, Förderprogramme und Sponsorenverträge laufen aus. Da kommt man- - meist ungewollt- - überhaupt erst einmal zur Ruhe stellt sich zwangsläufig die Sinnfrage. Ich hoffe, Sie konnten die Sinnfrage für sich klären? Das ist nicht einfach, aber das Leben ist nach dem Sport ja nicht zu Ende. Man muss die Zeit der Erholung und des Nachdenkens aber schon bewusst mit sinnstiftenden Gedanken und neuen Zielen füllen. Bei mir ist es ein bisschen so wie auf dem T-Shirt-Spruch: ‚Für einen Burn-out habe ich gar keine Zeit'. Was heißt das? Wofür benötigen Sie jetzt Zeit? Wir haben vor ein paar Monaten ein Haus gekauft. Da ich nicht auf ein Fußballergehalt zurückblicke, sondern auf eine Ringerkarriere, ist es eine Gebrauchtimmobilie mit entsprechendem Renovierungsstau. Ich ringe jetzt mit Fugenkleber, Fußbodenleisten und Tapezierbürste und habe nur bedingt Zeit, in Gedanken zu versinken. Vielleicht ist das auch gut so. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg beim Renovieren und beim Umzug. Vielen Dank, dass Sie ein Teil von dem waren, was wir alle als phantastische Olympische Spiele in direkter Nachbarschaft in Erinnerung behalten. Eingangsabbildung: Die Olympischen Ringe am Pariser Eiffelturm (Foto: privat) Quelle: [1] NZZ vom 29.07.24 „Die Spiele finanzieren die Spiele“ Sandra Paruszewski - 4x Deutsche Meisterin im Ringen, 2x EM-Bronze, Teilnahme an mehreren Weltmeisterschaften und den Olympischen Spielen in Paris - Absolventin der BWL der Hochschule Offenburg - Sportsoldatin der Bundeswehr