eJournals PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL 35/5

PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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2941-0878
2941-0886
UVK Verlag Tübingen
10.24053/PM-2024-0087
1216
2024
355 GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.

Eine Typologie für hybride Projektmanagement-Modelle

1216
2024
Jan Christoph Albrecht
Anna Lucia Romero Müller
Mit der stark gestiegenen Verbreitung des agilen Projektmanagements hat sukzessive auch die Bedeutung des hybriden Projektmanagements, also der Kombination verschiedener Projektmanagement-Vorgehensmodelle zugenommen. Teils sind theoretisch-konzeptionelle Arbeiten in dezidiert hybriden Modellen gemündet. Teils sind hybride Vorgehensweisen in Projekten jedoch auch das Ergebnis von Austarierungsprozessen bei der Einführung agilen Projektmanagements. Zur Ordnung hybrider Vorgehensmodelle existiert bislang recht wenig Fachliteratur. In diesem Beitrag wird eine Typologie hybrider Projektmanagement-Modelle vorgeschlagen. Dabei werden die Modelle eingeordnet in diverse Kombinationen aus klassisch, lean und agil sowie in parallele, sequenzielle, integrierte und emergente Gestaltungsformen.
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31 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 05/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0087 Eine Typologie für hybride Projektmanagement-Modelle Jan Christoph Albrecht, Anna Lucia Romero Müller Für eilige Leser | Mit der stark gestiegenen Verbreitung des agilen Projektmanagements hat sukzessive auch die Bedeutung des hybriden Projektmanagements, also der Kombination verschiedener Projektmanagement-Vorgehensmodelle zugenommen. Teils sind theoretisch-konzeptionelle Arbeiten in dezidiert hybriden Modellen gemündet. Teils sind hybride Vorgehensweisen in Projekten jedoch auch das Ergebnis von Austarierungsprozessen bei der Einführung agilen Projektmanagements. Zur Ordnung hybrider Vorgehensmodelle existiert bislang recht wenig Fachliteratur. In diesem Beitrag wird eine Typologie hybrider Projektmanagement-Modelle vorgeschlagen. Dabei werden die Modelle eingeordnet in diverse Kombinationen aus klassisch, lean und agil sowie in parallele, sequenzielle, integrierte und emergente Gestaltungsformen. Schlagwörter | Hybrides Projektmanagement, agiles Projektmanagement, Typologie, Vorgehensmodelle, systematische Literaturrecherche Einleitung Das agile Projektmanagement hat seit Mitte der 2010er Jahre eine stark steigende praktische Bedeutung zu verzeichnen (vgl. u. a. [1]). Es hat sich auch außerhalb der IT-Branche, in der es entstanden ist, etabliert. Übergeordnete Bedeutung hat das Modell Scrum, was auch daran liegt, dass einzelne agile Modelle sich ausschließlich im IT-Kontext (z. B. Extreme Programming) oder sich im Wesentlichen nur in bestimmten Phasen eines Projektlebenszyklus anwenden lassen und so gesehen keine ganzheitlichen Projektmanagement-Vorgehensmodelle sind (z. B. Design Thinking). Vorteile des agilen Projektmanagements sind insbesondere die Versetzung des Kunden in den Mittelpunkt aller Projektaktivitäten (customer centricity) , die iterative Vorgehensweise mit dem Fokus auf nutzbaren Zwischenergebnissen und der flexible und offene Umgang mit Veränderungen im Projektverlauf. Agil arbeitende Teams sind überzeugt davon, dass sich über den regelmäßigen und kurzzyklischen Austausch über Zwischenergebnisse (z. B. Sprint Reviews in Scrum) insgesamt ein besseres Endergebnis erreichen lässt, als mit dem klassischen Projektmanagement-Ansatz mit einem großen zeitlichen Abstand zwischen Anforderungsformulierung und Qualifizierung / Kundenabnahme. Neben diesen Vorteilen leiten auch Modelle wie die Stacey-Matrix oder Cynefin mit der Kernaussage „Je komplexer das Projekt / die Aufgabe, desto besser eignen sich agile Vorgehensweisen“ Unternehmen und Teams hin zur Anwendung agilen Projektmanagements. Bei der Implementierung eines agilen Vorgehensmodells sehen sich Organisationen einer Reihe von Herausforderungen gegenüber. Diese betreffen die Governance, die Schulung der Mitarbeiter und auch den Kulturwandel, der mit agiler Zusammenarbeit einhergehen muss. Daher ist kein „digitaler“ Umstieg von klassischem auf agiles Projektmanagement möglich. Unter anderem Diebold et al. konnten zeigen, dass Unternehmen daher die Regeln der Vorgehensmodelle (z. B. Scrum) in der Praxis stark anpassen und im Prozess der Implementierung des agilen Projektmanagements gleichsam Kompromisse eingehen [2]. Hinzukommt, dass eine rein agile Arbeitsweise nicht unter allen Randbedingungen umsetzbar ist. Dies betrifft beispielsweise Bauprojekte, die Zusammenarbeit im Rahmen von Werkverträgen, oder auch die Abstellung von Teammitgliedern und deren räumliche Konzentration (das Idealbild im agilen Projektmanagement ist die hundertprozentige Allokation der Teammitglieder auf das Projekt und die Maximierung der persönlichen Interaktion in einem Projektraum, um so Effekte der „Kommunikation im Vorbeigehen“ zu erzielen). Wissen | Eine Typologie für hybride Projektmanagement-Modelle 32 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 05/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0087 Die oben geschilderten Aspekte haben in der Praxis zu individuellen Mischformen zwischen klassischem und agilen Projektmanagement geführt, gewissermaßen zu einer „emergent practice“ des hybriden Projektmanagements. Daneben sind jedoch auch hybride Projektmanagement-Vorgehensmodelle als Ergebnis theoretisch-konzeptioneller Arbeiten entstanden. Diese beziehen sich überwiegend auf den Kontext technologie-basierter Produkt- und Service-Entwicklungen [3]. Hier sei beispielsweise das Agile-Stage-Gate-Modell genannt [4], [5]. Im Idealfall lässt sich in diesen Modellen das „Beste aus beiden Welten“ miteinander verbinden. Zu den o. g. Vorteilen des agilen Projektmanagements können Elemente / Vorteile des klassischen Projektmanagements eingebracht werden, wie das Projektrisikomanagement, ein höherer Fokus auf einer umfänglichen Dokumentation, klare Entscheidungsstrukturen sowie die einfachere Eingliederung eines Projektes in die Governance und Geschäftsprozesse einer Organisation. Neben Auflistungen hybrider Vorgehensmodelle existiert als ordnender Rahmen bzw. Klassifizierung aus Sicht der Autoren bislang nur die Einordnung der Modelle in parallele, sequenzielle und integrierte hybride Projektmanagement- Vorgehensmodelle nach Timinger [6]. Daneben hat auch Hüsselmann eine solche Einordnung vorgenommen und unterscheidet zwischen bimodalem, evolutionärem und Best-ofbreed-Vorgehensmodell [7]. Es lassen sich gewisse Parallelen zwischen bimodalem und parallelem Modell bzw. evolutionärem und sequenziellem Modell ziehen. Beim Best-of-breed- Modell werden situativ agile Praktiken in eine traditionelle Projektmanagement-Umgebung eingebettet. Angesichts der im weiteren Verlauf des Beitrags vorgestellten Ergebnisse erscheint Timingers Einordnung als erweiterbar und wird um eine weitere Dimension ergänzt. Im Sinne der Definition von Kuhrmann et al. [8] werden hier „any combination of agile and traditional (plan-driven or rich) approaches that an organizational unit adopts and customizes to its own context needs“ als hybride Vorgehensmodelle betrachtet. Das Ziel dieses Aufsatzes ist es, eine neue Typologie hybrider Projektmanagement-Modelle vorzustellen, die einerseits an die vorgenannte Definition sowie die o. g. Arbeitsergebnisse von Timinger anknüpft und andererseits eine Einordnung weiterer theoretischer Modelle und praktischer Erscheinungsformen des hybriden Projektmanagements erlaubt. Somit soll sie eine umfassende Orientierung für die Praxis ermöglichen. Die Typologie wurde mithilfe einer systematischen Literaturanalyse erarbeitet. Der Aufsatz ist wie folgt strukturiert. Nach der Einleitung erläutern wir den theoretischen Hintergrund unserer Arbeit. Anschließend gehen wir auf Details zur Methodik der systematischen Literaturrecherche ein, bevor wir unsere Ergebnisse darstellen. Der Aufsatz schließt mit einem Fazit. Hintergrund Ebenfalls als Ergebnis einer systematischen Literaturanalyse listen Reiff und Schlegel [9] die folgenden vier hybriden Modelle („hybrid methodologies“) auf: • Hybrid V-Model • Water-Scrum-Fall • Waterfall-Agile • Agile-Stage-Gate bzw. Scrum-Stage-Gate Während das Hybrid V-Model [10] und Water-Scrum-Fall [11] 2011 entwickelt wurden, fällt die Entwicklung der anderen beiden Modelle in die zweite Hälfte der 2010er Jahre. Die Modelle beziehen sich vor allem auf die Bereiche IT und Produktentwicklung, ferner auch auf den Bereich der digitalen Transformation. Über die vorgenannten Modelle hinaus entstanden und entstehen weitere; als Beispiel sei das Hybrid Construction Project Management Model [12] genannt, welches zusätzlich zu Elementen des agilen und klassischen Projektmanagements auch solche des Lean (Projekt-)Managements nutzt. Hinsichtlich der Motivation der Modellentwicklungen werden mehrfach pragmatische Gründe angeführt bzw. es wird geschildert, dass die Modelle schlicht die Realität der Abläufe in der Praxis widerspiegeln. Water-Scrum-Fall betreffend schreiben Wysocki und Orłowski [13], dass der klassische Projektmanagement-Ansatz zu belastbaren Anforderungen und einer belastbaren Planung beiträgt. In der späten Phase des Projektlebenszyklus hilft er wiederum die Qualität zu sichern und die Anzahl von Software-Releases zu begrenzen. Auch Cooper und Sommer [14] bezeichnen die Integration agiler Elemente in den Stage-Gate-Entwicklungsprozess explizit als Experiment verschiedener großer Technologiefirmen. Ziel war es angesichts kürzer werdender Produktlebenszyklen und einer immer höheren Innovationsgeschwindigkeit in dem zunehmend als starr wahrgenommenen Prozess schneller zu werden. Bringt man die oben genannten Vorgehensmodelle mit der Klassifizierung von Timinger in Verbindung, so wären das Hybrid V-Model und Water-Scrum-Fall Beispiele für sequenzielle hybride Modelle. Agile-Stage-Gate und Scrumban wären laut Timinger Beispiele für integrierte Modelle. Es werden also beispielsweise die Iterationsschleifen aus dem Modell Scrum (Sprints) in die fest definierten Phasen des Entwicklungsprozesses (Stages) integriert (Agile-Stage-Gate). „Bei parallelen hybriden Vorgehensmodellen werden unterschiedliche Teilprojekte mit unterschiedlichen Vorgehensmodellen bearbeitet.“ [6] Typische Beispiele sind hier (interne) Projekte, die in einer Fachabteilung / einem Funktionsbereich, wie z. B. Logistik oder Finanzen, initialisiert werden, jedoch auch einen IT-Anteil haben. Die Nicht-IT-Aufgaben können dann beispielsweise nach dem klassischen Projektmanagement-Ansatz bearbeitet werden, während im IT-Teilprojekt nach einem agilen Ansatz, z. B. Scrum, gearbeitet wird. Die Projektbearbeitung über die Teilprojekte hinweg kann über Synchronisationspunkte sinnvoll verzahnt werden. Methodik Für die strukturierte Literaturrecherche nach [15] wurden verschiedene Arbeiten aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Datenbanken wie ScienceDirect, ProQuest, IEEE und Web of Science untersucht. Um geeignete und relevante Schlüsselwörter für diese Arbeit zu finden, wurde eine „Citation Pearl Growing“-Strategie gewählt, was bedeutet, dass der Ausgangspunkt der Literaturrecherche eine hoch-relevante Publikation war, in diesem Fall der Artikel „Hybrid project management-- a systematic literature review“ von Reiff und Schlegel [9]. Anhand dieses Dokuments wurden erste Suchbegriffe definiert, darunter hybrid, traditionell, agil, Projektmanagement und Projektansatz . Ausgehend von dieser ersten Suche wurden weitere Schlüsselwörter wie lean und Projektmetho- Wissen | Eine Typologie für hybride Projektmanagement-Modelle 33 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 05/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0087 de ermittelt. Nach der Festlegung des vollständigen Pools an Schlüsselwörtern wurde die Literaturrecherche durchgeführt. Dazu wurden die Schlüsselwörter mit Booleschen Operatoren (AND, OR) verknüpft, um Suchbegriffe zu erzeugen, die in den Online-Datenbanken verwendet werden konnten. Außerdem wurden über die erweiterten Suchoptionen nur Artikel berücksichtigt, die nach 2007 veröffentlicht wurden, um sicherzustellen, dass die Ergebnisse dem aktuellen Stand der Forschung entsprechen. Die Suche wurde auf englischsprachige Literatur beschränkt, da dies die gängige Sprache in der wissenschaftlichen Forschung ist. Die Suche in den vorgeschlagenen Datenbanken ergab insgesamt 1.758 Artikel. Die Titel und Zusammenfassungen der Artikel wurden im Sinne der Definition hybriden Projektmanagements von Kuhrmann et al. [8] kurz überprüft und diejenigen, die nicht zum Zweck dieser Arbeit zu passen schienen, wurden ausgeschlossen, was zu 197 verbleibenden Artikeln führte. Der Inhalt dieser Artikel wurde eingehender geprüft, und auch hier wurden diejenigen ausgeschlossen, die nicht zum Ziel dieser Arbeit beitrugen. Diese Reduktion führte dazu, dass 44 Artikel für die weitere Betrachtung verblieben. Im letzten Schritt wurde eine Rückwärts- und Vorwärtssuche in den 44 Artikeln durchgeführt. Bei der Rückwärtssuche werden die Zitate der gefundenen Artikel gesichtet, um frühere Artikel zu ermitteln, die möglicherweise berücksichtigt werden müssen. Die Vorwärtssuche ist mit der Rückwärtssuche vergleichbar, mit dem Unterschied, dass nach Artikeln gesucht wird, die sich auf die zuvor ermittelten Artikel beziehen. Nach der Literatursuche und -auswahl wurde eine endgültige Stichprobe von 50 Artikeln ermittelt. Die ausgewählte Stichprobe wurde nach einem konzeptzentrierten Ansatz geprüft, d. h., die beim Lesen identifizierten Schlüsselkonzepte wurden gruppiert und logisch dargestellt [15]. Daraus wurde eine erste Version der Typologie erstellt. In der Folge wurde die Typologie durch weitere empirische Informationen verfeinert. Ergebnisse Ergebnisse der systematischen Literaturrecherche Die systematische Literaturrecherche brachte folgende drei Typen hybrider Projektmanagement-Vorgehensmodelle hervor (vgl. Abbildung 1). Der erste Typus hybrider Vorgehensmodelle sind solche, bei denen Elemente des klassischen Projektmanagements mit agilen kombiniert werden, häufig in Form einer Integration agiler Elemente in bestehende planungsgesteuerte Modelle. Diese Ausprägung hybriden Projektmanagements ist sicherlich die bedeutendste, in die auch die meisten Modelle eingeordnet werden können. In mehreren Modellen dieses Typs werden sequenzielle Ansätze des klassischen Projektmanagements, wie Stage-Gate oder das Wasserfallmodell, mit agilen Ansätzen kombiniert (Agile-Stage-Gate [5] und Water- Scrum-Fall [10]). Dabei werden agile Ansätze innerhalb der Entwicklungsphasen eingeführt, während die vorhergehenden und nachfolgenden Phasen klassisch durchgeführt werden. Es ist jedoch auch möglich, alle Phasen der sequenziellen klassischen Modelle mit agilen Ansätzen durchzuführen, wie es die hybride Methodik Industrial Scrum Framework vorschlägt [16]. Ferner existieren Modelle wie ScrumFall [17], die vorschlagen lediglich die Anfangsphase eines Projektes agil umzusetzen, um anschließend zu einer klassisch gemanagten Entwicklung und Validierung / Testphase überzugehen. Der zweite Typ, der in der Literatur identifiziert wurde, umfasst HPM-Methoden, die aus der Kombination von Elementen des Lean Managements und des agilen Projektmanagements resultieren. Hier ist insbesondere Scrumban zu nennen, welches die Rollen und den Ablauf (Flow) von Scrum u. a. mit dem Fokus auf der Visualisierung der Projektarbeit bzw. des -fortschritts kombiniert. Eine weitere hybride Methode, die leane und agile Ansätze kombiniert, ist Structured Kanban Interation (SKI). Sie sieht fähigkeitsbasierte Iterationen mit typischen Scrum-Rollen und -Ereignissen vor, bei denen das Team ein Board zur Visualisierung seiner Aufgaben und des Arbeitsablaufs verwendet und nach dem „Pull“-Prinzip arbeitet [18]. Neben der Kombination von Scrum und Kanban gibt es eine HPM-Methodik namens L-Scrum, die versucht, den Nachteilen von Scrum entgegenzuwirken, indem sie Lean- Prinzipien in den gesamten Lebenszyklus der Softwareentwicklung einführt [19]. Der Vollständigkeit halber sei hier darauf verwiesen, dass einige Autoren Lean Projektmanagement nicht als eigenständigen Projektmanagement-Ansatz betrachten, sondern als eine Philosophie, die ergänzend zum Beispiel zum agilen Projektmanagement genutzt werden kann. Ferner existiert auch ein Typus hybrider Vorgehensmodelle, in denen agile Modelle miteinander kombiniert werden. Das einzige zu diesem Typ identifizierte Modell kombiniert Scrum mit Extreme Programming (XP), indem sie das Scrum-Framework mit allen Schritten eines Produktentwicklungszyklus abgleicht, einschließlich nicht nur des Produktmanagement-Frameworks, sondern auch der erforderlichen Fähigkeiten [20]. Die HPM-Methodik nimmt das XP-Modell Abbildung 1: Ergebnis der systematischen Literaturrecherche-- Typologie hybrider Projektmanagement-Vorgehensmodelle Wissen | Eine Typologie für hybride Projektmanagement-Modelle 34 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 05/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0087 als Grundlage und integriert die Scrum-Aktivitäten in seine Hauptphasen, um die Qualität der Produktentwicklung zu verbessern. Den letzten Typus stellen hybride Modelle dar, die Elemente aller drei vorgenannten Projektmanagement-Ansätze, also klassisch, lean und agil, miteinander kombinieren. Im Abschnitt Hintergrund wurde hierzu bereits das Hybrid Construction Project Management Model erwähnt. Erweiterung der Typologie Die oben vorgestellte Typologie wird im Folgenden durch eine Kombination mit den Forschungsergebnissen Timingers sowie aufgrund weiterer empirischer Befunde erweitert. Timingers Ordnung paralleler, sequenzieller und integrierter Modelle lässt sich gewissermaßen als zweite Dimension in unserer Typologie ergänzen (vgl. Abbildung 2). Mit Blick auf den Typus der klassisch-agilen Modelle lassen sich für alle Kombinationen mit der Ordnung von Timinger Beispiele anführen. Die Kombination klassisch-agil und parallel wurde oben bereits erläutert (vgl. Abschnitt Hintergrund). Water- Scrum-Fall wäre ein Beispiel für klassisch-agil und sequenziell, während Agile-Stage-Gate für klassisch-agil und integriert steht. Im Typus der lean-agilen Modelle ist Scrumban ein Beispiel für ein integriertes Modell. Scrum + XP ist ebenso ein integriertes Modell im Typus agil-agiler Modelle. Abbildung 2: Erweiterte Typologie hybrider Projektmanagement-Vorgehensmodelle Abbildung 3: Emergent practice-- klassische Elemente in ansonsten agiler Projektmanagement-Umgebung Abbildung 2 ist auch zu entnehmen, dass neben parallel, sequenziell und integriert eine weitere Form des hybriden Projektmanagements existiert, die wir als „emergent“ bezeichnen. Dabei beziehen wir uns auf weitere empirische Literatur, die das Potenzial hat, unsere neue Typologie zu bereichern. Diebold et al. [2] konnten zeigen, dass einige Organisationen, die agiles Projektmanagement implementieren, den kulturellen Wandel (vgl. dazu auch Zasa et al. [21]) und / oder den damit verbundenen Schulungsbedarf unterschätzten. Dies führte zu einer „emergent practice“ des hybriden Projektmanagements. In diesem Zusammenhang sind auch die Erkenntnisse von Dittmann und Zaeri Esfahani [22] von großem Interesse, auch wenn sie eher anekdotischen als einen rein wissenschaftlichen Charakter haben. Laut ihnen haben einige Organisationen offensichtlich Schwierigkeiten ihre Governance im Hinblick auf agiles Projektmanagement zu ändern. Sie berichten, dass Projektteams gemäß den Prozessanforderungen der Organisation einen Projektmanager formell benennen sollten, obwohl sie nach einem agilen Vorgehensmodell arbeiteten, welches diese Rolle nicht vorsieht (Scrum). Im Sinne der emergent practice gibt es also Elemente („Relikte“) klassischen Projektmanagements, mit denen Teams sich konfrontiert sehen, die ansonsten nach einem agilen Modell zusammenarbeiten (vgl. Abbildung 3). Bei dem emergenten Typ des hybriden Projektmanagements handelt es sich um ein Kontinuum möglicher Ausprägungen, das von der obigen Beschreibung mit einzelnen verbliebenen Elementen des klassischen Projektmanagements in einem ansonsten agil gemanagten Projekt bis zum Gegenteil dessen reicht. Bei letzterem würden die nach klassischem Projektmanagement-Ansatz arbeitenden Teams einzelne agile Elemente und Praktiken in die Projektarbeit integrieren (vgl. Abbildung 4). Bei den agilen Praktiken kann es sich beispielsweise um Retrospektiven, d. h. Termine, in denen das Projektteam seine Wissen | Eine Typologie für hybride Projektmanagement-Modelle 35 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 05/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0087 Zusammenarbeit reflektiert, um tägliche Stand-up-Meetings, oder auch um die Nutzung von User Stories, die einem besseren Verständnis der Nutzer-Anforderungen dienlich sein können, handeln. Diese Art der emergent practice entspricht sicherlich am besten der Realität in Organisationen, die gerade erst am Anfang der Einführung agilen Projektmanagements stehen. Fazit Das agile Projektmanagement hat in den letzten zehn Jahren stark an Bedeutung auch außerhalb von IT-Abteilungen und der IT-Branche gewonnen. Damit haben sich auch Chancen für eine Kombination klassischer und agiler Herangehensweisen an das Projektmanagement ergeben. Gleichermaßen hat sich gezeigt, dass das agile Projektmanagement unter gewissen Randbedingungen an seine Grenzen stößt und dass Unternehmen gerade bei der Einführung von agilem Projektmanagement häufig Kompromisse u. a. im Hinblick auf ihre Governance eingehen. Dies führte zu einer „emergent practice“ des hybriden Projektmanagements, in der Organisationen die Elemente verschiedener Projektmanagement-Vorgehensmodelle individuell miteinander kombinieren. Das Ziel dieses Aufsatzes war es, eine neue Typologie hybrider Projektmanagement-Vorgehensmodelle vorzustellen, die diese empirischen Beobachtungen abbilden kann. Zudem sollte sie an den Arbeiten von Kurhmann et al. [8] und Timinger [6] anknüpfen. Es handelt sich hier um ein sehr dynamisches Feld, in dem immer wieder neue theoretisch-konzeptionelle (hybride) Vorgehensmodelle hinzukommen können. Beispielsweise wurde über unsere systematische Literaturrecherche kein klassisch-leanes Vorgehensmodell identifiziert. Auch gibt es in der Forschung Stimmen, die eine Betrachtung skalierbarer agiler Bezugsrahmen als hybride Vorgehensmodelle befürworten, da hier klassische Projektmanagement-Elemente mit agilen und leanen Elementen kombiniert würden [23]. Für Theorie und Praxis bietet die hier vorgestellte Typologie auch im Kontext dieser unterschiedlichen Standpunkte umfassende Möglichkeiten der Einordnung hybrider Ansätze. Literatur [1] Komus, A. / Kuberg, M.: Status Quo Agile: Studie zu Verbreitung und Nutzen agiler Methoden. 1. Auflage Eigenverlag, 2015 [2] Diebold, P. / Ostberg, J-P., Wagner, S. / Zendler, U.: What Do Practitioners Vary in Using Scrum? In: Lassenius, C., Dingsøyr, T., & Paasivaara, M. (Hrsg.): Agile Processes in Software Engineering and Extreme Programming. 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In: International Journal on Advanced Science, Engineering and Information Technology 6(6)/ 2016, S. 828 Eingangsabbildung: © iStock.com / DutchScenery Jan Christoph Albrecht Jan Christoph Albrecht ist Wirtschaftsingenieur und wurde 2014 an der Universität Kassel mit einer Arbeit zur Projektmanagementreifegradmessung promoviert. Nach siebenjähriger Laufbahn in der Industrie als Projektleiter von Produktentwicklungsprojekten im Bereich Automotive / Sonderfahrzeugbau wurde er 2022 an die Fachhochschule Dortmund berufen. Neben seiner Lehre u. a. im „European Master in Project Management (EuroMPM)“ forscht er u. a. zu Projekten als Vehikel der digitalen Transformation und zu agilen / hybriden Arbeitsweisen. jan.albrecht@fh-dortmund.de Anna Romero Müller Nach ihrem Bachelor in Wirtschaftsinformatik an der Universität Duisburg-Essen schloss Anna Romero Müller im Jahr 2023 ihr Masterstudium „European Master in Project Management- - IT“ an der Fachhochschule Dortmund ab. Sie ist aktuell als Junior IT-Projektmanagerin bei thyssenkrupp Digital Projects tätig, wo sie zuvor bereits Werkstudentin war. Die praktischen Einblicke während dieser Zeit motivierten sie zur Auseinandersetzung mit hybriden Projektmanagement-Vorgehensmodellen sowie mit digitalen Transformationsprozessen. anna.romeromueller@thyssenkrupp.com