eJournals PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL 35/5

PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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2941-0878
2941-0886
UVK Verlag Tübingen
10.24053/PM-2024-0104
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/1216
2024
355 GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.

Changemanagement für 17 Millionen

1216
2024
Steffen Rietz
Gemeint ist nicht ein Changeprojekt mit einem Budget von 17 Mill. €. Gemeint ist ein Changeprozess, von dem 17 Mill. Menschen unmittelbar betroffen waren, indirekt noch viel mehr auf der ganzen Welt. Doch das größte Changeprojekt der deutschen Geschichte hatte keinen Auftraggeber, keinen Projektauftrag, keinen Projektleiter und kein bereitgestelltes Budget. Das ‚Projektmanagement ohne Projekt‘ (siehe PMA 2 / 2004, S. 59 ff.) soll an einem weiteren Beispiel untersucht werden. Eine Handvoll Initiatoren leitete in den 1980er Jahren im Osten Deutschlands aus einer persönlichen pragmatischen Umfeldanalyse Wünsche und Ziele ab, die nach unzähligen Planänderungen und Zielkorrekturen zu einem Ergebnis führten, das heute als weltverändernd bezeichnet werden muss. Die Einordnung und Bewertung des Geschehenen überlassen wir Historikern und Politologen. Für geschichtlich Interessierte werden Daten, Personen- und Ortsnamen nachfolgend mit einem Hinweispfeil [↗] versehen und können so individuell nachgearbeitet werden. Uns interessiert zunächst nur die Art & Weise der Umsetzung. Was und wie wurde strukturiert, organisiert oder improvisiert? Im Zeitzeugen-Interview mit Uwe Schwabe, einem der frühen und führenden Vertreter der DDR-Opposition, wird deutlich, dass die äußeren Umstände günstig waren. Auf das Momentum und das Verhalten aller Beteiligten kam es an. Es gibt sehr schöne Vorgehensmodelle, wie Change und Transformation ablaufen (sollten). Der Kontext politischer Umbrüche ist aber doch eine eher selten anzutreffende Dimension. Und dann ging es plötzlich sehr schnell. Es entwickelte sich deutlich dynamischer, hoch komplex, mit überraschender Geschwindigkeit und kaum noch steuerbar. Teilweise waren selbst die Initiatoren vom Verlauf und auch vom Ergebnis überrascht. Und doch ist das Geschehene weit mehr als ein ‚Wir probieren es einfach mal‘. Anhand ausgewählter Projektmanagement-Aspekte wollen wir das Geschehene zum 35. Jahrestag mit etwas Abstand nochmals aufbereiten.
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85 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 05/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0104 IntervIew Zum 35. Jahrestag der Friedlichen Revolution Changemanagement für 17 Millionen Steffen Rietz Für eilige Leser | Gemeint ist nicht ein Changeprojekt mit einem Budget von 17 Mill. €. Gemeint ist ein Changeprozess, von dem 17 Mill. Menschen unmittelbar betroffen waren, indirekt noch viel mehr auf der ganzen Welt. Doch das größte Changeprojekt der deutschen Geschichte hatte keinen Auftraggeber, keinen Projektauftrag, keinen Projektleiter und kein bereitgestelltes Budget. Das ‚Projektmanagement ohne Projekt‘ (siehe PMA 2 / 2004, S. 59 ff.) soll an einem weiteren Beispiel untersucht werden. Eine Handvoll Initiatoren leitete in den 1980er Jahren im Osten Deutschlands aus einer persönlichen pragmatischen Umfeldanalyse Wünsche und Ziele ab, die nach unzähligen Planänderungen und Zielkorrekturen zu einem Ergebnis führten, das heute als weltverändernd bezeichnet werden muss. Die Einordnung und Bewertung des Geschehenen überlassen wir Historikern und Politologen. Für geschichtlich Interessierte werden Daten, Personen- und Ortsnamen nachfolgend mit einem Hinweispfeil [↗] versehen und können so individuell nachgearbeitet werden. Uns interessiert zunächst nur die Art & Weise der Umsetzung. Was und wie wurde strukturiert, organisiert oder improvisiert? Im Zeitzeugen-Interview mit Uwe Schwabe, einem der frühen und führenden Vertreter der DDR-Opposition, wird deutlich, dass die äußeren Umstände günstig waren. Auf das Momentum und das Verhalten aller Beteiligten kam es an. Es gibt sehr schöne Vorgehensmodelle, wie Change und Transformation ablaufen (sollten). Der Kontext politischer Umbrüche ist aber doch eine eher selten anzutreffende Dimension. Und dann ging es plötzlich sehr schnell. Es entwickelte sich deutlich dynamischer, hoch komplex, mit überraschender Geschwindigkeit und kaum noch steuerbar. Teilweise waren selbst die Initiatoren vom Verlauf und auch vom Ergebnis überrascht. Und doch ist das Geschehene weit mehr als ein ‚Wir probieren es einfach mal‘. Anhand ausgewählter Projektmanagement-Aspekte wollen wir das Geschehene zum 35. Jahrestag mit etwas Abstand nochmals aufbereiten. Schlagwörter | Change Management, Verantwortung, Zieldiskussion, Entscheidung, Vertrauen, Archivierung Steffen Rietz: Der Herbst 1989 begann meteorologisch am 01.09. und kalendarisch am 23.09. Wann begann der politische Herbst ‘89 in der DDR? Uwe Schwabe: Am 08. November 1981. Oh, fast ein Jahrzehnt früher und doch so präzise zu beziffern? Opposition und Widerstand gibt es immer, in allen Diktaturen-- mehr oder weniger, lauter oder leiser. Seit der Gründung der DDR gab es Leute, die mitgestalten wollten. Dazu gab es aber keine Möglichkeit außerhalb der vorgegebenen Parteilinie. Die Leute sind daher in Opposition und Widerstand gegangen, in Leipzig konkret Anfang der 1980er Jahre. Und was war konkret im November 1981? Jeden Herbst gab es eine Friedensdekade [↗] der Evangelischen Kirche. Zehn Tage wurde über Frieden gesprochen, konkret vom 08. bis 18. November 1981 in der Nikolaikirche [↗] unter dem Oberthema „Gerechtigkeit-- Abrüstung-- Frieden“. Ein von der Sowjetunion für den New Yorker UN-Park gestiftetes Denkmal „Schwerter zu Pflugscharen“ [↗] wurde ab Herbst 1981 dafür als Aufnäher symbolhaft auf Jacken getragen, später auch von Teilen der westdeutschen Friedensbewegung als systemübergreifendes Symbol. Das würden Sie also als den Startschuss bezeichnen? Durch das Tragen der Aufnäher war die Aktion mit Ende der Friedensdekade nicht beendet. 1981 haben junge Leute erstmals gesagt: Wir müssen diese Möglichkeit des Austauschs immer haben, nicht nur 10 Tage im Herbst. Das wurde dann konkretisiert und verstetigt. Immer am selben Tag: Montag, immer zur gleichen Zeit: 17: 00 Uhr gab es Friedensgebete [↗]. Damit war es für jeden kalkulierbar und jeder konnte sich beteiligen. Es war also ein Ziel definiert und eine vereinende Symbolik geschaffen. Und was später als Montags- Demo bekannt wurde, war anfangs eher ein Montagsgespräch? Genau. Der Tag war reiner Zufall, weil Montag um 17: 00 Uhr der einzige Termin war, an dem der Pfarrer Christian Führer [↗] Zeit hatte, sich kümmern konnte und die Verantwortung mit übernahm. Aus den Friedensgebeten wurden öffentliche Friedensgespräche [↗], dann anschließende Spaziergänge außerhalb der Kirche, mit wachsender Teilnehmerzahl dann die Montagsdemonstrationen [↗]. Der Rest ist Geschichte. Interview | Changemanagement für 17 Millionen 86 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 05/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0104 Es braucht also jemanden, der initial Verantwortung übernimmt, Interessen bündelt und ihnen Raum gibt. Ja. Angefangen hat das Ganze mit 10-20 Jugendlichen. Im Gegensatz zum „normalen“ gesellschaftlichen Leben in der DDR haben in der Kirche erstmals Leute offen, frei, ohne Scheu diskutiert. Das waren keine kirchlichen Themen. Ich habe dort gelernt, mich mit den Meinungen anderer auseinanderzusetzen, Argumente zu finden, sich wertschätzend auf Augenhöhe in einem polarisierenden Meinungsstreit zu bewegen. Eine richtige Schule der Demokratie. Zielfindung & -harmonisierung: Wenn Sie von Opposition & Widerstand sprechen, dann bedeutet das, gegen etwas zu sein. Aber wofür waren Sie? Gab es konkret formulierte Ziele? In unserem ersten Flugblatt forderten wir ganz klar: 1. Pressefreiheit, 2. Meinungsfreiheit und 3. Die Möglichkeit der politischen Teilhabe inkl. dem Gründen von Parteien und Initiativen außerhalb der gegebenen Strukturen. Es mussten Mitbestimmungsmöglichkeiten in diesem Land geschaffen werden. So oder so ähnlich würde auch jeder Projektleiter beginnen. Für einen echten Umbruch werden aber mehr als die genannten 10-20 Beteiligten benötigt. Waren die Ziele Konsens unter allen Akteuren? (lacht): Natürlich nicht! Unterschiedliche Leute haben unterschiedliche Ziele. Einige wollten den Staat reformieren, andere wollten ihn verlassen oder gar abschaffen. Dazu gab es regelmäßig Diskussionen innerhalb der Opposition. Eine der wiederkehrenden Kernfragen war, wie mit Ausreisewilligen umzugehen ist. Werden sie integriert oder aus reformorientierten Gruppen ausgeschlossen? Wir investierten viel Zeit für die Abwägung von Zielen, Interessen, Argumenten und Meinungen. Immer wieder vermischten sich sachliche und emotionale Aspekte, wie auch objektive und subjektive Darstellungen. Sie deuten den Plural an. Gab es weitere heiß diskutierte Knackpunkte? Ja, immer mal wieder. Ein anderer Dauerbrenner war z. B. der Umgang mit den westlichen Medien: Kooperieren? Oder ihre Unterstützung nutzen? Oder sie meiden, um selbst nicht in den Verdacht zu kommen, vom Westen beeinflusst und gesteuert zu sein. Darauf kommen wir gern zurück. Die westlichen Medien haben ja noch eine wesentliche Rolle gespielt. Aber wurde nicht zunächst die Harmonisierung der Interessen schwieriger, je größer die Gruppe wurde? Am Ende waren mehrere 100.000 Menschen auf der Straße. Wie wurde deren Meinungsbild harmonisiert? Der Zuwachs in den Gruppen von Woche zu Woche hat sie auch etwas entzweit. Kritisch wurde es, als die Ausreisewilligen nicht nur an den Montagsdemos, sondern auch an unseren Versammlungen und den Friedensgebeten teilnahmen. Vielen ging es nicht darum, das Land zu verändern, sondern ihren Ausreiseantrag zu beschleunigen. Wie hat man die divergierenden Interessen dann wieder zusammengebracht? Teilweise gar nicht. Einige gingen einfach nicht mehr in Leipzig auf die Straße, sondern z. B. in die Prager Botschaft. Das war ein anderer Weg, aber auch ein hilfreicher Baustein im großen Puzzle. Die in der DDR verbliebenen haben sich auf das gemeinsame Ziel konzentriert, eine Massenbasis zu bilden, die nicht mehr zu ignorieren war. Es ist ein Unterschied, ob 1981 nur 20-30 Menschen in der Nikolaikirche waren, oder 1988 schon bis zu 600, die wiederum 1989 von tausenden vor der Kirche Wartenden empfangen wurden, um sich dem Demonstrationszug anzuschließen. Organisation und Kommunikation Den großen Bogen haben wir jetzt gespannt. Wie ist dann aber aus den Friedensgesprächen in der Kirche die Oppositionsbewegung außerhalb der Kirche entstanden? Am Anfang waren wir nur eine kleine WhatsApp-Gruppe. (lacht) Nein, natürlich nicht. Aber das war genau die Herausforderung. Das Internet gab es noch nicht, entsprechend keine sozialen Netzwerke, keine E-Mails, nicht mal Computer, keine Smartphones. Selbst Festnetztelefone waren im privaten Bereich nur wenigen, oft den Systemtreuen vorbehalten. So wurde es also nicht organisiert, aber wie lief es denn? Aus der flächendeckenden Unzufriedenheit sind zeitlich parallel mehrere kleine oppositionelle Gruppen entstanden. Ich habe z. B. mit Freunden und Gleichgesinnten die Initiativgruppe Leben [↗] gegründet. Wir waren anfangs ca. 10, später ca. 20 Mitglieder mit einem harten Kern von genau vier Leuten. Kommunikationsknoten war anfangs das Jugendpfarramt. Dort wusste ich, da treffe ich immer jemanden an. Später haben wir ein Haus besetzt in der Mariannenstraße 46 [↗]. Kurze Zwischenfrage: Wie müssen wir uns eine Hausbesetzung vorstellen? Eher unspektakulär, insbesondere gewaltfrei. Wir haben in einem fast leerstehenden Haus einfach zwei Wohnungen entdeckt und genutzt, eine in der untersten und eine in der obersten Etage. Dort haben sich zwei WGs (Wohngemeinschaften) mit jeweils vier Leuten häuslich niedergelassen. Von den acht Leuten war dann immer jemand da. Das war unser Anlaufpunkt für alles zu besprechende und zu organisierende. Hatten andere Gruppen ähnliche Hot Spots? Ja, und es wurden auch mehr. Wir haben in der Nikolaikirche einen Aushang gemacht: „Die ‚Initiativgruppe Leben‘ beschäftigt sich mit aktuellen Fragen rund um Umweltschutz, Wehrdienst und Perestroika [↗]. Interessierte melden sich gern in der Zweinaundorfer Straße 20a“ [↗]. Dort hatten wir später auch einen Standort, an dem auch die Leipziger Bezirksgruppe des Neuen Forums [↗] gegründet wurde. Interview | Changemanagement für 17 Millionen 87 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 05/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0104 Einen durchgehend funktionierenden Kommunikationsknoten zu schaffen, war sicherlich hilfreich. Aber ein öffentlicher Aushang heißt, auch die Stasi [↗, MfS, Ministerium für Staatssicherheit] hat das gelesen und den Standort recht schnell gekannt. Andere Möglichkeiten der Publikation gab es einfach nicht. Dass man nie wusste, wer zu den quasi-öffentlichen Gruppentreffen kam und dass sehr bald auch IMs [↗, Inoffizielle Mitarbeiter der Stasi] dabei waren, das war uns sehr bewusst, aber auch egal. Vielleicht war es auch etwas Glück, dass die Stasi nicht jeden sofort festnahm, sondern einiges einfach laufen ließ, nur verdeckt ermittelte, um die Organisation und Funktionsweise der Opposition besser zu verstehen. Sie hatten also einen festen Standort, de facto einen Besprechungs- oder Projektraum, und haben so zwischen den Leipziger Gruppen wechselseitig Kontakt gehalten. …-und bei den Friedensgebeten. Jeden Montag um 17: 00 Uhr hat man dort übergreifend alle Leute getroffen, die man treffen musste. Da haben wir dann, heute kann ich es ja zugeben, nur noch halb zugehört, sondern immer ganz hinten gestanden und schon die nächsten Aktionen besprochen und vorbereitet. Wie haben Sie sich überregional, z. B. mit der Berliner Opposition koordiniert? Über die 1986 gegründete Umweltbibliothek [↗] in Berlin. Die hatte täglich geöffnet, war also personell auch immer besetzt und jede oppositionelle Gruppe hatte dort einen Briefkasten. Das war ein Regal mit über vierzig Fächern. Dort wurden alle Informationen, Erklärungen, Samisdat-Schriften, Demonstrationsaufrufe usw. verteilt. Wir sind fast wöchentlich nach Berlin gefahren und haben dort unseren Briefkasten geleert und auch selbst Post verteilt. Es war also alles von der kleinen Gruppe bis zur landesweiten Synchronisation gut strukturiert. Und sogar darüber hinaus. Wir hatten ganz große Vorbilder im Ausland und auch konkrete persönliche Kontakte zur Charta 77 [↗, seit 1977 in der CSSR] und zur Solidarnosc [↗, seit 1980 in Polen]. Erfahrungsaustausch in internationalen Netzwerken? Das klingt hoch professionell. War es das auch? Bei denen ja. Das hatte Vorbildcharakter. Bei uns eher-… na ja. Noch bevor wir selbst wirklich professionell werden konnten, hatten uns die Ereignisse schon überrollt. Die innerdeutsche Grenze war letztlich sehr plötzlich geöffnet. Der Schrei nach Freiheit wurde fast gegenstandslos und durch das Verlangen nach Wohlstand und Konsum ersetzt. Aus dem Sprechchor „Wir sind das Volk“ wurde „Wir sind ein Volk“. Das Erreichte in Art und Umfang hatte also starken Einfluss auf die Konkretisierung der nächsten Ziele. Auf diesen Changeprozess im Changeprozess kommen wir später zurück und bleiben bitte noch bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit vor der Maueröffnung. Wir sind z. B. oft zu Petr Uhl [↗] nach Prag gefahren, einem Mitbegründer der Charta 77. Wir haben die neuesten Samisdat-Schriften in die DDR geholt und übersetzt. So haben wir sowohl von deren Arbeitsweise gelernt als auch aus deren Inhalten. Abbildung 1: Originaldokumente zur Ankündigung und Einladung früher Umweltaktivitäten (links) und deren Nachbereitung (rechts) zur Dokumentation der wachsenden Anzahl von Unterstützern. Interview | Changemanagement für 17 Millionen 88 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 05/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0104 Also abgucken bei den Besten, so wie es viele Unternehmen heute noch tun. In welcher Auflage wurden die tschechischen Originale dann vervielfältigt? In dem Zusammenhang ist ‚vervielfältigt‘ ein großes Wort. Die limitierenden technischen Möglichkeiten zwangen uns oft, 99 Originale handschriftlich oder mit Schreibmaschine und wenigen Durchschlagbögen zu erzeugt. Ab 100 Exemplaren wäre der Druck genehmigungspflichtig gewesen. Auf solche und ähnliche Kleinigkeiten zu achten, haben wir auch von der Solidarnosc gelernt, in Teilen von Fidisz [↗]. Wissen Sie, wer 1988 Gründungsmitglied der ungarischen Opposition Fidisz war? Leider Nein. Wer? Viktor Orban [↗]. Der hat sogar ein Solidaritätsschreiben zur Freilassung von uns damals Inhaftierten unterzeichnet und nach Leipzig gesendet. Und heute? Unglaublich wie sich Menschen ändern. Changeprozesse ändern nicht nur Hierarchien, Prozesse und Zustände-… …-Es werden auch Handlungs- und Entscheidungsspielräume geschaffen. Und wenn Menschen diese nutzen, werden auch sie sich weiterentwickeln in die eine oder andere Richtung. Entscheidungen treffen, Verantwortung übernehmen, aktiv werden Aber lassen Sie uns von der europäischen auf die Leipziger Bühne zurückkehren, um die Anfänge des Widerstands zu verstehen. Mit Rückblick auf die vielschichtigen Ziele: Wie haben Sie Entscheidungen getroffen. Ganz einfach, durch Abstimmung. Gerade in den Anfängen waren wir ja noch kein Verein, hatten keine Satzung und kaum formale Regeln. Aktivitäten, die eine Mehrheit fanden, wurden umgesetzt. Sie hatten also keine Hierarchie in der Gruppe und die überstimmte Minderheit hat sich dann untergeordnet? Nein. Minderheiten haben an Aktionen, von denen sie nicht überzeugt waren, nicht teilgenommen. Wir wollten z. B. am 15. Januar ‘89 [↗] zum 70. Jahrestag der Ermordung von Karl Liebknecht & Rosa Luxemburg [↗] zu einer Demo aufrufen und diese vorab mit Flugblättern ankündigen. Wir haben ca. 20 Leute eingeladen, grob die Idee skizziert und gefragt, wer mitmacht. Jeder konnte für sich selbst entscheiden, gehe ich das Risiko ein oder nicht. Letzteres war kein Problem. Der war dann eben raus und es sind auch nur 12 Mitstreiter übriggeblieben. Das heißt, auch die von der Richtigkeit in der Sache Überzeugten mussten von jeder Einzelaktion von neuem überzeugt werden? Das macht bottomup-initiierte Changeprojekte sehr zäh. Konkret in Ihrem Fall: Wenn sich einige im entscheidenden Moment zurückziehen und man ahnt, dass man sehr wahrscheinlich mindestens einen Stasi-Spitzel in der Gruppe hat-… Jetzt wird es kompliziert. Nein, gar nicht. Wer nicht mitmachen wollte, kannte nur den Inhalt des Flugblattes, wusste aber nicht, was wann wo und wie genau organisiert wird. Und dann haben wir uns getrennt. Was heißt: getrennt? …- also uns temporär räumlich getrennt. Wir haben alle die Wohnung verlassen und sind in alle Himmelsrichtungen auseinandergelaufen, um die vor dem Haus wartende Stasi abzuschütteln. Die Zwölf, die bei der konkreten Aktion mitmachen wollten, haben sich eine Stunde später an einer anderen Adresse wieder getroffen. Erst dann wurde es konkret. Dann werden Sie bitte konkret. Was ist dann passiert? Im harten Kern der vier Leute hatten wir schon alles vorgedacht und am Umsetzungsort auch schon alles vorbereitet. Insbesondere hatten wir schon mehrere Monate überregional Papier zusammengetragen. Wer alleine mehrere 10.000 Blatt Papier kauft, machte sich ja schon verdächtig. (schmunzelt) Und das meiste gab es ja auch nicht zu kaufen, wenn man es brauchte. Wie nennen Sie das heute in der Projektarbeit? Ressourcenplanung und -bereitstellung? Eben Papier besorgen. Dann nennen wir Ihren vierköpfigen Kern bitte auch Projektkernteam. Von denen kannte also jeder den kompletten Plan und alle Details? So ganz dann doch nicht. Das war wiederum eine Frage der Sicherheit. Wo z. B. die Druckmaschine stand, wusste nur Michael Arnold. Wenn jemand in Untersuchungshaft kam und unter Druck gesetzt wurde, dann haben viele zwangsläufig etwas erzählt. Deshalb war wichtig, dass nicht jeder alles weiß. Was Du nicht weißt, kannst Du nicht erzählen. Und wenn Michael Arnold verhaftet worden wäre? Dann wäre die Druckmaschine weg gewesen. Selbst wenn er im Verhör noch eine Weile hätte widerstehen können, wir hätten die Maschine in der Zeit nicht retten können. Keiner sonst wusste, wo sie steht. Aber dazu kam es ja zum Glück nicht. Sie waren also acht Leute-… …- und haben vier Zweierteams gebildet. Es ist nie einer alleine gegangen. Wir haben dann die Leipziger Stadtbezirke aufgeteilt, wer wo Flugblätter verteilt. Jedes Team hat eine Nummer bekommen, von 1 bis 4, und eine Telefonnummer. Die sollte man sich nicht aufschreiben, sondern merken, und nach erfolgreicher Flugblattverteilung wurde angerufen: „Nr. 1 meldet sich zurück.“ Dann wusste z. B. nur der Angerufene: Team Nr. 1, bestehend aus Michael Arnold [↗] und Gesine Oltmanns [↗] haben die Flugblattverteilung im Stadtbezirk XY erfolgreich abschlossen. Interview | Changemanagement für 17 Millionen 89 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 05/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0104 Die MfS-Telefonüberwachung konnte dem mitgehörten Anruf aber nichts entnehmen. Welchen Planungshorizont ermöglicht diese Vorgehensweise? Die geschilderte Aktion für den 15. Januar ‘89 wurde im November ‘88 geboren, also etwa zwei Monate vorher. Wir haben uns fast jeden Abend in einer anderen Wohnung getroffen: etwa drei Wochen für die Detailplanung, drei Wochen Matrizen schreiben und Vervielfältigungsvorbereitung. Die eigentliche Verteilung der Flugblätter war dann nur eine Nacht. Jetzt wird es sehr spannend, aber sind die-- ich will sie fast Geheimdienstmethoden nennen-- noch auf heutige Arbeitsweisen übertragbar? Sicherlich nicht in der Brisanz und Konsequenz. Ich weiß nicht, in welchen Projekten heute noch jemandem Gefängnis oder schlimmeres droht. Zwei führende Mitarbeiter eines deutschen Autokonzerns wurden im Rahmen des Diesel- Abgasskandals in den USA zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Da ging es auch darum, wer was wann von wem wusste, ob man Arbeitsanweisungen ausgeführt oder selbst Entscheidungen getroffen hat. Das war sicher ein einmaliger Fall. Auch bei Demonstrationen, Gegendemonstrationen, Aktionen von Umweltaktivisten, auch Streiks im Bahn- oder Luftverkehr-- all das wird lange intern geplant, aber erst sehr kurzfristig kommuniziert. Dann haben Sie Ihre Frage doch selbst schon beantwortet. Die richtige Kommunikation ist entscheidend. Auch heute noch gilt: die richtigen Unterstützer rechtzeitig informieren und aktivieren, unnütze zeitraubende Kommunikation vermeiden und insbesondere potenzielle Störer und Verhinderer nicht zu früh aufschrecken. Verantwortung und Risikomanagement Kommen wir zurück zu Ihren Vorbereitungen des 15. Januar ‘89. Gab es über diesen Termin hinausgehende Gedanken? Nur im Sinne einer persönlichen Risikoabschätzung. Wird man festgenommen, verhört, eingesperrt, vielleicht sogar gefoltert- - physisch oder psychisch? All das war nicht abzuschätzen. Haben Sie sich auf solche Szenarien vorbereitet? Kann man das überhaupt? Oder haben Sie einfach gehofft, dass alles gut geht? Wirksam vorbeugen kann man dem kaum. Primär muss im Falle einer Festnahme schnell Öffentlichkeit hergestellt werden. Wir haben die Freunde bei der Charta 77 und Solidarnosc informiert. Bei denen und auch bei einigen westlichen Journalisten waren Namen und Porträtfotos aller potenziell Beteiligten hinterlegt. Wenn die Namen der Verhafteten in Ost und West in den Medien schnell und konkret erscheinen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie a) überleben und b) vielleicht sogar schnell wieder freigelassen werden. Die westlichen Fernsehbilder waren Teil unserer Sicherheitsstrategie für Verfolgte und Verhaftete. Es gab also keine allumfassende Risikobetrachtung, sondern einen Fokus auf das persönliche Hauptrisiko, d. h. die Vermeidung bzw. schnelle Beendigung einer möglichen Haft. Im Grunde hat es sich darauf konzentriert. Wenn man verhaftet wurde, hatte man alles Weitere sowieso nicht mehr in der Hand. Das war übrigens auch etwas, was die Berliner Opposition uns Leipzigern vorwarf. Bei der Auswertung nach unserer Freilassung sagten sie, wir hätten uns gar nicht auf die Haft vorbereitet. Wie verhalte ich mich dem Vernehmer gegenüber? Welche Aussagen mache ich? Kann ich die Aussage verweigern? Welche Rechte habe ich? Welche sind durchsetzbar? Habe ich einen Anwalt? Usw. Man hat uns vorgeworfen, unvorbereitet und naiv zu sein. Und waren Sie es nicht auch ein bisschen? (schmunzelnd): Nicht nur ein bisschen. Mit jeder neuen Aktion übernimmt man natürlich auch ein Stück Verantwortung, für sich und für andere, oder? Oh, das müssen wir jetzt differenzieren. Uns wurde regelmäßig vorgeworfen, dass wir dafür verantwortlich sind, dass andere an unseren Demonstrationen teilnehmen und sich so in Gefahr begeben. Das war die rhetorische Keule, mit der die Kirche uns ein schlechtes Gewissen machen wollte. Wir haben jede Verantwortung für die freie Entscheidung Anderer abgelehnt. Der Staat sollte nicht für uns denken und wir wollten nicht für Andere denken. Wir haben lediglich versucht zu ändern, was uns nicht gefiel. Wir haben eigenverantwortliche Denkprozesse angeregt und für alle permanent sichtbar und kalkulierbar Angebote gemacht, sich uns anzuschließen. So funktionieren Change Prozesse. …-auch heute noch. Man muss viel Überzeugungsarbeit leisten, aber letztlich entscheidet jeder selbst, welchen Aktionen man sich mit welchem Eigenanteil anschließt. Aber zurück zur Differenzierung. Welchen Aspekt der Verantwortung gab es denn noch? Im Herbst ‘89 hat sich die Lage ja dramatisch schnell, fast wöchentlich geändert. Mit der Entstehung des Neuen Forums gab es auch sehr schnell eine Bezirksgruppe in Leipzig. Zu dem Zeitpunkt war die Situation schon so weit gekippt, dass ich bedenkenlos meine private Adresse in Leipzig Grünau für Sprechstunden angegeben hatte. Was war das Problem? Die Transparenz hat doch sicherlich Vertrauen geschaffen. Die Leute haben Schlange gestanden vor meiner Wohnung, von der vierten Etage den ganzen Hausflur runter, draußen bis zur nächsten Hausecke und weiter. Ich konnte aus meinem Fenster das Ende der Schlange nicht mehr sehen. (lacht laut.) Die Privatadresse anzugeben, war vielleicht etwas unüberlegt. Interview | Changemanagement für 17 Millionen 90 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 05/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0104 Was heißt das? Welcher Schaden ist entstanden? Zum Glück ist kein wirklicher Schaden entstanden. Es war nur ein Beispiel unserer mangelnden Professionalität. Die Ost-CDU und -SPD hatten jeweils große Schwesterparteien im Westen. Die inzwischen in PDS [↗] umbenannte SED hatte eine etablierte Infrastruktur mit hauptamtlichem Personal. Wir hatten weder das Eine, noch das andere, sondern kein Geld / keine Einnahmen / auch keine Rücklagen-… einfach nichts. Wir sprachen schon vom Change im Change. Hatten sich die Forderungen des inzwischen mobilisierten Volkes vielleicht auch etwas von den Zielen der Ur-Opposition aus dem Beginn der 80er Jahre entfernt? Die Sprechchöre auf der Straße verdeutlichen das recht gut. Sie haben sich fast wöchentlich geändert. „Wir sind keine Rowdies“, war der erste, um Massenfestnahmen zu vermeiden. „Wir wollen raus! “, war dann der Ruf nach Freiheit, gefolgt von „Wir bleiben hier! “, weil die unbequem gewordenen sich nicht abschieben lassen wollten. Sie wollten nur „Visafrei bis Hawaii“. Nach wenigen Wochen hieß es schon: „Kommt die D-Mark, bleiben wir. Kommt sie nicht, gehen wir zu ihr.“, also die Forderung nach einer Währungsunion und erstmals mit einer Drohung verbunden. Sinnbildlich wurde mal gesagt: Wir waren die ersten, die sich mit ganzer Kraft gegen die Mauer gestemmt haben. Sie stürzte tatsächlich ein und die Nachfolgenden überrannten uns, Zielen entgegen, die wir nicht mehr beeinflussen konnten. Kalkulierbarkeit und Terminierung Das ist natürlich bitter. Die bereits angesprochenen Modelle zum Changemanagement sind eher konzeptioneller Natur und gehen von einer zumindest weitgehenden Planbarkeit und Steuerbarkeit aus. Bis zur Phase der Mobilisierung hat es ja auch gut funktioniert. In den für uns wesentlichen Belangen auch darüber hinaus. Bitte nicht falsch verstehen. Ich bin nicht unzufrieden mit dem Verlauf der friedlichen Revolution. Erinnern wir uns an die eingangs genannten Ziele: Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, politische Teilhabe durch die Möglichkeit der Gründung von Parteien- … usw. haben wir alles erreicht, wenn auch in einem anfangs nicht absehbaren Gesamtzusammenhang. Was einem einfach klar sein muss: Wenn die Mobilisierung funktioniert, vervielfachen sich die Akteure. Damit steigen die Vielzahl und Vielfalt der Ziele und Interessen. Darauf muss man vorbereitet sein und es moderieren. Schon in Goethes Zauberlehrling ist die Rede von „… den Geistern, die ich rief“. Die Mobilisierung ist vermutlich nur bedingt planbar und insbesondere nicht terminierbar, oder? Ich kann mich nur zur Veränderung im Rahmen politischer Umbrüche äußern. Das sind große Systeme, langlaufende Prozesse und extrem viele Wechselwirkungen mit dem Umfeld. Die langfristorientierte Projektsicht hatten wir damals auch nicht. Wir hatten ja keinen Projektauftrag. Jede Terminierung kommt daher schnell an ihre Grenzen. Was aber funktioniert und auch wichtig ist, günstige Zeitpunkte mit begünstigenden Rahmenbedingungen suchen und auch nutzen. Haben Sie ein Beispiel? Wir sprachen mehrfach über den 15. Januar 1989. An dem Tag fand das KSZE-Folgetreffen [↗] in Wien statt. Da sind der bundesdeutsche und der US-Außenminister auf die Delegation der DDR getroffen und haben Menschenrechtsverletzungen konkret angesprochen. Als Zeichen des guten Willens hat die DDR dann einige inhaftiere Oppositionelle wieder freigelassen. Das kann man nicht planen, schon gar nicht beauftragen. Aber man kann die Zusammenhänge kennen und hoffen, dass sie unterstützend wirken. Manchmal hilft eben auch der Faktor Glück-… …- umso öfter, je mehr Zusammenhänge man erkennt. Die Montags-Demo am 04. September 1989 [↗] war nach den Sommerferien bewusst gewählt und nicht nur zufällig unübersehbar. Was heißt unübersehbar? Die Demo- Teilnehmerzahlen lagen doch zu der Zeit noch ganz deutlich unter den letztlich vielen 100.000. Richtig, aber in Leipzig war die Herbstmesse [↗]. Es waren viele Pressevertreter in der Stadt, auch akkreditierte westliche. Es war klar, dass sie die Demonstration filmen werden. Und dann war es über das Westfernsehen auch im Osten zu Abbildung 2: Fünf-Phasen-Modell für Change Management. Wenn nicht konkret und bewusst ein Change-Projekt gestartet wird, wird es für die Bottom-up-Agierenden unendlich schwer Interview | Changemanagement für 17 Millionen 91 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 05/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0104 sehen. Deshalb sagte ich: unübersehbar. Das hat auch die letzten gezwungen sich zu positionieren: Bin ich systemtreu oder denkfauler Mitläufer? Will ich auch in den Westen flüchten oder im Osten etwas ändern? Erst fragten einige hinter vorgehaltener Hand, dann kamen sie zur Demo als Zuschauer, dann wurde applaudiert und am Ende mitmarschiert. Dieser Prozess der persönlichen Meinungsbildung verlief bei einigen früher und schneller, bei anderen später und langsamer. Wichtig für jeden Changeprozess ist ein gut und dauerhaft funktionierender Kristallisationskern, der Vorbildcharakter entfaltet und immer größere Wellen schlägt. Vom 04. September bis zum 09. Oktober 1989 ist die Zahl der Montagsdemo-Teilnehmer wöchentlich exponentiell gestiegen, auch, weil sie fortan medial begleitet wurde. Apropos Leipziger Messe: Warum hat der in der ganzen DDR vorherrschende Unmut gerade in Leipzig seinen Weg an die Oberfläche gefunden? Auch eine Frage der aus Terminierung resultierenden Kalkulierbarkeit für alle potenziellen Mitstreiter. Das Erfolgsrezept war Kontinuität. Jeden Montag um 17: 00 Uhr! Und das über fast 10 Jahre! Das gab es in keiner anderen Stadt. So kamen von Woche zu Woche auch mehr überregionale Teilnehmer. Leipzig wurde großräumig zum Magnet für Unzufriedene, die demonstrieren wollten. Zugereiste haben Losungen und Sprechchöre oft 1: 1 übernommen. Die inhaltliche Synchronisation mit anderen Städten war gleichzeitig eine Frage der Effektivität in deren Planung. Dokumentation & Erfahrungssicherung Wir haben viele Beispiele Ihrer Vorgehensweise verstanden, weil die Geschehnisse im Herbst ´89 keinen Auftraggeber und keinen verantwortlichen Projektleiter hatten. Es erübrigt sich also nach einem Projektabschussbericht und einer dokumentierten Erfahrungssicherung zu fragen. Ein Abschlussbericht? -- was auch immer Projektmanagementexperten darunter verstehen mögen. Aber es gibt das Archiv Bürgerbewegung. Wir sammeln und bewahren Hinterlassenschaften von Opposition & Widerstand als Pendant zu staatlichen Archiven. Wer ist Ihre Zielgruppe? Bis heute kommen viele Historiker aus allen Teilen der Welt in die ehemalige DDR und forschen zu dem Thema. Da sie anfangs kaum Unterlagen fanden, haben sie zwangsläufig und fast ausschließlich auf staatliche Protokolle zurückgegriffen, die eine sehr einseitige Sicht auf die Dinge haben. Um Missverständnissen vorzubeugen: Die gerade angesprochene einseitige Sicht kann doch nach der Wende keine DDR-Sicht mehr gewesen sein. Oder worauf wollen Sie hinaus? Doch, genau das! Staatliche Archive bewahren- - zumindest größtenteils- - Dokumente von der SED, der DDR-Polizei und dem MfS. Einige DDR-Museen sind geeignet, sich über Konsumgüterknappheit zu informieren und verkaufen aus falsch verstandener (N)Ostalgie FDJ-Fahnen [↗] und DDR-Militärorden. Das Frauengefängnis Hoheneck [↗] und einige rekonstruierte Stasi-Verhörräume zeigen die Geschichte zumindest in einer gewissen Ernsthaftigkeit, aber auch nur die negativen Seiten. Wir wollen zeigen, wie die Opposition gedacht hat und organisiert war. Der historische Hintergrund leuchtet ein. Aber zieht ein Archiv Besucher an? Ja. Schüler und Lehrer, Studenten und Dozenten, Forscher und Promovierende, Journalisten, privat Interessierte, auch Oppositionelle aus anderen Ländern. Viele wollen entweder konkrete Themen aus dem deutschen Herbst ´89 recherchieren oder allgemein auf realen Dokumenten basierend verstehen, wie eine Diktatur funktioniert und wie man sich dagegen wehren kann. Das kann ja auch jederzeit wiederkommen. Zumindest Montagsdemonstrationen tauchen immer mal wieder auf. Und wem gehört diese Bezeichnung? Auch das populäre „Wir sind das Volk“ ist vereinzelt immer mal wieder zu hören. Man kann so etwas leider nicht schützen. Allein um zu dokumen- Abbildung 3: An der BAB 114 begrüßt Leipzig noch heute stolz seine Besucher mit einem Hinweis auf die Ereignisse im Herbst ´89 Interview | Changemanagement für 17 Millionen 92 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 05/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0104 tieren, in welchem Kontext welche Formulierungen, Symbole und Werte entstanden sind und über missbräuchliche Nachnutzung aufzuklären, sind Archive nicht zu unterschätzen. Sie nannten auch ausländische Besucher. Ich erinnere mich in Nikosia auf Zypern zwischen dort heute noch stationierten UN-Soldaten Plakate gesehen zu haben „Vergesst die letzte geteilte Hauptstadt Europas nicht! “ Ja, auch. Öfter hatten wir aber z. B. Besuch aus Südkorea. Die suchen selten Artefakte, sondern eher das Gespräch, eine Information, einen Rat. Wie geht das mit der Wiedervereinigung? Was können wir an der Schnittstelle zu Nordkorea tun? Was können wir ggf. falsch machen? Es waren auch mindestens vier Amerikaner hier, die anschließend jeweils ein Buch geschrieben haben. Die wollten dann wiederum primär konkrete Quellen recherchieren. Und jüngst erinnere ich mich an den Besuch eines Künstlers, der die Menschen in Taiwan mit provokativen Kunst-Installationen zwingt, sich immer wieder mit den Verbrechen in Taiwan auseinanderzusetzen. Der deutsche Herbst ‘89 war- - ohne Übertreibung- - weltverändernd. Das interessiert Leute in allen Teilen der Welt. Sie arbeiten heute deutlich strukturierter, professioneller, besser geplant und vor allem langfristiger, als das früher in der Opposition möglich war. Erzählen Sie uns etwas über Ihre jetzige Arbeit. Es ist wichtig, dass es überhaupt die Möglichkeit gibt, Dokumente von und über Leute zu sammeln, die in der Opposition und im Widerstand waren. Neben der Dienstleistung der Archivierung (siehe Info-Box, Abbildung 5) arbeiten wir auch mit den Materialien. Das ist unseren Input-Gebern wichtig, dass wir ihr Gedächtnis nicht nur wegschließen, sondern damit arbeiten und Ergebnisse erzeugen. Haben Sie ein Beispiel? Was machen Sie konkret? Wenn Schulklassen zu uns kommen, erklären wir, was ein Archiv ist und wie man recherchiert. Selbst fortgeschrittene InternetUser, die mehr als TikTok machen und Musik streamen, können selten eine Sachinformation von Fake News sicher unterscheiden. Auch unsere Zeitzeugeninterviews reichen nicht aus, wenn sie die einzige Quelle sind. Ein Einzelner kann sich irren, etwas vergessen, kann über- oder untertreiben. Es ist immer eine subjektive Einzelmeinung. Wie erfährt man die Wahrheit und wie erkennt man sie? Wie ist mit Wahrscheinlichkeiten, unsicheren und unvollständigen Informationen umzugehen? Oh ja, das ist für jeden Projektmitarbeiter wichtig, nicht nur sicher in der Methodenanwendung zu sein, sondern auch unter Unsicherheit Entscheidungen treffen zu können. Also fassen wir zusammen: Quellen-- im Plural-- auswerten, Erkenntnisse ziehen, sich dann eine Meinung bilden und daraus eine Aktivität ableiten. Genau das vermitteln wir unseren Besuchern mit einer sehr kleinen Mannschaft in angespannter Finanzlage. Aber ich will nicht klagen. Wir sind ein motiviertes Team (Anm.: 30 Vereinsmitglieder und z. Zt. 11 Mitarbeiter inkl. Praktikanten und Hilfskräfte, fast alle projektfinanziert, einige sogar ehrenamtlich) und nicht vergleichbar mit manch traumatisiertem Einzelschicksal, dass wir hier erleben. Abbildung 4: Uwe Schwabe im Leipziger Archiv Bürgerbewegung Interview | Changemanagement für 17 Millionen 93 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 35. Jahrgang · 05/ 2024 DOI 10.24053/ PM-2024-0104 Traumatisiert im medizinischen und psychologischen Sinne oder reden Sie von Demotivation und Desillusionierung Einzelner? Können Sie und vor allem dürfen und möchten Sie das näher ausführen? Es gibt nicht nur die unzähligen selbsternannten „Helden“, die nach eigener Aussage die Wende höchstpersönlich im Alleingang herbeigeführt haben. Ich rede von denen, die wirklich zu einem sehr frühen Zeitpunkt schon sehr aktiv waren. Sie haben über Monate, teilweise über Jahre unter höchster Anspannung am Rande der Legalität und darüber hinaus agiert, haben durch ihre Aktionen oft auch Familie und Freunde in Gefahr gesehen, haben oft Hafterfahrung, hatten nach der Haftentlassung oft einen gesellschaftlichen Makel und wurden als Ex-Häftlinge als kriminell abgestempelt, haben in Verhören xfach stundenlang psychologisch top-geschulten Vernehmerteams gegenübergesessen und unter hohem Druck nicht selten Informationen verraten, die sie versprochen hatten, niemals zu verraten, was Ihnen bis heute viel Scham bereitet-… Verantwortung übernehmen muss man wollen UND können. Das hat vielfältige Konsequenzen. In der Form ist das wohl den wenigsten Außenstehenden bewusst. Großprojekte werden häufig als Karrieresprungbrett, aber selten als persönliche Belastung wahrgenommen. Haben Sie für solche Gespräche geschultes Personal? Ich kenne viele dieser Situationen aus eigener Erfahrung und kann in Gesprächen gut Vertrauen aufbauen. Aber auch ich brauche in einigen Fällen viele Monate, die Geber zu motivieren, ihre Hinterlassenschaft in professionell archivierende Hände zu geben. Und wer Ihr Archiv so kennen und schätzen lernt, der gibt dann trotz erster Bedenken seine Hinterlassenschaft in Ihre Hände? Ja, oft, weil die Geber teils heute noch aktiv mitarbeiten können, wie sie es damals aus der Opposition heraus gefordert haben. In unserem letzten Projekt haben wir ein eigenständiges Kleinarchiv integriert. Ca. 25.000 Seiten waren schon zu bröselig für den automatischen Blatteinzug und mussten manuell aufgelegt einzeln gescannt werden. Zwei Hilfskräfte der Hochschule waren fast ein Jahr beschäftigt. Aber jetzt diesen Schatz anbieten und damit immer wieder arbeiten zu können, das motiviert alle Beteiligten und nützt vielen. Wir bedanken uns für das Gespräch, auch bei Frau Dr. Saskia Paul, der Leiterin des Archivs, die aus dem Hintergrund immer wieder Informationen ergänzt und Anschauungsmaterial reicht. Weiterführende Literaturempfehlung: Peter Wensierski „Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution: Wie eine Gruppe junger Leipziger die Rebellion in der DDR wagte“, SPIEGEL-Buchverlag 2017 (gleichnamig verfilmt) Uwe Schwabe * 04. Mai 1962 in Leipzig • DDR-typische Kindheit und Jugendzeit in der Pionierorganisation, FDJ, Wehrdienst in der NVA • beruflicher Einstieg in die DDR-Handelsflotte verwehrt (→ persönliche Eignung für den grenzüberschreitenden Verkehr wurde ihm abgesprochen) „Und dann war es einfach: a) sich anpassen und in der Masse mitschwimmen. Das wollte ich nicht. b) einen Ausreiseantrag stellen und meine Heimat verlassen. Das wollte ich auch nicht. Also c) Gleichgesinnte suchen und ausloten, was man erreichen kann.“ • Gründungsmitglied der Initiativgruppe Leben, eine der frühen, aktiven und bedeutenden Leipziger Oppositionsgruppen in den 1980er Jahren • seit 1991: Vorstandsvorsitzender im Archiv Bürgerbewegung Leipzig e. V. (https: / / www.archiv-buergerbewegung. de) im Haus der Demokratie, Leipzig • zahlreiche Ehrungen für beispielhafte Zivilcourage u. a. Bundesverdienstkreuz 1. Klasse (1995) und Deutscher Nationalpreis (2014) • Intensive recherche nach relevanten Dokumenten und Zeitzeugen • Erstgespräche mit Gebern, gemeinsame Langfristziele vereinbaren, zur Bestandsfortführung in professioneller Archivierung motivieren • Übergabe von Informationen, Dokumenten, Artefakten,- … inkl. Vorsortierung und Beschriftung (inzwischen sind es >1.000 Samisdat-Schriften, >250 Plakate, >100 Audio- und Videoaufnahmen, >180 Objekte, zzgl. >300 Zeitzeugeninterviews) • Entfernen von Büro- und Heftklammern, Aktendullis und allem Metallischem, auch Folienhüllen etc. • Inventarisierung mit säurefreiem Papier in säurefreien Kartons • Digitalisierung (neben physischer Lagerung recherchierbar in Datenbanken ablegen) und Verschlagwortung • Bereitstellung der Artefakte während der Öffnungszeiten; ergänzend elektronisch in online-Archiven • Wissenschaftliche verwertung der Inhalte (Bücher/ Broschüren/ Veröffentlichungen, Veranstaltungen, Ausstellungen, Gesprächskreise/ Zeitzeugen-Interviews, Bereitstellung von über 30.000 Fotos für Journalisten, Forscher, etc.) • Regelmäßige Begleitung von Medienbrüchen, d.h. ca. alle 10 Jahre geänderte Dateiformate und Speichermedien In Summe ca. 140 persönliche Sammlungen und ein Dutzend Nachlässe. In der Aufarbeitung ist das meiste sehr arbeitsintensiv. Das wenigste wird institutionell gefördert. Abbildung 5: Projekte zur Archivierung und Nutzung der Hinterlassenschaften Oppositioneller