PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
pm
2941-0878
2941-0886
UVK Verlag Tübingen
71
2021
323
GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.Herausgeber: GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V. Unter Mitwirkung von: spm - Swiss Project Management Association und Projekt Management Austria P R OJ E K T M A N A G E M E N T A K T U E L L www.pmaktuell.de Krisen brauchen Projektmanagement! Ausgabe 3/ 2021 | 32. Jahrgang Vom Kleinunternehmer über den Mittelstand bis hin zu weltweit agierenden Konzernen: Mit Projektron BCS und Projektron BCS.start bieten wir Ihnen die passende Lösung. Projektron GmbH • Charlottenstraße 68 • 10117 Berlin • Deutschland • Telefon: +49 30 3 47 47 64-0 • www.projektron.de • info@projektron.de Projektmanagement- Software Projektron BCS auswerten koordinieren planen projektron.de 1 2 Editorial Reportage 4 Projektmanagement mit künstlerischem Mindset Spielerisch aus der Krise 10 „Upload“ für Projekte! Projekte im virtuellen Space - ohne zeitliche und räumliche Limits 17 Unterwegs in „Audi spaces“ Im Interview mit Maria Appel und Alexander Schiera: Auch nach der Pandemie Kommunikation im virtuellen Raum 24 Veränderung und Resilienz von Verwaltungshandeln in Zeiten von Corona Projektmanagement ist Krisenmanagement 25 Projektmanagement als Krisenmanagement im Bundesministerium für Gesundheit Heike Kratt im Interview mit Volker Düring 27 Projektmanagement als Krisenmanagement in der Hansestadt Hamburg Heike Kratt im Interview mit Sabine Meister 30 Bedeutungsgewinn von Projektmanagement in der Corona-Krise am Beispiel der Stadt Köln Heike Kratt im Interview mit Tanja Krins Wissen 32 Methodik zur Vermessung von Unsicherheit in Projekten 37 Hybrides Projektmanagement und Selbstorganisation in einer klassisch hierarchischen Organisation Erläuterung anhand eines Projektes für Dieselgeneratorensysteme 31Begutachtung von EDV-Projekten 43 Virtuelle Führung - Was können wir aus Projekten lernen? 47 Wie Corona die Arbeitswelt und das Projektmanagement nachhaltig verändert Homeoffice und mobiles Arbeiten 51 Begutachtung von EDV-Projekten 58 Projektmanagement-Effekte bei DB Cargo 64 Chancen der Online-Lehre für Projektmanagement an Hochschulen 70 Buchbesprechung Kolumne 71 Nicht mit den Falschen verbünden Aus den DACH-Verbänden 72 IMPA intern 73 GPM intern 75 pma intern 76 Auf ein Wort mit ... Klaus Ohlwein Herausgeber: GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V. Am Tullnaupark 15, 90402 Nürnberg Unter Mitwirkung von Spm - Swiss Project Management Association Flughofstraße 50, CH-8152 Glattbrugg und Projekt Management Austria Palais Schlick, Türkenstraße 27/ 2/ 21, A-1090 Wien Redaktion: Prof. Dr. Steffen Scheurer, Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen (Chefredakteur) Oliver Steeger, Alfter (Ressort Report) Myriam Conrad, GPM, Nürnberg Christopher Klausnitzer, GPM, Nürnberg (Ressort GPM intern) Dr. Thor Möller, con-thor, Ganderkesee Redaktionsbeirat: Dr. Dieter Butz Axel Graser, Südwestrundfunk / SWR Prof. Dr. Nino Grau, Grauconsult GmbH Prof. Dr. Katrin Hassenstein, Hochschule der Medien Stuttgart Prof. Dr. Claus Hüsselmann, Technische Hochschule Mittelhessen Dr. Hans Knöpfel, spm, Schweizerische Gesellschaft für Projektmanagement Brigitte Schaden, pma (Projektmanagement Austria) Prof. Dr. Heinz Schelle, GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V. Reinhard Wagner, Tiba GmbH Prof. Dr. Doris Weßels, Fachhochschule Kiel G 6010 32. Jahrgang, 3/ 2021 ISSN 0942-1017 Verlag: UVK Verlag. Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5, 72070 Tübingen Telefon: +49 (0)7071 97 97 0 Telefax: +49 (0)7071 97 97 11 www.projektmanagement.digital © 2021 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG, Tübingen Nachdruck und fotomechanische Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlages. Namentlich gekennzeichnete Beiträge sowie die Inhalte von Interviews geben nicht in jedem Fall die Meinung der Redaktion oder des Verlages wieder. Zeitschriftenkoordination: Elena Gastring eMail: gastring@narr.de Anzeigenverwaltung: Stefanie Richter Telefon: +49 (0) 89 / 120 224 12 eMail: richter@narr.de Erscheinungsweise: 5 Hefte pro Jahr Bezugspreise für Privatpersonen: Einzelheftpreis: EUR 20,- Jahresbezugspreis (print): EUR 67,- Jahresbezugspreis (print & online): EUR 88,- Bezugspreise für Institutionen: Jahresbezugspreis (print): EUR 67,- Jahresbezugspreis (print & online): EUR 198,- Preisänderungen vorbehalten. Der Bezugspreis für Mitglieder der GPM ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Alle Preise zzgl. Versandkosten und inkl. MwSt. Die Kündigung ist sechs Wochen vor Ende eines Kalenderjahres schriftlich an den Verlag zu richten. Sonderausgaben werden zusätzlich berechnet. Bei Nichterscheinen der Zeitschrift ohne Verschulden des Verlages oder infolge höherer Gewalt entfällt für den Verlag jegliche Lieferpflicht. Umschlagabbildung: © iStock.com/ Gajus Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird die männliche Form verwendet (generisches Maskulinum). Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung grundsätzlich für alle Geschlechter und beinhalten keine Wertung. Impressum 2 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0040 Mit Projektmanagement Krisen bewältigen Liebe Leserinnen und Leser, im ersten Heft 2021 hatten wir uns mit Projektmanagement und Covid-19 beschäftigt. Im Editorial dieses Heftes habe ich bereits angedeutet: Wir werden darüber berichten, wie Projektmanagement zur Bewältigung von Krisen beitragen kann. Und genau dieses Thema bildet den Schwerpunkt des Heftes, das Sie jetzt in den Händen halten. Zunächst eine Orientierung. Was eigentlich ist eine Krise? Eine Krise „… bezeichnet eine über einen gewissen (längeren) Zeitraum anhaltende massive Störung des gesellschaftlichen, politischen oder wirtschaftlichen Systems“ [1]. So gesehen mangelt es uns wahrlich kaum an Krisen. Ein kurzer Blick auf die Nachrichtenlage zeigt die Spannweite: Angefangen mit politischen, religiösen und gesellschaftlichen Störungen, die weltweit immer wieder zu akuten kriegerischen Auseinandersetzungen führen, über die globale Klimakrise, gepaart mit lokalen Hungerkrisen-- bis hin zur weltweit zurzeit alles überlagernden Corona-Krise. Doch glücklicherweise müssen Krisen nicht einfach nur schicksalsergeben hingenommen werden. So bergen Krisen „… gleichzeitig auch die Chance zur (aktiv zu suchenden qualitativen) Verbesserung.“ [1] Das ist dieses Mal unser Stichwort! In diesem Heft wollen wir berichten, was Projektmanagement beim Umgang mit Krisen leisten kann. Wie können Projektmanager konkret zur Krisenbewältigung beitragen? Den Anfang macht Berit Sandberg. In ihrem Beitrag zeigt sie, wie ein künstlerisches Mindset dazu beitragen kann, Projektmanagement zu einer erfolgsversprechenden Methodik weiterzuentwickeln-- gerade in komplexen und unsicheren Krisensituationen. Krisen verändern auch die gesamte Arbeitswelt. Bei dieser Veränderung unterstützt Projektmanagement. Wie stark die Transformation der Arbeitssituation von vielen Beschäftigten in der Corona-Pandemie hin zum Homeoffice in Deutschland tatsächlich ausfällt, zeigt die Studie von Florian Kunze. Was wiederum Konsequenzen hat für das Projektmanagement. Lesen Sie hierzu das Interview von Oliver Steeger mit Markus Herkersdorf , einem Spezialisten für virtuelles Lernen und Kollaboration zum Thema „Projekte im virtuellen Space-- ohne zeitliche und räumliche Limits“. Wie solche Lösungen konkret umgesetzt werden, erfahren Sie im Interview von Oliver Steeger mit Maria Appel und Alexander Schiera von der Audi AG. Im Zuge dieser Entwicklungen und der generell wachsenden globalen virtuellen Zusammenarbeit bekommt das Thema der virtuellen Führung zunehmend Bedeutung. Anke Brinkmann und Christian Stadler zeigen in ihrem Beitrag, auf was es bei virtueller Führung ankommt. In Zeiten von Corona wird Projektmanagement automatisch zu Krisenmanagement. Von der Kompetenz und der Stärke der Regierungen auf Bundes- und Landesebene, aber auch von der Kompetenz auf allen umsetzenden Ebenen hängen direkt Menschenleben ab. Wir zeigen, wie die staatlichen Institutionen diese Verantwortung auf der Bundes-, der Landes- und der kommunalen Ebene angenommen haben und versuchen dieser Verantwortung mit Methoden des Projektmanagements, aber auch mit herausragendem Engagement der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gerecht zu werden. Heike Kratt , die Hauptstadtrepräsentantin der GPM hat hierzu Interviews mit Volker Düring , Sabine Meister und Tanja Krins geführt. Diese Interviews machen auch deutlich: Das von der GPM initiierte Aktionsprogramm „Mit Projekten Deutschlands Zukunft gestalten, trägt bereits Früchte und zeigt Erfolge. Erkennbar wird jedoch auch, dass es in der Verwaltung noch deutliche Herausforderungen gibt, u. a. in der übergreifenden Zusammenarbeit, in der Klärung von Rollen und Zuständigkeiten, aber auch in der Kommunikation nach innen und außen. Umso wichtiger erscheint eine weitere konsequente Umsetzung des Aktionsprogramms durch den Beirat unter Vorsitz des Präsidenten des Bundesverwaltungsamtes, Christoph Verenkotte. Dörte Bräunche, André Dechange, Claudia Förster und Susanne Marx zeigen in ihrer Studie, vor welchen Herausforderungen die Projektmanagementlehre an Hochschulen durch die Corona-Pandemie gestellt wurde. Wie reagieren Hochschuldozenten darauf? Und auch: Welche Vorteile ergeben sich in der Krise durch die neuen Lehrformen? Neben all den Beiträgen, die sich mit dem Thema Krise auseinandersetzen, finden Sie eine Reihe von Beiträgen, die sich mit der Umsetzung konkreter Methoden in Projekten beschäftigen. Frank Habermann zeigt in seinem Beitrag, wie es mit der Methode „Uncertainty Mapping“ durch einen strukturierten Dialog gelingen kann, zum Kern von Unsicherheiten in Projekten vorzudringen. Markus Talay und Matthias Hümmer liefern ein Beispiel für ein Projekt, das erst im Projektverlauf von einer rein plandeterminierten zu einer hybriden Projektmanagementmethodik umgestellt wurde. Dadurch konnte eine signifikante Verbesserung des Projektergebnisses erzielt werden. Jürgen Reinke kommt dann ins Spiel, wenn Projekte scheitern oder drohen, weit jenseits der Zeit- oder Budgetziele zu landen. Dann stellt sich die Frage, welche Faktoren zu diesen Abweichungen führten und wem der entstandene Schaden anzulasten ist. Bei der Gutachtenerstellung wird der Sachverständige aufgefordert, zu solchen Fragen Stellung zu nehmen. Mit welchen Ansätzen der Autor ein solches Gutachten erstellt, erläutert er in seinem Beitrag. Christian Drachenberg gibt in seinem Beitrag einen Einblick in die Herausforderungen des Projektmanagements bei der DB Cargo AG. Viele dieser Beiträge zeigen: Es liegt an uns, angesichts der vielfältigen Herausforderungen zusätzliche Kräfte freizusetzen. Wir können mit Zuversicht, Kreativität und einer guten methodisch fundierten Vorgehensweise neue Lösungen finden. Gerade das Projektmanagement bietet hier mittlerweile für die unterschiedlichsten Umfeldsituationen und Herausforderungen eine große Bandbreite an Methoden an. Also: Nehmen wir die Herausforderungen an! Ihr Steffen Scheurer [1] Bundeszentrale für politische Bildung: https: / / www.bpb.de / nachschlagen / lexika / lexikon-der-wirtschaft / 17 759 / krise , Stand 30. 05. 2021. Editorial Projektmanagement mit künstlerischem Mindset DOI 10.24053/ PM-2021-0040 32. Jahrgang · 03/ 2021 EDITORIAL Seit 1980 stellt das Karlsruher Softwarehaus PLANTA in der Kernkompetenz Projektmanagement-Software her. In der Anfangszeit nutzen vor allem Kunden im Bereich Maschinenbau die Software im klassischen Einzel- und Multiprojektmanagement. Heute lässt sich PLANTA-Software branchenunabhängig und flexibel in agilen Projektteams, mit klassischer Projektplanung oder als integriertes Hybrid-System einsetzen. PLANTA project, PLANTA portfolio, PLANTA pulse schneiden in PM-Studien und Software-Vergleichen regelmäßig führend ab. Mit 600 Installationen und mehr als 60.000 Anwendern hat PLANTA-Software einen großen Marktanteil. Das aus einem Forschungsprojekt an der Uni Karlsruhe hervorgegangene Unternehmen bietet ein breites Produktportfolio mit Serviceleistungen für alle Phasen der Softwareeinführung und des Softwarebetriebs an und steht bei der Weiterentwicklung der Software in engem Kontakt zu seinen Kunden. Nutzen Sie unsere PM-Expertise - seit 40 Jahren werden Projekte erfolgreich mit PLANTA-Software geplant und gesteuert. Seit 40 Jahren Ihr zuverlässiger Partner Ihr Fels im Projektmanagement-Softwaremarkt Interessiert? Lernen Sie uns kennen: www.planta.de 4 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0041 Spielerisch aus der Krise Projektmanagement mit künstlerischem Mindset Berit Sandberg Für eilige Leser | Der Beitrag beleuchtet das Potenzial des künstlerischen Sensemaking im Projektmanagement. Ausgehend vom Cynefin-Framework, der auf geeignete Handlungsmuster bei verschiedenen Graden von Unsicherheit verweist, stellt er Parallelen im künstlerischen Denken und Handeln vor und ordnet sie als Strategien zu Bewältigung von Unsicherheit ein. Künstler arbeiten prozess- und ergebnisoffen und sind in der Lage, chaotische und komplexe Situationen mit sensibler Wahrnehmung und im Dialog mit ihrem Material kreativ zu nutzen. Das macht künstlerische Arbeit zu einer zukunftsorientierten und verkörperten Form des Sensemaking, dessen Elemente Bifokalität, Multivalenz, Ambidextrie, Improvisation und Embodiment planungsorientiertes Projekt- und Krisenmanagement bereichern können. Schlagwörter | Kunst, Kreativität, Cynefin, Unsicherheit, Sensemaking, Improvisation, Embodiment Clint Eastwood und Kathryn Bigelow bleiben bei ihren Filmprojekten immer im Zeitplan und im Budget; oft reizen sie den Rahmen nicht einmal aus. Beide arbeiten auf hohem künstlerischem Niveau: Oscars für den besten Film und die beste Regie führen lange Listen von Auszeichnungen an. Wie gelingt ihnen das? Eastwood kommt mit einem Minimum an Planung aus. Er arbeitet meist ohne Drehplan und Storyboard. Am Drehort schätzt er vorläufig das Setting ein und arbeitet dann mit dem, was er am Drehtag vorfindet. Kamerawinkel und Bildaufbau legt er erst am Set fest. Sein Kameramann weiß, dass er die Szenerie so ausleuchten muss, dass alle Aufnahmemöglichkeiten offen bleiben. Eastwood ist sehr gut vorbereitet und probt selten. Er arbeitet aus dem Moment heraus und braucht für eine Szene normalerweise nur ein, zwei Takes. Über seinen Arbeitsstil sagt er: „I come to the set knowing what we need to do and with very clear ideas of what I think will work, but I don‘t like to walk in and impose on the setting with a lot of preconceptions. I like to see what we‘ve got on that day, what the lighting is like, what’s in the environment, what‘s interesting or can be made to become interesting and then to see where the actors are going to go.-… I like to be open to what I find.-… I like to respond to all that, work with it and bring it into the film.“ [1, S. 70 f.] Auch Bigelow verlässt sich auf ihren Instinkt, arbeitet aber anders als Eastwood. Sie nutzt Probenarbeit, um eine klare Vision des Films an ihre Crew zu vermitteln, und braucht ausgefeilte Drehpläne, denn sie dreht alle ihre Filme trotz ambitionierter Settings vor Ort und nicht im Studio. So hatte sie bei tagelangen Dreharbeiten auf dem Meer mehrere Dispos für jede einzelne Stunde des Drehtages. „If you have that level of organization, it enables you to have some freedom and spontaneity“, meint sie [2, S. 124]. „Working on water is an area that even a director can’t control. Once you relegate yourself to that, you realize that you’ve got to be painfully flexible. You’ve got to be ready to shoot anything.-… That kind of flexibility necessitates the need for improvisation.“ [2, S. 126] „So there is this planned disorder and orderly chaos that is constantly being balanced while you work.“ [2, S. 127] Der Schauspieler Harrison Ford, der mit Bigelow gearbeitet hat, sagt über sie: „I don’t remember ever facing the feeling of chaos. Directors have to be able to think on their feet when the time isn’t there, the light isn’t there, when the capacity of an actor to perform isn’t there-- and they have to find a way to make it work anyway. Kathryn never would have survived if she hadn’t been able to do that.“ [3, 5. Abs.] Reportage Projektmanagement mit künstlerischem Mindset DOI 10.24053/ PM-2021-0041 32. Jahrgang · 03/ 2021 Reportage | Projektmanagement mit künstlerischem Mindset 5 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0041 Bigelow lässt ihre Filme aus Details heraus entstehen und vergleicht diesen Prozess mit der Art, wie ein Maler Farbe auf eine weiße Leinwand aufbringt. Eine Analogie, die in Bigelows Biographie wurzelt: Vor ihrer Filmkarriere studierte sie Malerei. „In painting, there are no preconceived notions of what’s possible. You’re always starting with a blank canvas. And that’s what’s given me strength.“ [3, 7. Abs.] In diesen Statements stecken kreative Strategien zum Umgang mit Unsicherheit, die im Kern universell und auch jenseits von Filmprojekten für künstlerische Arbeit typisch sind. Ziel dieses Beitrages ist es, das Potenzial des künstlerischen Mindsets im Projektmanagement aufzuzeigen. Ausgehend vom Cynefin-Framework, der auf geeignete Handlungsmuster bei verschiedenen Graden von Unsicherheit verweist, stellt er Parallelen im künstlerischen Denken und Handeln vor und ordnet sie als Strategien zu Bewältigung von Unsicherheit und Modellierung der Realität ein. Aus den Eigenheiten des künstlerischen Prozesses werden Elemente eines künstlerischen Sensemaking abgeleitet, die auf konventionelles Projekt- und Krisenmanagement übertragen werden können. Unsicherheit als Kreativitätskatalysator Kritische Situationen, in denen die Verantwortlichen unter Zeitdruck und Informationsdefiziten handeln müssen, lassen sich im Projektmanagement kaum vermeiden, denn Projekte sind mit mehr oder weniger großer Unsicherheit verbunden. Wenn diese Unsicherheit so gravierende Ausmaße annimmt, dass sich weder die Ausgangssituation noch geeignete Handlungsalternativen vernünftig beurteilen lassen, entfaltet sich ein Krisenszenario, das die Ziele der Beteiligten und ihre Beziehungen untereinander akut gefährdet. In Krisen verschärfen sich Zeit- und Entscheidungsdruck; Zögern und Fehlentscheidungen haben existenzbedrohende Konsequenzen [4]. Unerwartete Ereignisse sind mit Planung nicht zu bewältigen. Sie erfordern nicht nur Flexibilität im Umgang mit Projektmanagementstandards und Routinen, sondern darüber hinaus auch Offenheit für unkonventionelle, situationsadäquate Lösungen [5, 6]. Erfahrene Projektmanager setzen auf Intuition und implizites Wissen, um handlungsfähig zu bleiben: Sie improvisieren [7] und nutzen damit einen Handlungsmodus, der in Tanz, Theater und Musik als Aufführungs- und Recherchepraxis eine wichtige Rolle spielt. Künstler sind zu Vorbildern für Innovation und Leadership geworden [8, 9], weil sie als kreative Berufsgruppe schlechthin gelten. Sie sind in der Lage, das Unbekannte und Unerwartete in neuartige Werke zu verwandeln. Unsicherheit und Ambiguität auszuhalten und kreativ zu bewältigen, ist eine notwendige Voraussetzung für künstlerisches Schaffen. Das hat den künstlerischen Prozess zur Blaupause für agile Methoden und disruptive Innovation gemacht [10, 11]. Über Handlungsmodelle aus dem Management lassen sich Besonderheiten künstlerischer Arbeitsweisen mit Projektmanagement verbinden. Kreatives Handeln im Cynefin In kritischen Situationen müssen Verantwortliche unter Zeitdruck Entscheidungen treffen, die eine hohe Tragweite haben können. Das Cynefin-Framework-- ausgesprochen kə'nɛvɪn aus dem walisischen für „Habitat“- - ist ein von Edward Snowden entwickeltes Sensemaking-Modell, das Entscheidern hilft, Situationen und Problemstellungen nach dem Grad ihrer Unsicherheit bzw. Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen einzuordnen und einen passenden Handlungsmodus zu finden. Der Begriff Cynefin verweist darauf, dass Entscheider sich mit vielfältigen Umwelteinflüssen und Wissenskategorien auseinandersetzen müssen, ohne diese vollständig rational erfassen zu können. Cynefin hat seine Wurzeln im Wissensmanagement, lässt sich aber auch auf Projektmanagement beziehen [12, 13, 14]. Der ursprüngliche Cynefin-Framework hat vier situative Bereiche: einfach ( simple ), kompliziert ( complicated ), kom- Abbildung 1: Domänen im Cynefin-Framework [in Anlehnung an 14, S. 72] Reportage | Projektmanagement mit künstlerischem Mindset 6 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0041 plex ( complex ) und chaotisch ( chaotic ). Jedem dieser Bereiche ist ein bestimmter Ansatz der Entscheidungsfindung, ein bestimmtes Handlungsmuster zugeordnet (siehe Abbildungen 1 und 2). Eine Situation ist einfach, wenn das Problem klar definiert ist und eine eindeutige, etablierte Lösung vorliegt. Da Problemursachen und Handlungsfolgen offensichtlich sind, orientiert sich das Handeln an einer problemadäquaten Best Practice. Das Problem wird erkannt ( sense ), in ein Schema eingeordnet ( categorize ) und mit einer passenden Reaktion gelöst ( respond ). Imperative für das Projektmanagement sind eine geradlinige Kommunikation und die Durchsetzung von Richtlinien und Routinen. Eine Situation ist kompliziert, wenn Zeit und Expertise erforderlich sind, um das Problem zu verstehen, und aus mehreren möglichen Alternativen eine geeignete Lösung auszuwählen. Es bestehen klare Ursache-Wirkungszusammenhänge, die jedoch nicht für jedermann ersichtlich sind. Das Handeln basiert daher auf einer Good Practice. Das Problem wird erkannt ( sense ), analysiert ( analyze ) und mit geeigneten Maßnahmen adressiert ( respond ). Komplizierte Probleme sind vor allem in Zusammenarbeit mit Experten gut lösbar. Eine komplexe Situation ist dadurch charakterisiert, dass sowohl das Problem selbst als auch seine Lösung unbekannt sind. Da sich Kausalitäten erst im Nachhinein erschließen, ist das Handeln von Experimentieren geprägt. Durch Versuch und Irrtum werden so lange Muster identifiziert ( emergent practice ), bis sich Lösungen abzeichnen und die Situation nur noch kompliziert ist. Auf ein erstes Sondieren ( probe ) und das Erkennen von Effekten ( sense ) folgt eine Aktion ( respond ). Bei komplexen Problemen sind flexible, ergebnisoffene Prozesse mit intensiver Interaktion, Offenheit für Meinungsvielfalt, gezieltem Perspektivwechsel und Fehlertoleranz erfolgversprechender als starre Planung. Chaotische Situationen zeichnen sich durch völlige Unkenntnis von Problem und Lösung aus. Ursache-Wirkungszusammenhänge sind und bleiben unbekannt, weil sie sich schnell verändern. Chaotische Lagen sind vorübergehende Zustände, da sich im Laufe der Zeit von selbst Strukturen herausbilden, doch zunächst liegen Lösungswege völlig im Dunkeln. Das Handeln zielt daher nicht darauf, die beste Lösung auszuwählen, sondern eine ganz neuartige zu finden, die funktioniert ( novel practice ). Die Sequenz beginnt mit einer Sofortmaßnahme, die ein Minimum an Ordnung und Stabilität wiederherstellt ( act ). Auf ein Assessment der daraus entstandenen Situation ( sense ) folgen weitere Maßnahmen ( respond ), die darauf abzielen, die Lage in den Bereich Komplexität zu bringen. Für das Management bedeutet die Konfrontation mit Chaos sofortiges Handeln und klare Topdown-Kommunikation. simple known knowns best practice sense-- categorize-- respond complicated known unknowns good practice sense-- analyse-- respond complex unknown unknowns emergent practice probe-- sense-- respond chaotic unknowables novel practice act-- sense-- respond Abbildung 2: Problemlagen und Handlungsmuster im Cynefin-Framework [14] Das Vorgehen, das das Cynefin-Framework für komplexe Situationen empfiehlt, ist in der soziologischen Handlungstheorie u. a. unter den Begriffen kreatives Handeln [15] und erfahrungsgeleitet-subjektivierendes Handeln [16] geläufig. Es zeichnet sich dadurch aus, dass sowohl die Ziele als auch die Wege, die dorthin führen, nicht vorab festgelegt werden, sondern sich erst in einem experimentellen, quasi spielerischen Handlungsprozess entwickeln [16]. Ziele und Handlungen konkretisieren sich, indem die Akteure eine Situation interpretieren, verschiedene Handlungsalternativen testen und aus ihrer Erfahrung neue Handlungsziele entstehen lassen [15]. Das Konzept des erfahrungsgeleitet-subjektivierenden Handelns, das herkömmliche Projektmanagement-Ansätze ergänzen soll, stellt die subjektive Wahrnehmung von Ereignissen in den Mittelpunkt. Nicht objektivierbare Verhaltensrichtlinien und Pläne lenken die Aktivitäten, sondern die individuelle Wahrnehmung und Reflexion der Situation. In einem fortlaufenden Wechselspiel zwischen Wahrnehmung und Handlung entwickelt sich das Vorgehen schrittweise, organisch, intuitiv und aus dem Moment heraus, so dass sich der Möglichkeitsraum erweitert und kreative Lösungen entstehen, die mit reiner Planung nicht zugänglich gewesen wären [6]. Bei einem Plädoyer für erfahrungsgeleitet-subjektivierendes Handeln kommen zwangsläufig Künstler ins Blickfeld, da sich künstlerische Arbeit in genau diesem Handlungsmodus vollzieht. Künstler liefern nicht nur Anschauungsmaterial für das probe-sense-respond der Komplexitätsbewältigung im Cynefin-Framework, sondern sogar für sofortiges Handeln im Sinne eines act-sense-respond angesichts chaotischer Zustände. Mit der kunstbasierten Analogie lässt sich der abstrakte Modellrahmen veranschaulichen und in Empfehlungen für das Sensemaking in Projekten übersetzen. Kunst als Chaos- und Komplexitätsbewältigung Unabhängig von der Kunstgattung verlaufen künstlerische Prozess ergebnis- und prozessoffen. Künstler beginnen die Arbeit an einem Werk mit einer Absicht und einem Thema. Dabei steht eine bestimmte Frage oder ein Problem im Raum, deren Lösung zunächst ebenso unvorstellbar ist wie die Arbeitsschritte, die zum abgeschlossenen Werk führen. Zwar bewegen sich Künstler vor allem in der darstellenden Kunst und Musik unter organisatorischen Rahmenbedingungen wie Zeit- und Raumplänen, doch für den Kern ihrer schöpferischen Arbeit gibt es weder ein vorab definiertes Ergebnis noch ein Prozessschema oder einen Plan. Künstlerische Ziele werden während des Arbeitsprozesses gefasst und modifiziert und in einem flexiblen Arbeitsstil verfolgt [17]. Die weiße Leinwand oder der leere Raum, mit der Künstler zu Beginn einer Arbeit konfrontiert sind, hat als weitgehend offene Situation chaotischen Charakter. Einen Anfang finden Künstler oft mit einer willkürlichen Setzung, einem ersten Farbauftrag oder einem inhaltlichen Impuls, der eine improvisatorische Materialsammlung anstößt, die weiterführt. Reportage | Projektmanagement mit künstlerischem Mindset 7 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0041 Künstler zwingen dem entstehenden Werk keine Absichten auf. Vielmehr ist es das Material, das Fragen aufwirft und den Prozess leitet [18, 19]. So sind es beispielsweise der Werkstoff in der bildenden Kunst, der Text im Schauspiel und der Körper im Tanz, die durch den Prozess führen. Künstler denken also in einem Medium. Die Idee, mit der der künstlerische Prozess beginnt, wird in diesem Medium erkundet und reflektiert. Sie nimmt eine konkrete Form an, während Künstler einen Dialog mit dem Material führen und schrittweise zum endgültigen Werk gelangen. Daher gibt es keinen objektiven, rationalen Ansatz und kein Muster für den künstlerischen Prozess. Er entwickelt sich aus der ganzheitlichen Wahrnehmung des Augenblicks und in der Reaktion auf das „Verhalten“ des entstehenden Werks [17, 19]. Die Arbeit am Material ist ein zyklisches Wechselspiel von Handlung und Wahrnehmung, in dem die Wahrnehmung dominiert. In diesem Prozess der Erkundung findet ein ständiger Wechsel zwischen Handeln und intuitiver Reflexion über die kontinuierliche Veränderung des Materials statt. Die Entscheidungsfindung ist in der Komplexität des künstlerischen Prozesses kein Ausdruck von Planung, sondern das Ergebnis einer Interaktion zwischen Künstler und Werk [17, 19]. Der künstlerische Prozess verläuft nicht linear. Künstler betrachten ihren Arbeitsprozess als ein Experiment, eine Suchbewegung, die zwar auf handwerklich-technischen Spielregeln und einem über Jahre erlernten Handlungsrepertoire beruht, aber abgesehen von selbstgewählten keinen inhaltlichen oder prozessualen Regeln folgt. In diesem Sinne gibt es für Künstler kein Richtig und kein Falsch, dafür aber eine große Bereitschaft zu scheitern. Arbeitskrisen sehen Künstler eher als Inspirationsquelle und Anstoß, sich von hinderlichen Denkmustern zu lösen [17]. Das künstlerische Mindset ist von Offenheit und Verspieltheit geprägt. Künstler tauchen bewusst in das Unbekannte ein, wobei sie Unsicherheiten in Kauf nehmen und sogar gezielt provozieren, um Möglichkeiten ausgiebig zu erkunden und etwas Originäres zu schaffen. Sie nähern sich sowohl bekannten als auch ungewohnten Situationen mit einer fast naiven, nicht wertenden Sichtweise und der Fähigkeit, sich überraschen zu lassen [17]. Wenn sie mit ihrer Arbeit beginnen, verzichten Künstler bewusst auf Ideen oder Konzepte. Sie ignorieren spontane Assoziationen, um sich der Gefahr der Wiederholung zu entziehen, und verwerfen naheliegende Schritte, um die ganze Bandbreite an Möglichkeiten zu erkunden [17, 19]. Sie vermeiden schnelle Wertungen, um mit ihrem Thema und ihrem Werk Erfahrungen machen zu können, und halten den Entstehungsprozess und damit ihre Ausdrucksmöglichkeiten so lange wie möglich offen. Für Künstler ist diese Art von absichtslosem Spiel eine Möglichkeit, Komplexität zu reduzieren [17, 20], weil sie wissen, dass sich mit der Zeit Strukturen und Bedeutungen herauskristallisieren, und sie über die nötige ästhetische Kompetenz verfügen, diese Strukturen zu erkennen. Damit vollziehen Künstler eine besondere Form des Sensemaking. Künstlerisches Sensemaking Sensemaking bezeichnet einen sozial konstruierten Vorgang, in dem Individuen und Gruppen eine „Vision“ oder ein mentales Modell ihrer Umwelt entwickeln. In Organisationen wird Sensemaking durch Ereignisse ausgelöst, die Routinen stören und einen Überschuss an Information oder Informationsdefizite, also Ambiguität oder Unsicherheit mit sich bringen. In solchen Situationen filtern Menschen Signale aus ihrer Umwelt, versuchen diese Informationen einzuordnen und sich dazu zu verhalten [21]. Als Sensemaking-Modell impliziert das Cynefin-Framework diese unterschiedlichen Wege, Realität zu interpretieren und zu gestalten. Sensemaking in Projekten zielt normalerweise auf Übereinstimmung, Objektivität und Verlässlichkeit im Sinne von Prognosen und Kontrolle und ist vor allem an Ratio und Sprache gebunden [22]. Künstlerisches Sensemaking dagegen ist Sinnfindung in einem Medium, das nicht zwangsläufig mit Sprache verbunden ist. Für den Transfer auf Projektmanagement sind fünf Elemente des künstlerischen Sensemaking Abbildung 3: Künstlerisches Sensemaking Reportage | Projektmanagement mit künstlerischem Mindset 8 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0041 interessant: Bifokalität, Multivalenz, Ambidextrie, Improvisation und Embodiment (siehe Abbildung 3). Bifokalität bezeichnet die Fähigkeit, kontinuierlich zwischen verschiedenen Sehweiten zu wechseln. Es ist ein Wechsel zwischen Detail und ganzheitlicher Wahrnehmung und eine Bewegung zwischen unterschiedlichen Sichtweisen auf ein Problem. Sie unterstützt die Früherkennung schwacher Signale ( weak signals ) und die Wahrnehmung von Aspekten an den Rändern der Wahrnehmung, die normalerweise unbeachtet bleiben. Bifokalität umfasst die Bereitschaft, andere, womöglich völlig konträre Perspektiven einzunehmen. Der gezielte Perspektivwechsel kann mit Metaphern und Analogien zur ursprünglichen Situation oder auch durch einen Bruch mit gewohnten Rollen und Schemata provoziert werden [23]. Multivalenz ist ein wesentliches Merkmal kollektiver künstlerischer Praxis, in der die Vielfalt von Wertvorstellungen und Verhaltensmustern geschätzt und in einem partizipativen Prozess ausbalanciert wird. Es geht um ein Spiel mit Ideen und Interessen der verschiedenen Akteure, in dem es nicht den einen festgelegten Rahmen gibt, um Umweltinformationen zu interpretieren und einzuordnen. Das Denken ist keiner selektiven Wahrnehmung unterworfen und nicht auf bestimmte Facetten einer Problemstellung beschränkt. Vorurteile und ein Denken in Kategorien von Richtig und Falsch weichen größtmöglicher Deutungsoffenheit, mit der organisch ein Gesamtbild der Lage entsteht [24]. Ambidextrie steht für das Nutzen bewährter Konzepte ( exploit ) und gleichzeitige Ausloten neuer Lösungen ( explore ) [25]. Künstlerisches Handeln beruht immer auf vorangegangenen Erfahrungen und einem persönlichen Repertoire an Ressourcenplanung, die funktioniert Projektportfolio-Management Ressourcenplanung Zeit-/ Leistungserfassung Kosten-Controlling Die Testumgebung in der Cloud steht für Sie bereit Scheuring AG CH-4313 Möhlin � +41 61 853 01 54 www.scheuring.ch � info@scheuring.ch www.ressolution.ch Anzeige Handwerk und Ausdrucksvermögen. Zugleich stellt es des Status quo systematisch in Frage, so dass sich ein Zusammenspiel aus Expertise und entdeckendem Lernen entfaltet [24, 26]. Die Auseinandersetzung mit einem Thema oder einem Problem beginnt mit jedem Werk von neuem und hat jedes Mal einen ungewissen Ausgang, weil Künstler bewährte Denkschemata und erfolgreiche Lösungen bewusst ignorieren. Schauspieler, Tänzer und Musiker nutzen Improvisation nicht nur als Aufführungspraxis, sondern auch als Rechercheinstrument, das eine vorurteilsfreie Materialsammlung zu einem Thema und damit mögliche Lösungsfacetten generiert. In diesem Prozess sind Wahrnehmung, Interpretation und spontane Kreation miteinander verwoben; auf Retrospektion folgt unmittelbar die nächste Handlung [27]. Improvisation erfordert ein „Ja, und- …“-Mindset, das offen für Impulse ist und mit der Bereitschaft einhergeht, diese Impulse bedingungslos aufzugreifen und spielerisch weiterzuführen. Obwohl Improvisation auf Expertise und vorher festgelegten Handlungsparametern beruht, entwickelt sie sich letztlich intuitiv aus dem Moment heraus [28]. Im künstlerischen Sensemaking-Prozess spielt Embodiment eine große Rolle, denn künstlerische Arbeit basiert zu einem großen Teil auf implizitem Wissen, das an den Körper und an Bewegung gebunden ist. Ein „Gespür“ für das Material ist Ausdruck kinästhetisch-körperlicher Intelligenz bzw. verkörperter Kognition, die nicht verbal vermittelt werden kann [29]. Künstlerisches Sensemaking geht über kognitive Informationsverarbeitung im Sinne von Kombinationsfähigkeit und divergentem Denken weit hinaus, indem es Gefühle, Körperwahrnehmung und sensorisches Wissen in logisches Denken integriert [22]. Für sich genommen ist keines der Elemente des künstlerischen Sensemaking wirklich neu, doch wenn alle Facetten zu einem Paradigma kombiniert werden, resultiert ein origineller Ansatz, der auch für das Projektmanagement fruchtbar gemacht werden kann. Alle fünf Elemente lassen sich mit kunstbasierten Methoden vermitteln bzw. trainieren. Besonderes Potenzial steckt in der Facette Embodiment, die ein Sensemaking jenseits von Sprache und Ratio impliziert und im Projektmanagement-Diskurs bisher völlig vernachlässigt wird. Literaturverzeichnis [1] Gentry, Rick: Clint Eastwood. In: Duchovnay, Gerald (Hrsg.): Film Voices. Interviews from Post Script. State University of New York Press, New York 2004, S. 63-90 [2] Elick, Ted: K-19-- The Windowmaker. A film by Kathryn Bigelow. In: Keough, Peter (Hrsg.): Kathryn Bigelow. Interviews. University Press of Mississippi, Jackson 2013, S. 120-128 [3] Natale, Richard: Her underwater canvas. Los Angeles Times, 14. 07. 2002, https: / / www.latimes.com / archives / la-xpm-2002-jul-14-ca-natale14-story.html, Stand: 12. 05. 2021 [4] Wiener, Anthony J./ Kahn, Herman: Crisis and arms control. Hudson Institute, Harmon-on-Hudson 1962 [5] Klein, Louis / Biesenthal, Christopher / Dehlin, Erlend: Improvisation in project management. A praxeology. International Journal of Project Management 2 / 2015, S. 267-277 Reportage | Projektmanagement mit künstlerischem Mindset 9 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0041 [6] Böhle, Fritz / Heidling, Eckhard / Schoper, Yvonne: A new orientation to deal with uncertainty in projects. International Journal of Project Management 7 / 2016, S. 1384-1392 [7] Leybourne, Stephen / Sadler-Smith, Eugene: The role of intuition and improvisation in project management. International Journal of Project Management 6 / 2006, S. 483-492 [8] Adler, Nancy J.: The arts & leadership. Now that we can do anything, what will we do? Academy of Management Leadership & Education 4 / 2016, S. 486 -499 [9] Lally, Elaine: Practising innovation. The power of the artist. In: Lally, Elaine / Ang, Ien / Anderson, Kay (Hrsg.): The art of engagement. Culture, collaboration, innovation. University of Western Australia Publishing, Perth 2011, S. 99 -117 [10] Austin, Robert D./ Devin, Lee: Artful making. What managers need to know about how artists work. Prentice Hall, Hoboken 2003 [11] Bozic, Nina / Olsson, Bengt K.: Culture for radical innovation. What can business learn from creative processes of contemporary dancers? Organizational Aesthetics-1 / 2013, S. 59-83 [12] Snowden, David J.: Complex acts of knowing. Paradox and descriptive self-awareness. Journal of Knowledge Management 2 / 2002, S. 100 -111 [13] Kurtz, C[ynthia] F./ Snowden, David J.: The new dynamics of strategy. Sense-making in a complex and complicated world. IBM Systems Journal 3 / 2003, S. 462-483 [14] Snowden, David E./ Boone, Mary E.: A leader’s framework for decision making. Harvard Business Review 11 / 2007, S. 68-76 [15] Joas, Hans: Die Kreativität des Handelns. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1992 [16] Böhle, Fritz / Bürgermeister, Markus / Porschen, Stephanie: Innovation durch Management des Informellen. Künstlerisch, erfahrungsgeleitet, spielerisch. Springer, Heidelberg 2012 [17] Brater, Michael / Freygarten, Sandra / Rahmann, Elke / Rainer, Marlies: Kunst als Handeln- - Handeln als Kunst. Was die Arbeitswelt und Berufsbildung von Künstlern lernen können. W. Bertelsmann, Bielefeld 2011 [18] Botella, Marion / Glaveanu, Vlad / Zenasni, Franck / Storme, Martin / Myszkowski, Nils / Wolff, Marion et al.: How artists create. Creative process multivariate factors. Learning and Individual Differences August / 2013, S. 161-170 [19] Glaveanu, Vlad / Lubart, Todd / Bonnardel, Nathalie / Botella, Marion / de Biaisi, Pierre-Marc / Desainte-Catherine, Myriam et al.: Creativity as action. Findings from five creative domains. Frontiers in Psychology 2013, Artikel 176 [20] Jacobs, Jessica: Intersections in Design Thinking and Art Thinking. Towards interdisciplinary innovation. In: Creativity 1 / 2018, S. 4 -25 [21] Weick, Karl E.: Sensemaking in organizations. Sage, Thousand Oaks 1995 [22] Cunliffe, Ann / Coupland, Chris: From hero to villain to hero. Making experience sensible through embodied narrative sensemaking. In: Human Relations 1 / 2012, S. 63 -88 [23] Barry, Daved / Meisiek, Stefan: Seeing more and seeing differently. Sensemaking, mindfulness, and the workarts. Organization Studies 11 / 2010, S. 1505-1530 [24] Alexandre, Jane M.: Dance leadership. Theory into practice. Palgrave Macmillan, London 2017 [25] O’Reilly, Charles A./ Tushman, Michael L.: Ambidexterity as a dynamic capability. Resolving the innovator’s dilemma. Organizational Behavior 2008, S. 185 -206 [26] Bucic, Tania / Robinson, Linda / Ramburuth, Prem: Effects of leadership style on team learning. Journal of Workplace Learning 4 / 2010, S. 228-248 [27] Weick, Karl E.: Introductory essay. Improvisation as a mindset for organizational analysis. Organization Science 5 / 1998, S. 543-555 [28] Vera, Dusya / Crossan, Mary: Improvisation and innovative performance in teams. Organization Science 3 / 2005, S. 203-224 [29] Hämäläinen, Soili: The meaning of bodily knowledge in a creative dance-making process. In: Rouhiainen, Leena (Hrsg.): Ways of knowing in dance and art. Theatre Academy, Helsinki 2007, S. 56-78 Eingangsabbildung: © iStock / DrAfter123 Projektmanager, die in einem gebührenfreien kunstbasierten Workshop den Umgang mit Unsicherheit trainieren möchten, nehmen bitte per E-Mail Kontakt mit der Verfasserin auf. Die Workshops finden im Rahmen des Forschungsprojekts „Arts-based Learning von Soft Skills im Projektmanagement (AL-Pro)“ in Kooperation mit der GPM statt. Prof. Dr. Berit Sandberg Prof. Dr. Berit Sandberg ist seit 2003 Professorin für Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin. Sie entwickelt Konzepte für Arts-based Learning und Artful Leadership und hat 2019 das Label Art Hacking® gegründet. Internet: art-hacking.com/ eMail: berit.sandberg@htw-berlin.de Orcid ID: 0000-0002-2097 - 0368 10 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0042 Projekte im virtuellen Space-- ohne zeitliche und räumliche Limits „Upload“ für Projekte! Oliver Steeger Nach der Pandemie werden Mitarbeiter in die Büros zurückkehren. Projektteams treffen sich wieder „face-to-face“. Dennoch: Fachleute erkennen einen Paradigmenwechsel bei Kommunikation, Zusammenarbeit und Lernen. Homeoffices, verteiltes Arbeiten und digitale Kollaboration werden im Arbeitsalltag bleiben. Markus Herkersdorf, Spezialist für virtuelles Lernen und Kollaboration, erkennt einen fundamentalen „Shift“ in der Zusammenarbeit-- von dem alle nach der Pandemie profitieren werden. Ginge es nach ihm, würden sich Mitarbeiter künftig in virtuellen Spaces treffen, die bisher ungeahnte Möglichkeiten für Zusammenarbeit und Lernen eröffnen. Im Interview erklärt er, weshalb sich das Rad der Zeit nicht zurückdrehen lassen wird, wie Konzerne wie AUDI oder Bayer mit den neuen Lösungen bereits arbeiten-- und weshalb wir uns dennoch weiterhin auch in der realen Welt treffen werden. Remote und Digital-- das wird das neue Normal. Viele Experten sind überzeugt: Digitale Kollaboration wird nach der Pandemie weiterhin zum Alltag gehören. Vielfach wird die Videokonferenz durch noch bessere Tools für digitale Kommunikation abgelöst, etwa durch virtuelle Räume, in denen Menschen fast wie in der realen Welt kommunizieren. Stehen wir Ihrer Einschätzung nach vor einer Entwicklung, die das persönliche Treffen in einem Besprechungsraum obsolet macht? Markus Herkersdorf: Nein, das persönliche Zusammenkommen wird mit Sicherheit nicht verschwinden. Direkt nach Ende der Pandemie werden die Menschen natürlich an ihre Arbeitsplätze zurückkommen; die Büros werden voll sein. Langfristig dagegen gilt: Wer sich persönlich mit seinem Team treffen will, wird dies zu begründen haben. Mit welchen Begründungen etwa? Solche Zusammenkünfte werden vielleicht eine Art „Quality time“ sein. Man wird Beziehungen zu pflegen, Teams aufbauen und formen, vielleicht auch an Messen teilnehmen oder gemeinsam Erfolge feiern. Wir werden nicht vereinsamen. Aber-- wir werden nicht an einem physischen Ort zusammenkommen, um etwa Projektdetails zu erörtern. Das kann man sehr gut digital und remote erledigen. Die Pandemie hat gezeigt, dass man von zuhause sehr gut arbeiten kann. Unternehmen haben gelernt, dass sie durchaus erfolgreich sein können- - selbst dann, wenn ihre Büros leer sind. Physische Präsenz und das An-einem-Ort-Zusammenkommen der Menschen ist offenbar keine notwendige Bedingung für Unternehmenserfolg. Nicht alle waren begeistert, über Monate im Homeoffice zu sitzen und an Videokonferenzen teilzunehmen. Mitarbeiter und Manager nutzten diese digitalen Kommunikationstools, weil es nicht anders ging. Das ist richtig. Dennoch ist die breite Akzeptanz hinsichtlich Remote Work und Remote Kommunikation jetzt vorhanden-- und zwar auf allen Feldern, angefangen von Schulung und Training bis hin zu Teamkollaboration. Auch wenn es nach wie vor Skepsis gibt: Viele Menschen erklären sich zur Remote Arbeitsweise bereit, auch viele, die vorher diese Art der Arbeit abgelehnt haben. Sogar Unternehmen erkennen die Vorteile. Es kostet sehr viel Geld, Menschen in die Metropolen zu bringen und dort arbeiten zu lassen. Zudem sind die Raumreserven in der Regel knapp. Aus Platzmangel können viele Besprechungen überhaupt nicht stattfinden. Man muss häufig ausweichen-- was zu zusätzlichen Kosten führen kann. Das sind ja häufig geteilte Kosten. Das Unternehmen stellt Büros, die Mitarbeiter zahlen für das Pendeln-… Reportage „Upload“ für Projekte! DOI 10.24053/ PM-2021-0042 32. Jahrgang · 03/ 2021 Reportage | „Upload“ für Projekte! 11 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0042 …-und gerade die Mitarbeiter zahlen nicht nur mit Geld, sondern auch mit Lebenszeit und Familienzeit. Manche verbringen täglich zwei Stunden und mehr, um zum Büro zu pendeln. Geschäftsreisende müssen oft morgens um vier Uhr aufstehen, um den ersten Zug am Bahnhof zu nehmen- - und um spät am Abend wieder heimzukehren. Das alles wegen einer zweistündigen Besprechung. Das kostet ja nicht nur Zeit, sondern spielt auch stark in Fragen von Klimaschutz und Nachhaltigkeit hinein. Unternehmen meinen es heute mit Nachhaltigkeit ernst, das höre ich in Gesprächen immer häufiger. Umweltschutz ist längt kein Lippenbekenntnis mehr. Aber für mich sind Kosten, Zeitersparnis und Nachhaltigkeit nicht einmal die wichtigsten Vorteile digitaler Kommunikation. Sondern? Aus meiner Sicht bildet Agilität den Dreh- und Angelpunkt. Innovative digitale Kommunikation unterstützt agiles Arbeiten. Unsere Wirtschaft und Gesellschaft haben sich in den vergangenen Jahren stark beschleunigt. Diese Beschleunigung und Dynamik verträgt sich nicht gut mit der Pflicht zur Präsenz. Augenblick! Agiles Projektmanagement setzt intensive Kommunikation im Team und mit Auftraggebern voraus. Da gibt es sehr engmaschige Kommunikationsschleifen, manchmal im Tagesrhythmus. Gerade beim agilen Projektmanagement ist es ein Vorteil, wenn das Team zusammensitzt. Digitale Kommunikation ist aus meiner Sicht deutlich besser für agiles Arbeiten geeignet als unsere klassische Präsenzkultur. Wie gesagt, Menschen werden nach wie vor zusammenkommen- - aber nicht immer physisch, etwa in einem Büro und einem Konferenzraum. Teams können sich auch virtuell treffen, etwa in virtuellen Räumen, wie dies beispielsweise bereits bei AUDI geschieht. ( Hinweis d. Red: siehe Interview „ Unterwegs in ‚Audi spaces‘“ ) Viele Mitarbeiter berichten, dass Videokonferenzen nicht nur Wegezeit sparen, sondern auch Besprechungen effizienter machen. Man kommt schneller auf den Punkt. Man ist eher bereit, sich auch kurzfristig abzustimmen, wenn dies erforderlich scheint. Profitiert davon die agile Arbeit? Das hängt immer individuell von den Einzelnen ab. Es kann ein Vorteil sein- - wenn man richtig damit umgeht. Digitale Besprechungen sparen Zeit. Wer aber statt bislang täglich zwei Abstimmungen dann fünf oder sieben hat, wird wenig gewinnen. Weil Videokonferenzen anstrengender sind als persönliche Gespräche? Videokonferenzen sind anstrengend. Ein Beispiel: Viele Teilnehmer haben keine Kamera eingeschaltet, aus welchen Gründen auch immer. Dann schaut man auf eine Reihe mit schwarzen Kacheln-- und nicht in Gesichter. Man weiß häufig nicht, wer gerade spricht. Und man hat keine Idee, ob überhaupt noch jemand zuhört. Das heißt, die Videokonferenz ist nicht das optimale Tool für die Zukunft? Das würde ich nicht so pauschal sagen. Für schnelle Abstimmungen sind Videokonferenzen sicherlich geeignet. Aber allein mit Videokonferenzen kommen wir aus meiner Sicht nicht voran. Eben sprachen Sie von digitalen, virtuellen Räumen. Mitarbeiter treffen sich zum Beispiel mit ihrem Team in digitalen Konferenzräumen, Kaminzimmern, Messehallen oder Seminarräumen. Das wirkt alles sehr natürlich, etwa wie in Videospielen. Mit diesen virtuellen Räumen befassen Sie sich seit vielen Jahren. Sie entwickeln in Ihrem Unternehmen digitale Lösungen beispielsweise für Trainings, Schulungen oder Workshops. Wer an solch einer Besprechung im digitalen Raum teilnimmt, wird einen fundamentalen Unterschied zur Videokonferenz feststellen: Er und die anderen Teilnehmer sind nicht persönlich zu sehen, also etwa in einem kleinen Fenster auf dem Bildschirm. Man ist mit Avataren vertreten. Welche Vorteile bieten diese virtuellen Räume aus Ihrer Sicht? Im Vergleich zu Videokonferenzen bieten virtuelle Räume eine immersive Umgebung. Der Begriff Immersion beschreibt das Eintauchen in eine virtuelle Umgebung mit dem Gefühl, dass man wirklich präsent ist in diesen Räumen und tatsäch- Gesprächsrunde im virtuellen Space. Abbildung: TriCat Reportage | „Upload“ für Projekte! 12 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0042 lich an einer Besprechung, Schulung oder an einem Training teilnimmt. Das gesamte Erleben der Kommunikation und der sozialen Interaktion wirkt echt und überzeugend. Aus psychologischer Sicht wird das als „sense of presence” bezeichnet. Weshalb ist Immersion so bedeutsam? Das Gefühl der wahrgenommen virtuellen Präsenz unterstützt die Kommunikation vor allem, wenn es um mehr als reinen Faktenaustausch geht- - etwa Vertrauen aufbauen, soziale Nähe wahrnehmen oder eine Situation aus anderer Perspektive betrachten, etwa aus der von Kunden oder Nutzern. Für diese Art hat man bislang immer physische Präsenz vorausgesetzt. Präsent heißt, dass man nicht selbst im Raum ist, sondern mit seinem digitalen Stellvertreter, dem Avatar. Beispielsweise sitzt man mit den Avataren der anderen Besprechungsteilnehmer an einem Konferenztisch und diskutiert Entwürfe. Erstaunlicherweise interpretiert das menschliche Gehirn solche Avatare als real. Es wertet die Situation als echte Gesprächssituation. Das ist genau dieser „sense of presence“, den ich eben erwähnt habe. In den virtuellen Räumen kommt tatsächlich soziale Nähe auf, dies zeigt die Forschung. Man interagiert frei mit einer Gruppe, geht auf Menschen zu, spricht sie an; allein die Bewegungen der Avatare zeigen, was wir sozial ausdrücken wollen. Die menschliche Interaktion mit Körpersignalen wie Zuwendung, Annäherung, Lächeln wurde evolutionär über Jahrtausende entwickelt. Sie ist uns in Fleisch und Blut übergangen. Im virtuellen Raum kann sie ganz genutzt werden. Ebenfalls wichtig ist der Raum selbst: Die drei Dimensionen, die wir hier erleben, kommen unserem Gehirn auf vielen Ebenen entgegen. Wir kehren beim Arbeiten gewissermaßen in die dritte Dimension zurück. Inwiefern zurück in die dritte Dimension? In den vergangenen Jahrzehnten haben wir die Arbeitswelt quasi flach gemacht. Wir haben sie in Tabellen, Zeichnungen und Präsentationen gepresst. Damit kommen Menschen, die über mathematisches Abstraktionsvermögen verfügen, zurecht. Für viele andere geht aber etwas verloren. Was könnte man im Raum gewinnen? Unser Gehirn ist evolutionär auf räumliches Erkennen, Denken und Interagieren trainiert. Beispielsweise sind wir in der Lage, Informationen im Raum sehr schnell und intuitiv zu erfassen. Führen Sie sich mal den Unterschied zwischen einer Videokonferenz und einer virtuellen Besprechung vor Augen. Bei der Videokonferenz sehen Sie viele winzige Fenster mit Ihren Gesprächspartnern. Das ist zweidimensional. Dagegen sitzen Sie im virtuellen Raum mit Ihren Besprechungsteilnehmern zum Beispiel um einen Tisch. Sie können wesentlich schneller erfassen, wer gerade spricht. Sie ordnen die Stimme räumlich zu; sie kommt aus der Richtung des Sprechenden. Ein anderes Beispiel: Betreten Sie einen Raum, erfassen Sie in Sekundenbruchteilen die Situation. Sie finden schnell heraus, wie die Personen zueinanderstehen und wie die Stimmung ist. Wir wissen, was es bedeutet, wenn jemand auf uns zukommt. Das heißt, unser Gehirn ist Meister im Analysieren räumlicher Daten? Das hat man wissenschaftlich sehr gut mit Versuchen untermauert. Ein Beispiel: Stellen Sie sich ein Flugzeugcockpit mit sehr vielen Anzeigen vor. Alle Anzeigen signalisieren Normwerte, nur eine Anzeige weicht ab vom Sollwert. Es ist nun die Aufgabe, unter allen Anzeigen diejenige mit der Abweichung schnell zu erkennen. Bei rein numerischen Anzeigen ist dies schwierig. Anders bei analogen Zeigern. Man sieht sofort, welcher Zeiger in eine andere Richtung weist als alle anderen. Lebhafte Interaktion im virtuellen Raum. Menschen werden sich künftig immer häufiger „digital“ begegnen-- sei es, um zu lernen oder an einem Projekt zu arbeiten. Abbildung: TriCat Reportage | „Upload“ für Projekte! 13 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0042 Das heißt, dass wir buchstäblich Informationen verorten. Je plastischer, desto besser-- und leichter für das Gehirn. Richtig. Ein weiteres Beispiel: Stellen Sie sich einen Design- Thinking-Workshop im virtuellen Raum vor. Die Gruppe versucht, einen typischen Nutzer einer Softwarelösung zu beschreiben: Eine berufstätige Akademikerin, um die dreißig, zwei Kinder, auf dem Karrieresprung-… Solche sogenannten „Personas“ beschreibt man klassisch oft auf Pinnwänden, also mit Notizen, Fotos oder einer Zeichnung. Im virtuellen Raum kann man diese Persona auftreten lassen mit allen Attributen, die ihr zugeschrieben werden. Sie wird wirklich verkörpert. Das hat auf den Design-Thinking-Prozess einen ganz anderen Effekt als Notizen auf Papier. Zumal diese virtuelle Persona sogar auf Fragen antworten könnte-- und dies mittels KI-basierter Verhaltens- und Emotionsmodelle auch emotional. Ein weiteres Beispiel? Gerne! Nehmen wir an, Mitarbeiter sollen für die Inbetriebnahme einer Maschine geschult werden. In den virtuellen Raum können Sie einen digitalen Zwilling dieser Maschine stellen und Mitarbeiter an das dreidimensionale Modell heranführen. Sie gehen mit ihren Mitarbeitern um diese Maschine herum und erklären ihnen die Features oder interagieren sogar mit der Maschine. Das ist vor allem dann spannend, wenn die Maschine bisher nur in der Planung besteht. Ein letztes Beispiel: Angenommen, Sie wollen einen Projektmanagement-Prozess schulen, der aus vielen Einzelschritten besteht. Das wird heute viel auf Papier oder mit Folien gemacht. Stellen Sie sich vor, Sie bauen diesen Prozess dreidimensional im virtuellen Raum nach. Jeder Prozessschritt ist eine Station im Raum. Sie führen Ihre Projektmanager durch diesen Prozess- - von Station zu Station. Die meisten haben sich soeben mit Videokonferenzen arrangiert. Das, was Sie beschreiben, klingt dagegen wie ferne Zukunft, wie Science Fiction. Ich denke nicht, dass wir hier Science Fiction diskutieren. Virtualisierung ist ein starker Technologietrend. Unsere reale Welt wird immer mehr virtualisiert- - in dem Sinne, dass sie einen virtuellen Zwilling bekommt. Es gibt bereits dreidimensionale, begehbare virtuelle Modelle von Häusern oder Fertigungsanlagen. Große Tech-Konzerne haben die Vision, die gesamte Erdoberfläche dreidimensional abzubilden. Denkbar sind virtuelle, dreidimensionale Städte, sozusagen als Erweiterung realer Städte, mit völlig neuen Begegnungs-, Erlebnis- und Interaktionsmöglichkeiten. Bedenken Sie, was das an neuen Geschäftsmodellen bedeuten könnte, an sozialer Teilhabe und Zugang oder einfach nur Reduktion von Verkehr. Das alles wird nicht von heute auf morgen da sein. Doch daran wird überall auf der Welt gearbeitet. Was erwarten Sie für die nahe Zukunft? Ich denke, wir werden im virtuellen Raum mehr KI-Agenten sehen, also Avatare, die künstliche Intelligenz nutzen und uns bei der Arbeit im virtuellen Raum unterstützen. Eine Art digitaler Butler? Sagen wir: Ein Assistent. Im digitalen Raum stehen uns ja jede Menge Daten zur Verfügung. Diese KI-Agenten werden diese Daten auswerten und uns mit Informationen versorgen. Also ein Assistent, dem man beispielsweise Fragen zum Projektstatus stellen kann oder der als Coach fungiert? Gut möglich! Wir arbeiten in dahingehenden Forschungsprojekten mit. Dort entwickeln wir zum Beispiel sprachgesteuerte Avatare. Sie sind befähigt, Emotionen zu erkennen und Stakeholder für eine Projekt-Präsentation im virtuellen Space treffen? Heute schon möglich, Zugeschaltet werden können Menschen aus aller Welt. Abbildung: TriCat Reportage | „Upload“ für Projekte! 14 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0042 auszudrücken. Man hat den Eindruck, dass man im virtuellen Raum mehr einem Menschen gegenübersteht- - und nicht einem Roboter. Der Agent könnte uns begrüßen, etwas erklären oder Begleitprozesse abnehmen. Natürlich verhält er sich noch nicht wie ein Mensch. Davon sind wir noch entfernt. Aber die heutigen digitalen Avatare haben bereits eine hinreichend gute Qualität, Menschen zu unterstützen. Haben Sie dafür ein aktuelles Beispiel? Für Bayer haben wir eine Lösung für On-Boarding entwickelt, also dafür, Mitarbeiter mit dem Unternehmen bekanntzumachen. Früher hat man dafür dutzende von Folien mit Organigrammen und Tabellen verwendet. Heute werden neue Mitarbeiter durch ein virtuelles Gebäude im typischen Bayer CI geführt. Dieses Gebäude bildet die Konzernstruktur ab; jede Division hat einen eigenen Raum. Charakteristische visuelle und akustische Eindrücke schaffen sofort eine unmittelbare Bindung zu dieser Division. In dem Raum für Agrarwirtschaft etwa bewegt man sich durch eine typische Landwirtschaftsumgebung. An diesen Eindrücken werden Informationen aufgehängt und beispielsweise über ein Video oder eine interaktive Landkarte vermittelt. Man kann dreidimensionale Produkte erleben oder an einem Wissensquiz teilnehmen. Das Lernen wird also zum echten und einprägsamen Erlebnis, begleitet und geführt durch einen digitalen Avatar-- dem persönlichen Guide. Denken wir diese KI-Agenten mal weiter. Sehen Sie die Möglichkeit, dass beispielsweise Project Management Offices solche virtuellen KI-Agenten als Berater für Projektmanager einsetzen? Das ist natürlich eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. Vielleicht könnte solch ein Avatar mit objektivierbaren Standard-Themen betraut werden, etwa der Vermittlung von prozessorientiertem Basiswissen, Best Practices, Kennzahlen und unternehmenstypischen Vorgehensweisen. Doch ein KI-Agent wird nicht Verhalten bewerten oder Situationen in allen Dimensionen analysieren und zu Entscheidungen kommen. Da sind Menschen nach wie vor unschlagbar. Das werden sie auch noch lange noch bleiben. Vorhin haben Sie davon gesprochen, dass die physische Welt virtualisiert wird. Sie bekommt einen digitalen Zwilling im virtuellen Raum, etwa eine Maschine. Wäre es denkbar, dass Projektteams künftig in virtuellen Räumen Maschinen entwickeln mit Hilfe solcher virtuellen Modelle? Quasi direkt am Modell arbeiten, Experimente durchführen und Studien machen? Hier muss man heute noch unterscheiden. Virtueller Entwurf, virtuelles Prototyping oder virtuelle Inbetriebnahme sind bereits gängige Verfahren. Aufgrund der vielfältigen, in Teilen hochpräzisen und komplexen Anforderungen sind dies aber noch ausgesprochene Spezialistenthemen mit anspruchsvoller Simulationssoftware. Denken Sie etwa an Temperatur- oder Schwingungsverhalten! Wo diese extreme Genauigkeit und hohe Detailierungstiefe nicht erforderlich ist, ergeben sich mit vereinfachten digitalen Zwillingen in virtuellen Umgebungen breite Einsatzmöglichkeiten. Audi arbeitet im virtuellen Trainingscenter-- einer virtuellen Akademie-- für Schulungen mit einem virtuellen Hochvolt-Fahrzeug. Das gleiche Fahrzeug könnte aber auch in anderen virtuellen Raumumgebungen stehen-- etwa auf einer virtuellen Online-Messe oder im virtuellen Autohaus. Das heißt-- der virtuelle Raum ist wie eine Plattform: Potenziell unendlich gestaltbar und unendlich skalierbar. Ja. Haben Sie einmal einen virtuellen Raum, können Sie den jederzeit ändern. Ob Sie darin Führungskräfte zum Kamingespräch einladen, Workshops durchführen, Schulungen, Verkaufsveranstaltungen oder Workshops für Problemlösungen-- das spielt anders als in der realen Welt gar keine Rolle. Im Grunde können Sie die gesamte Wertschöpfungskette eines Die virtuelle „Begehung“ von Fabriken ist keine Zukunftsmusik mehr. Abbildung: TriCat Reportage | „Upload“ für Projekte! 15 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0042 Unternehmens in den digitalen Raum auslagern- - mit Ausnahme der Produktion. Wie bitte? Fast die gesamte Wertschöpfungskette? Wir können nahezu alle Phasen der Produktentwicklung abbilden: Die erste Phase mit dem Entwurf des Produkts sowie der Marktanalyse und der Kundenbeteiligung. Die zweite Phase ist die Designphase, in der erste Modelle entstehen. Dann werden die Modelle verifiziert, es wird entwickelt und experimentiert. Dann geht es zum Prototyping. Parallel dazu bildet man Vertriebsmitarbeiter aus und bezieht das Marketing ein. Später geht es in die Herstellung, und dann geht’s weiter in den Verkauf. Heute ist dies oft das Ende-- bis der Kunde dann in drei Jahren oder noch später Interesse am nächsten Fahrzeug hat. Mit virtuellen Konzepten entstehen hingegen völlig neue Möglichkeiten für kontinuierliche Kunden Touch Points und erlebnisorientierte Kundenbindung sowie erweitertes Servicegeschäft. Mit Ausnahme der Fertigung und Montage gibt es keinen Bereich, den man nicht virtualisieren könnte. Wie gesagt, könnte. Es wird noch Jahre dauern, bis sich dieser Wandel breit durchsetzen wird. Doch ich gehe fest davon aus, dass die Arbeit nicht nur zeitlich entgrenzt wird, sondern auch räumlich. Räumliche Entgrenzung- - wie darf ich dies verstehen? Wir bekommen neue Möglichkeiten. Ein Beispiel: In der frühen Designphase kann man die Kunden einbeziehen. Man kann weltweit das Publikum in den virtuellen Raum holen und um Feedback zum digitalen Zwilling bitten. In der Spieleindustrie ist heute so etwas bereits üblich. Spieleentwickler bauen kontinuierlich für eine repräsentative Auswahl von Spielern-- bis zu einigen tausend! -- ein neues Feature ein und beobachten deren Reaktion. Kommt dieses Feature nicht gut an, wird die Weiterentwicklung sofort gestoppt. Da wird nicht gefragt, weshalb das neue Feature keine Resonanz gefunden hat. Man nimmt das Ergebnis zur Kenntnis und macht einfach mit einem anderen Feature weiter. Kommt es gut an, dann wird das Feature weiterentwickelt-… Das ist lupenreine agile Projektarbeit. Bei Scrum werden nach Sprints dem Kunden funktionsfähige Zwischenergebnisse vorgestellt. Sie können global und vor zahlenmäßig großem Publikum präsentieren. Diese Abläufe kann man im virtuellen Raum sogar automatisieren. Künstliche Intelligenz kann die Feedback- Ergebnisse auswerten. Mit einer Präsenzmaßnahme wäre dies kaum möglich- - nicht mit dieser Reichweite, qualitativ wie quantitativ. Sie sagten, auch die weitere virtuelle Produktentwicklung profitiert von der räumlichen Entgrenzung-… Anders als ein Büro ist der virtuelle Raum nicht unbedingt an ein einzelnes Unternehmen gebunden. Unternehmen können beispielsweise Zulieferer einbeziehen und auch räumlich ins Projekt holen. Oder das Unternehmen kann weltweit gesuchte Spezialisten ins Projekt integrieren. Diese Spezialisten arbeiten für ein paar Wochen am Projekt mit-- und zwar von ihrem jeweiligen Heimatort aus. Es gibt wirklich kaum noch Limits hinsichtlich der örtlichen Umgebung. Langsam, bitte! Sie haben Computerspiele genannt. Computerspiele finden ja ohnehin im virtuellen Raum statt. Es sollte kein Problem sein, Gamer für ein Feedback einzuladen. Doch was ist mit echten Gegenständen, etwa Autos? Autos wirken ja nicht nur durch ihr Design. Viele Kunden wollen sich zumindest mal ins Auto setzen, das Leder der Sitze berühren, den Sound des Motors hören. Solche Sinneseindrücke kann man in der virtuellen Welt nur eingeschränkt transportieren. Ich kann im virtuellen Raum halt nichts berühren und in die Hand nehmen-… Zwei Punkte dazu. Erstens, visuelle und akustische Signale sind für uns Menschen primär. Das heißt, beide Sinneskanäle können wir schon heute im virtuellen Raum abdecken. Zweitens, auch andere Sinne können durchaus angesprochen werden. Wie soll das gehen? Wir haben die Möglichkeit, etwa haptisches Feedback zu übermitteln und den Tastsinn anzusprechen. Ein Beispiel: Wir haben eine Lösung für virtuelle Notfallausbildung im Bereich Medizin entwickelt. Die Teilnehmer setzen sich virtuelle Brillen auf. Dann betreten sie eine virtuelle Einsatzsituation, eine Übungssituation mit einem Verletzten. Die Aufgabe besteht darin, die Anamnese durchzuführen, den Zustand abzuklären und die Behandlung einzuleiten. In dieser Situation müssen Ärzte oder Notfallsanitäter den Puls am Arm des virtuellen Patienten ertasten. Das Signal wird über einen Vibrationsmotor in den Controllern übertragen. Die Teilnehmer nehmen ihn aber wirklich als Puls wahr. Sie sagen nicht: Da vibriert etwas an meinem Finger. Sie sagen: Der Patient hat einen Puls von 72. Das Gehirn interpretiert das Signal als Pulstasten? Es verarbeitet es so, als handele es sich wirklich um einen Puls, den man fühlt? Ja. Es kompensiert das, was fehlt. Es ist grundsätzlich möglich, dass Signale von einem Sinn zum anderen überspringen. Wie bei der Synästhesie? In etwa. Es gibt Lösungen, bei denen akustische Signale als Berührungsgefühl in Fingern wahrgenommen werden. Damit wird derzeit experimentiert. Doch bis wir solche Effekte in der Breite nutzen können, wird noch Zeit vergehen. Bei physischen und virtuellen Räumen handelt sich immer noch um zwei völlig getrennte Welten. Gibt es Überlegungen, beide Welten irgendwann einmal miteinander zu verschmelzen? Kann man dann vielleicht Kollegen aus dem virtuellen und dem realen Raum in ein Besprechungszimmer setzen? Das ist tatsächlich das Ziel großer Softwareunternehmen. Da geht es um holographische Lösungen und Mixed Reality. So etwas kennen wir bereits beispielsweise von Navigationssystemen; man kann heute bereits 3-D-Objekte in die physische Welt projizieren. Das machen wir auch schon. Aha? Wo? Bei der virtuellen Notfallausbildung können wir den virtuellen Verletzten aus der virtuellen Umgebung herauslösen und ihn Reportage | „Upload“ für Projekte! 16 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0042 in die reale Umgebung bringen. Dann sieht man ihn auf dem Bildschirm etwa eines Tablets. Augenblick! Man schaltet die Kamera eines Tablets ein. Man betrachtet die reale Umgebung auf dem Bildschirm- - und kann dann den virtuellen Verletzten direkt vor sich etwa auf eine Liege setzen? Ja, die physische und virtuelle Welt verschmelzen auf dem Bildschirm. Dies setzen wir ein, wenn beispielsweise Aufsichtspersonen geschult werden, also medizinische Laien statt Mediziner. Auf diese Weise zeigen wir, welche Symptome etwa auf einen allergischen Schock oder einen Schlaganfall hinweisen. Wir können diese Menschen unterstützen, besser Erste Hilfe zu leisten. Darf ich dies alles weiterdenken? Angenommen, die physische und die virtuelle Realität verschmelzen immer weiter. Dann wären Projekträume denkbar, also für ein Projekt reservierte Arbeitsräume. Obwohl das Team über mehrere Standorte verteilt ist, kann es in diesem virtuellen Raum gemeinsam an seinem Projekt arbeiten. Agile Projektarbeit mit verteilten Teams wäre damit enorm erleichtert. So etwas wäre möglich. Die Projektdaten sind in einem solchen Projektraum prinzipiell verfügbar. Das Kernteam könnte auf solche Daten ganz zugreifen. Andere Gruppen bekommen Zugriff nur auf die Daten, die sie brauchen. Und ich halte es für denkbar, dass ein virtueller Assistent des Teams-… …-der eben angesprochene KI-Agent-… Richtig! Er könnte für Stakeholder, Auftraggeber und Top-Manager aktuelle Kurzzusammenfassungen des Projekts liefern. Man könnte sogar weltweit arbeiten und die Vorteile der Zeitzonen nutzen: Die Asiaten fangen morgens an zu arbeiten, die Europäer kommen im Laufe des Tages dazu, und abends übernehmen Amerikaner die Arbeiten. Eingangs sprachen Sie von der empfundenen Nähe, die virtuelle Spaces mit Avataren ermöglichen. Unser Gehirn interpretiert die Kommunikation im virtuellen Raum als natürlich. Zwischen den Menschen entsteht Nähe. Welche Vorteile hätte dies für die Projektarbeit? Die Menschen rücken näher zusammen, und dies kann das Silodenken in Unternehmen aufbrechen. Unternehmen sind ja häufig nicht nur nach Bereichen sozial getrennt, sondern auch nach Standorten. Durch den virtuellen Raum können neue, leistungsfähige Netzwerke entstehen, die über Abteilungen und Standorte hinweggehen. Wieder ein Beispiel: Stellen Sie sich vor, es ist Freitagnachmittag. Sie wollen gerade Feierabend machen und heimgehen. Ihr Telefon klingelt. Ein Kollege aus den USA will sie um Unterlagen bitten. Gehen Sie ans Telefon? Und: Wie schaut es aus, wenn der Kollege aus dem Nachbarbüro Sie um Unterlagen bittet? Schlagen Sie ihm dies ab? Soziale Nähe ist wichtig für Projektteams, besonders für agile Teams. In virtuellen Räumen kann man diese Nähe im Team über die Projektlaufzeit hinweg aufrechterhalten. Eine Abschlussfrage: Videokonferenzen, so sagten wir eingangs, sind durch die Pandemie vielen Menschen vertraut geworden. Anders der virtuelle Raum. Kommunikation, Kollaboration und Lernen in virtuellen Räumen ist bislang wenig bekannt. Wie reagieren Mitarbeiter auf das Angebot, sich in virtuellen Räumen zu treffen? Viele erkennen schnell die Chancen, die Erleichterungen und Vorteile. Sie unterstützen virtuelle Räume. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass viele Menschen gut in diesen Räumen arbeiten können, sei es mit VR Brille oder-- heute noch dominant- - am PC, Laptop oder Tablet. Sie können sogar in einen Flow-Zustand kommen, in dem sie völlig in ihrer Arbeit aufgehen und buchstäblich die reale Umgebung um sich herum vergessen. Auf der einen Seite begegne ich Enthusiasten, die annehmen, dass im virtuellen Raum alles möglich ist. Also Leute, die am liebsten direkt dort einziehen würden? Ja. Auf der anderen Seite halten viele dies noch für Spielerei-- obgleich Konzerne wie Audi, Bayer oder Bosch, aber auch Mittelständler wie Trumpf und sogar Einzeltrainer oder Coaches diese Lösungen bereits einsetzen. Was wird aus der physischen Begegnung? Wie vorhin gesagt, das wird Quality Time. Man wird sich treffen, um frei über alle Themen zu reden und um menschliche Beziehungen zu leben. Da geht es dann nicht um mühselige Prozessarbeit, sondern darum, mit anderen Menschen sozial in Kontakt und in Berührung zu kommen. Wichtig für uns ist es zu verstehen: Bei den virtuellen Räumen handelt es sich nicht um ein neues Tool für unseren Werkzeugkasten. Es geht um mehr als nur ein zusätzliches Werkzeug. Hier geschieht im Augenblick etwas Grundsätzliches und Disruptives, was einen großen Nutzen stiftet. Virtualität macht es möglich, Kollaboration, Kommunikation und Lernen neu zu denken. Eingangsabbildung: © iStock.com / gorodenkoff Markus Herkersdorf Markus Herkersdorf ist Gründer und Geschäftsführer der TriCAT GmbH, Ulm, ein seit 2002 bestehender Lösungsanbieter für virtuelles Lernen, Training und Kollaboration. Markus Herkersdorf studierte Luft- und Raumfahrttechnik; nach einer Pilotenausbildung und Offizierslaufbahn wandte er sich dem Thema Zukunft des Lernens und der verteilten Zusammenarbeit zu. Heute berät er zahlreiche Unternehmen zur digitalen Transformation. Sein besonderes Interesse gilt dabei unter anderem immersiven Lern- und Kollaborationsumgebungen sowie künstlicher Intelligenz. 17 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0043 Im Interview mit Maria Appel und Alexander Schiera: Auch nach der Pandemie Kommunikation im virtuellen Raum Unterwegs in „Audi spaces“ Oliver Steeger Mit Teamkollegen zusammensitzen, an Ideen und Plänen arbeiten, in der Pause gemeinsam einen Kaffee trinken-- während der Pandemie war dies für viele Mitarbeiter kaum möglich. Zumeist verbanden Videokonferenzen die Menschen in ihren Homeoffices. Einige Unternehmen indes suchten neue Wege: Bei Audi beispielsweise finden viele Workshops, Schulungen oder lange Teambesprechungen im sprichwörtlichen virtuellen „Raum“ statt, in dem sich die Avatare der Teilnehmer treffen. „Audi spaces” nennt sich der digitale Ort für Zusammenkünfte. Dies ist alles andere als Spielerei. Bei Audi weiß man: Kommunikation in virtuellen Räumen ist für das menschliche Gehirn entspannend-- und wesentlich einfacher als eine Videokonferenz. So können Mitarbeiter stundenlang ermüdungsfrei an virtuellen Konferenzen oder Workshops teilnehmen. Maria Appel (Referentin für Applikationen in der Audi Mitarbeiter IT) und Alexander Schiera (Berater für digitales Lernen in der Audi Akademie) erklären, weshalb sich Projektteams auch nach der Pandemie im virtuellen Space treffen werden. Die Pandemie hat die Art, wie Menschen zusammenarbeiten und lernen, grundlegend verändert. Das „Homeoffice“ ist für viele die Regel geworden. Vielfach bestimmt die Remote-Arbeit, wie wir kommunizieren und kooperieren. Wie hat sich aus Ihrer Sicht die Zusammenarbeit verändert? Maria Appel (MA): Die Nutzung digitaler Medien hat stark zugenommen. Dies führt auch dazu, dass wir heute enger und agiler zusammenarbeiten. Natürlich gab es digitale Kommunikationsmedien schon vor der Pandemie. Sie waren beispielsweise bei internationalen, verteilten Teams verbreitet; dort haben sie Wege- und Arbeitszeit gespart. Alexander Schiera (AS): Die Pandemie hat plötzlich den Einsatz digitaler Medien in der Breite erforderlich gemacht. Viele Mitarbeiter wurden quasi ins kalte Wasser geworfen. Sie haben entdeckt, dass und wie digitale Medien für sie funktionieren. Dies hat Berührungsängste abgebaut- - und zu einer breiten Akzeptanz von digitalen Medien geführt. Wie hat sich diese Technologie auf die Kommunikation und Zusammenarbeit selbst ausgewirkt? AS: Die Kommunikation ist aus meiner Sicht disziplinierter geworden. Aus vielen Teams höre ich, dass digitale Medien das Zeitmanagement disziplinieren. Man kommt schneller und fokussierter durch das Besprechungsprogramm. Das sehen viele als Vorteil, und diesen Vorteil werden wir auch in die Zeit nach der Pandemie mitnehmen. Sie gehen also davon aus, dass das, was wir in der Pandemie kennengelernt haben, bleiben wird? AS: Ich bin mir sicher, dass vieles bleiben wird. Vermutlich werden wir die digitalen Medien nicht mehr so stark und ausschließlich wie heute nutzen. Man wird in Zukunft natürlich wieder zusammenkommen und persönlich an Workshops teilnehmen. Die persönliche Begegnung fehlt vielen Menschen. Doch man hat auch die Vorteile erkannt, die die digitale Kommunikation persönlich bringt. Neben dem Zeitmanagement spielen mit Sicherheit die Wegezeiten eine Rolle, etwa Anreisen zu Besprechungen. Wer beruflich viel und weit pendelt, der weiß, wie gut sich die digitalen Medien auf die eigene Zeitplanung auswirken. Man sitzt weniger in Autos und Zügen. Dieser Mehrwert ist vielen wichtig geworden. MA: Ende 2020 haben wir sogar Weihnachtsfeiern digital durchgeführt. Erstaunlich, wie gut dies ging und wie gut auch Stimmung und Gemeinschaftsgefühl dabei aufkamen. Vielleicht wird man in Zukunft Weihnachtsfeiern nicht mehr ganz Reportage Unterwegs in „Audi spaces“ DOI 10.24053/ PM-2021-0043 32. Jahrgang · 03/ 2021 Reportage | Unterwegs in „Audi spaces“ 18 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0043 „Audi spaces“ ist ein virtueller, dreidimensionaler Raum, in dem sich Menschen treffen, um zu lernen und zusammenzuarbeiten. Dabei Es handelt sich nicht um einen einzigen Raum, sondern um mehrere- - ein Ensemble aus Plenum, Gruppenräumen, Besprechungszimmern und Außenterasse. Quasi ein virtuelles Konferenzzentrum. Es gibt Tische, Stühle und Medienwände. Wer in Audi spaces an virtuellen Besprechungen oder Schulungen teilnimmt, bekommt einen Avatar, eine Art digitale Figur, die sein Stellvertreter ist. Mit diesem Avatar bewegt sich der Teilnehmer durch die Räume, begegnet anderen Avataren, hinter denen beispielsweise Kollegen stehen. Beispielsweise setzt man sich mit seinem Kollegen an einen Tisch, trinkt einen virtuellen Kaffee und diskutiert eine Frage. Oder nimmt an einer Besprechung mit zwanzig oder mehr Personen teil, die um einen Tisch herumsitzen. Dies alles erinnert an Computerspiele mit Teilnehmern, die (eigentlich) daheim am Schreibtisch sind. „Socializing“ im virtuellen Raum: Die Teilnehmer in ihren Homeoffices sind unterwegs mit Avataren, also digitalen Stellvertretern. Das menschliche Gehirn interpretiert virtuelle Meetings als real und echte Begegnung. Foto: AUDI AG in den virtuellen Raum verlegen. Doch den Vorteil, dass man Menschen aus der Distanz dazu holen kann, haben viele erfahren. Da geht es letztlich nicht mehr nur um Zeitersparnis, sondern auch um Nachhaltigkeit. Alles in allem: Ich gehe davon aus, dass Menschen lernen werden, in welcher Situation welches Medium für sie am besten ist und die Erfordernisse optimal erfüllt. Sie werden für die jeweilige Situation das geeignete Medium wählen. Im vergangenen Jahr haben Sie bei Audi ein innovatives digitales Medium für Kommunikation eingeführt. „Audi spaces“ ist ein virtueller, dreidimensionaler Raum. In diesem Raum treffen sich Menschen, um zu lernen und zusammenzuarbeiten. Weshalb bieten Sie diese Treffen im virtuellen Raum an? Die klassische Videokonferenz hat während der Pandemie gute Dienste geleistet. MA: Eine Videokonferenz ist hilfreich und praktisch. Man sieht einander. Dort spürt jedoch jeder, dass man getrennt voneinander ist. Da ist eine große räumliche Distanz, auch gefühlt. Man ist nicht richtig zusammen. Audi spaces ändert dies. Die Teilnehmer empfinden sich wirklich als „zusammen“, denn sie sitzen im selben virtuellen Raum. Gemeinschaftsgefühl entsteht-- obwohl die Teilnehmer in der realen Welt getrennt voneinander sind. Die virtuelle Nähe erleichtert die Kommunikation, und die digital durchgeführte Konferenz ist nicht so anstrengend. Inwiefern nicht so anstrengend? MA: Die räumliche Komponente ist wichtig für das menschliche Gehirn. Es ist nicht auf Videokonferenzen ausgelegt. AS: Derzeit sehe ich Sie in einem kleinen Fenster auf meinem Bildschirm-… …- wir führen gerade unser Interview digital durch. Was würde sich in Audi spaces für uns ändern? AS: In Audi spaces würden wir in einem Raum sitzen, beispielsweise an einem Tisch. Wir würden uns beim Sprechen einander zuwenden. Wir würden hören, aus welcher Richtung jeder jeweils spricht. Sitze ich links neben Ihnen, hören Sie mich in der linken Ohrmuschel Ihres Kopfhörers. Das vermittelt Nähe. Man hat das Gefühl, wirklich dabei zu sein-- statt daheim am Bildschirm zu sitzen. MA: Teilnehmer können sich im virtuellen Raum frei bewegen. Arbeitsgruppen können sich zu Breakout Sessions in andere Räume zurückziehen. Sie gehen buchstäblich dorthin. Und: Wir würden mit Medienwänden arbeiten, auf denen man Bildschirme teilen oder Präsentationen zeigen kann-- ähnlich, wie man Beamer benutzt in realen Besprechungsräumen. Man kann nicht nur eine Wand benutzen, sondern mehrere. Auch lassen sich 3-D-Objekte in den Raum stellen, die man gemeinsam anschaut. Das kann für Schulungen hilfreich sein. Sie sagten, man hat das Gefühl wirklich dabei zu sein. Weshalb ist dieses Gefühl der Nähe so wichtig? Reportage | Unterwegs in „Audi spaces“ 19 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0043 AS: In der virtuellen Umgebung oder bei Virtual Reality Anwendungen spricht man von Immersion. Immersion bezeichnet das Gefühl, dass man etwas Virtuelles als real wahrnimmt. Dieses Gefühl der Realität erzeugt Nähe. Weil man sich tatsächlich als Teil dieser virtuellen Welt fühlt? AS: Richtig. Je ähnlicher die virtuelle Welt der realen ist, desto leichter kommt das Gehirn mit ihr zurecht. Man kann das Gehirn dazu bringen, eine digitale Welt als real, bekannt und vertraut wahrzunehmen. Das ist ein wichtiger Punkt bei der Entwicklung von virtuellen Welten. Ich kenne dieses Gefühl der Immersion von Virtual Reality Brillen her. Man setzt sich diese Brillen auf, und man findet sich in einer anderen Welt wieder. Manchmal werden Menschen etwa gebeten, in der virtuellen Welt eine schwindelerregende Schlucht zu überqueren- - und zwar auf einem schmalen Steg. Die Menschen wissen, dass diese Welt nicht wirklich ist. Dennoch zögern sie. Und manche empfinden echte Höhenangst in der künstlichen Welt. MA: Das ist ein gutes Beispiel für Immersion. Je detailgetreuer die virtuelle Welt ist und je mehr sie der realen gleicht, desto besser gelingt Immersion. Anders gesagt: Die visuelle und akustische Räumlichkeit sowie die vertrauten Gegenstände in Audi spaces sind keine Spielereien. Sie wollen mit diesen Features Immersion erzeugen- - um den Menschen den Aufenthalt zu erleichtern. AS: Richtig. Der Vorteil ist, dass sich das Gehirn dann entspannen kann. So nützlich herkömmliche Videokonferenzen sind- - sie verlangen dem Gehirn viel unbewusste Arbeit ab. Es muss sich ständig zurechtfinden und orientieren, etwa Stimmen den Videobildern zuordnen. Das strengt an. Unser Gehirn ist für diese Kommunikation also nur bedingt geeignet? MA: Ja. Das haben viele Menschen während der Pandemie erlebt. Zu Beginn des Lockdowns hatten wir mehrstündige Besprechungen und Schulungen über Videokonferenzen durchgeführt. Wir haben schnell erkannt: Wer einige Stunden an einer Videokonferenz teilnimmt, ist erschöpft und nimmt Inhalte kaum noch auf. Wir haben anfangs deshalb lange Workshops und Schulungen zeitlich verkürzt oder auf mehrere Tage aufgeteilt. In Audi spaces ist dies anders? MA: Viele Teilnehmer melden zurück, dass die virtuelle Kommunikation dort wirklich weniger ermüdend ist. Sie können sich besser auf Gespräche fokussieren und Inhalte optimal aufnehmen. Einige Teilnehmer waren selbst überrascht, wie lange sie sich mühelos in den virtuellen Räumen aufhalten können. AS: Wir haben in Audi spaces weitestgehend darauf geachtet, dass wir keine realitätsfernen Features verwenden, beispielsweise Aktionen, die in der Realität nicht möglich wären. Etwa das Sprechen mit einer anderen Person, obwohl diese sich nicht im gleichen Raum befindet. Solche realitätsfernen Brüche erkennt das Gehirn sofort. Es nimmt sie als Fremdkörper wahr, darunter leidet die Immersion. Wenn Immersion die virtuelle Kommunikation so sehr erleichtert- - wie kann man diese Immersion weiter begünstigen? Optische und akustische Räumlichkeit sind vermutlich nur ein Teil davon. AS: Begünstigend ist die natürliche Umgebung, die die Teilnehmer etwa eines Trainings oder einer Schulung gewohnt sind. Beispielsweise sind Produktionsmitarbeitern etwa Werkstätten vertraut. Wir wurden gefragt, ob wir eine Variante mit einer Werkstatt bereitstellen können. Produktionsmitarbeiter Eine Konferenz in „Audi spaces“. Die Kommunikation wird erleichtert durch menschliche Gesten, etwa das Heben der Hand. Foto: AUDI AG Reportage | Unterwegs in „Audi spaces“ 20 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0043 fühlen sich wohl in solch einer Umgebung, und sie nehmen sie nicht als Fremdkörper wahr. Entscheidend ist also, dass man die Immersion erhöht. In Audi spaces finden sich auch Dinge wie Konferenztische oder Stühle. Man kann wirklich Platz nehmen auf einem Stuhl und sogar einen virtuellen Kaffee trinken. Wo hört das Angebot zur Immersion auf-- und fängt Spielerei an? MA: Wir halten solche Dinge für sehr wichtig. In Audi spaces können sich Teilnehmer beispielsweise zu Kamingesprächen zusammensetzen. Die Räume sind sehr schön gestaltet mit einem virtuellen Kaminfeuer. Die Atmosphäre unterstützt das Gespräch. Etwa bei Mitarbeitergesprächen ist es wichtig, dass sich die Beteiligten öffnen. Der Wohlfühl-Faktor spielt dabei eine Rolle. Weihnachten hatten wir sogar einen Weihnachtsbaum und Schneeflocken. Solche kleinen Features, die auch Spaß machen, gehören dazu. Zur Adventszeit konnte man beispielsweise Weihnachtsmusik aktivieren. Dies überrascht Teilnehmer und löst positive Emotionen aus. Die Teilnehmer fühlen sich dadurch etwas mehr willkommen. AS: Solche Effekte kennen wir ja auch aus dem realen Arbeitsleben. Weshalb stellen Unternehmen im Dezember Weihnachtsbäume in Eingangsbereichen auf? Solche Dinge rufen etwas bei Menschen hervor. Sie erzeugen ein Gemeinschaftsgefühl. Das Gehirn verknüpft solche Eindrücke sehr schnell. Nicht nur Räume und Gegenstände haben positiven Einfluss auf Kommunikation, sondern vor allem die Körpersprache. Es heißt, dass wir das meiste, was wir „sagen“, über unseren Körper ausdrücken- - durch unsere Haltung oder Gestik. Videokonferenzen haben da Fortschritte gebracht. Man kann wenigsten die Mimik der anderen sehen. AS: Dennoch bleibt vieles in Videokonferenzen verborgen. Beispielsweise können Sie niemanden direkt ansprechen, indem Sie sich ihm zuwenden und ihn direkt ansehen. In Audi spaces ist die möglich? AS: Ja. Wir bezeichnen das in der Realität manchmal als Nettikette-… …-also Etikette fürs Internet-… AS: Richtig. Dies funktioniert in Audi spaces sehr gut. Ein Beispiel aus einem realen Training: Vielleicht kennen Sie das Gefühl der Distanz, wenn sich der Trainer zum Flipchart umdreht, schreibt und Ihnen dabei den Rücken zudreht. Sobald er sich Ihnen wieder zuwendet und Sie ansieht, ist das Gefühl der Nähe wieder da. Er schaut Sie fest an. Sie verstehen sofort, dass er wirklich mit Ihnen redet. Das löst ein Gefühl der Verbindlichkeit aus. Funktioniert dies auch im virtuellen Raum? MA: Es funktioniert sehr gut. Wir können uns mit unserem Avatar anderen zuwenden, sie anschauen und ansprechen. Unser Gehirn nimmt dies mit der gleichen Bedeutung wahr wie in der Realität. Wir fühlen uns wirklich angesprochen. AS: Wenn ich andere in Audi spaces einweise, provoziere ich gelegentlich absichtlich solche Reaktionen. Ich trete mit meinem Avatar ganz nah an die andere Person heran-… …- in der realen Welt würde man vielleicht einen Schritt zurückweichen. Wir haben eine kulturell akzeptierte Mindestdistanz zwischen Menschen. Viele mögen es nicht, wenn ihnen etwa Kollegen zu nahe kommen-… AS: Genau das tun Menschen mit ihren Avataren auch in Audi spaces. Komme ich zu nahe, treten sie zurück. Mit anderen Worten: Wir reagieren auf solche sozialen Reize auch im virtuellen Raum? AS: Ja. Angenommen, Sie stellen eine Frage in einer Videokonferenz. Häufig dauert es einige Sekunden, bis sich jemand angesprochen fühlt. Im virtuellen Raum sprechen Sie Menschen direkt an. Sie drehen sich mit ihrem Avatar zu ihnen Präsentationen an Medienwänden etwa für Schulungen. Foto: AUDI AG Reportage | Unterwegs in „Audi spaces“ 21 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0043 hin. Allein dieses Hinwenden reicht. Es erzeugt eine gewisse Erwartung. MA: Audi spaces überträgt bis zu einem gewissen Grad auch Gesten. Spricht jemand, bewegt sich sein Avatar. Spricht ein Teilnehmer, gestikuliert sein Avatar automatisch. Auch kann man beispielsweise Applaus klatschen, jemandem zuwinken oder sich melden, wenn man eine Frage hat. Man wird Audi spaces vermutlich nicht für eine kurze Besprechung verwenden, beispielsweise für das viertelstündige Daily Stand-up Meeting im agilen Projektmanagement. Für welche Ziele verwenden Sie Audi spaces? AS: Im Bereich Schulung und Training wird Audi spaces häufig eingesetzt. Das ist natürlich jetzt stark durch die Pandemie bedingt. Noch während der Entwicklung von Audi spaces haben wir 2017 ein Selbstlern-Szenario für Mechatroniker erarbeitet. Es ging darum, wie ein Mechatroniker den A3 etron außer Betrieb nehmen kann. Zum einen gab es damals nicht viele Exemplare dieses Fahrzeugs. Wir hatten nicht immer welche im Werk; dies hat reale Schulungen begrenzt. Zum anderen wollten wir die Schulung zur Arbeit an diesem Hochvolt-Fahrzeug sicher gestalten. Deshalb haben wir dieses Fahrzeug in Audi spaces in Realgröße modelliert. Wir haben dabei detailliert Elemente für Interaktionen integriert. Beispielsweise kann man die Motorhaube öffnen. Man kann sich ins Auto setzen und die Zündung betätigen. Alles ist so echt wie möglich. So können Teilnehmer sicher und präzise die notwendigen Arbeitsschritte lernen, die sie später in der Realität brauchen-- ohne sich dabei zu verletzen. Denken wir dies weiter. Verteilte Entwicklungsteams könnten im virtuellen Raum an einem Prototypen arbeiten-… AS: Das ist prinzipiell möglich. Dabei spielt natürlich die Komplexität dieser Modelle eine Rolle. Man müsste diese Komplexität im virtuellen Raum abbilden. Wir hätten es dann mit einer großen Menge von Konstruktionsdaten zu tun. Es geht hier um Datenreduktionsverfahren, die wir zukünftig etablieren müssen. MA: Für die heutige Zeit sehe ich andere Chancen für Projektteams, vor allem für agile Projektteams. Audi spaces erleichtert die Zusammenarbeit bei längeren Workshops, etwa bei Iterationsworkshops. Man kann etwa eine Vorstellungsrunde viel besser durchführen als bei Videokonferenzen. Die Teilnehmer haben die Möglichkeit, sich gegenseitig anzusprechen und das Wort reihum zu geben. Auch kann man sich zurückziehen und beispielsweise unter vier Augen sprechen. Man knüpft Kontakte, tauscht Visitenkarten aus oder klinkt sich in Arbeitsgruppen ein. Während der Pandemie haben wir zum Beispiel einen Doktoranden-Tag in Audi spaces durchgeführt, der zuvor immer live stattgefunden hat. Wie hat sich die Pandemie auf die Entwicklung von Audi spaces ausgewirkt? Erste Vorbereitungen haben Sie ja deutlich vor der Pandemie getroffen-… AS: Audi spaces ist deutlich vor der Pandemie initiiert worden. Den Proof of Concept hatten wir 2017. Dann haben wir dieses neue Medium wissenschaftlich evaluiert, und für Frühjahr 2020 war das Ausrollen geplant. Die Pandemie hat eine zusätzliche Dynamik in das Projekt gebracht. Wir bekamen etliche Anfragen von Fachbereichen, die Wind bekommen hatten von Audi spaces-- noch vor der offiziellen Vorstellung. Wie haben Sie die Nutzer bei der Entwicklung einbezogen? Im Proofs of Concept haben wir mit 150 Teilnehmern gearbeitet, neben Trainern und Beratern auch Teilnehmer aus anderen Unternehmensbereichen. Also ein breiter Querschnitt. Diesen 150 Usern haben wir über die Schulter geschaut und detailliert beobachtet, wie sie mit dem Tool umgehen. Beispielsweise das Klickverhalten nachgezeichnet-… AS: Ja. Wir haben auch analysiert, wo wirklich der Mehrwert der Anwendung für die tägliche Arbeit liegt. Welche Features sind tatsächlich sinnvoll? Wir haben festgestellt: Weniger ist mehr! Also weniger Features, um dem User das Einarbeiten und Bedienen zu erleichtern. Die anfängliche Vielzahl der Features haben auch deutlich die Immersion geschmälert. Also haben wir den Funktionsumfang der allerersten Version deutlich reduziert. Seit dem offiziellen Roll-Out im August 2020 hatten wir monatlich rund 200 Veranstaltungen. Auch da baten wir Teilnehmer um Feedback. Viele Experten meinen, dass es nach der Pandemie kein Zurück mehr geben wird zur ausschließlichen analogen Kommunikation. Digitale Tools werden bleiben. Gilt dies Ihrer Einschätzung nach auch für Audi spaces? MA: Ich bin überzeugt, dass Audi spaces langfristig die Zusammenarbeit prägen wird. Die IT-Vorkenntnisse sind jetzt vorhanden, Berührungsängste abgebaut, Anwender mit der intuitiven Bedienung vertraut. Doch ich sehe unser System als Ergänzung für andere Kommunikationsformen, nicht als Konkurrenz. Ich denke nicht, dass Audi spaces persönliche Kommunikation oder Videokonferenzen ablösen wird. Für viele Themen wird man bei Videokonferenzen, Telefonaten oder Vor-Ort-Besprechungen bleiben. Also die Frage, wo man Audi spaces effektiv einsetzt? MA: Vielleicht wird man über Audi space keine Bewerbungsgespräche führen. Aber Recruitingmessen haben wir virtuell schon erfolgreich im virtuellen Raum durchgeführt. AS: Neue Technologien werden interessant, wenn sie wirklich Lücken schließen und die vorhandenen Werkzeuge ergänzen. Man muss natürlich auf diese Lücken zeigen und erklären, wie die Technologie das Vorhandene hilfreich ergänzt. Dann entsteht Relevanz. Diese Relevanz führt dann zur Akzeptanz. Vorhin haben Sie Berührungsängste vor digitalen Kommunikationsmedien erwähnt. Viele haben während der Pandemie solche Ängste abgebaut. Dennoch tun sich einige schwer mit digitalen Medien, nach wie vor. MA: Das stimmt. Nicht jeder wird mit digitalen Kommunikationstools sofort warm. Wie gewinnen Sie auch diese eher skeptischen Nutzer? Reportage | Unterwegs in „Audi spaces“ 22 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0043 MA: Wir bieten ihnen Beratung und Begleitung an. Wir führen sie behutsam in diese neue Welt ein und zeigen ihnen die Features. Wir erklären ihnen individuell, wie sie ein Meeting in Audi spaces vorbereiten. Damit können wir bereits eine kleine Hürde abbauen. Zudem gibt es Sprechstunden, Hotlines und je nach Nutzergruppe abgestuft Schulungen. AS: Wir nehmen die Menschen quasi an die Hand und zeigen ihnen, welche Möglichkeiten das Tool hat und wie sie es am besten einsetzen können. Das schärft ihr Gefühl für die Relevanz. Auch Audi spaces war Anfang für einige fremd-… AS: Eben weil es so natürlich ist! Audi spaces funktioniert wie die Realität. Damit rechnen einige nicht. Wenn man in Audi spaces das Plenum verlässt und in einen anderen Raum geht, dann hört man den Redner tatsächlich nicht mehr. Ganz so wie im normalen Leben. Haben Nutzer diese einfachen Prinzipien einmal verstanden, dann machen sie positive Erfahrungen in Audi spaces. Dann sprechen sich auch die Vorteile bei uns im Unternehmen herum. MA: Ich denke, dass uns diese Mund-zu-Mund-Propaganda sehr unterstützt. Viele haben ja bereits an Veranstaltungen in Audi spaces teilgenommen, beispielsweise an einem Workshop oder einer Recruiting Messe. Sie berichten anderen über ihre Erfahrungen. Wir merken, dass sich dies langsam von allein trägt. Die Offenheit nimmt zu. Eine Abschlussfrage: Die remote Arbeitsweise führt zu neuen Anforderungen an Führungskräfte. Digital führt man anders als analog. Welche Herausforderungen bringt Audi spaces für Führungskräfte mit? AS: Diese Anforderungen würde ich nicht auf Audi spaces beschränken. Die neue Remote-Arbeitsweise erfordert generell eine andere Führung. Da ist die Frage, was es für Führungskräfte bedeutet, Mitarbeiter auf Distanz zu führen. Aus meiner Sicht kommt es darauf an, Vertrauen zum Mitarbeiter zu haben, ergebnisorientiert zu führen, klare Ziele zu vereinbaren, etappenweise Statusberichte anzufordern-- und dann aber auch loszulassen. Bei alledem ist Audi spaces ein Kommunikationstool, dies darf man nicht vergessen. Wer bisher gut geführt hat, wird in Audi spaces vermutlich eine wertvolle Ergänzung finden. Plant eine Führungskraft einen Workshop von sechs oder acht Stunden-- dann würde ich empfehlen, es mit diesem Tool zu versuchen. Eingangsabbildung: © Audi AG Maria Appel Maria Appel ist Referentin für Applikationen in der Audi Mitarbeiter IT. Sie absolvierte 2012 eine Ausbildung zur Informatikkauffrau bei Audi. Sie studierte Digital Business an der Technischen Hochschule Ingolstadt. Aktuell arbeitet sie in der Audi Mitarbeiter IT im Bereich der sozialen Medien für die interne Zusammenarbeit. Dort verantwortet sie die zentrale Wissensmanagement-Plattform der Audi-Mitarbeiter. Außerdem stellt sie den Betrieb des unternehmensweiten Tools Audi spaces sicher, welches in einer virtuellen 3D-Welt die Zusammenarbeit von allen Audi-Mitarbeitern unterstützt Alexander Schiera Alexander Schiera ist seit 2017 Berater für digitales Lernen in der Audi Akademie. Er studierte berufsbegleitend Wirtschaftsingenieurwesen mit Schwerpunkt Wirtschaftsinformatik. Seit seinem Einstieg 2017 bei der Abteilung Learning Operations unterstützt er die Einführung von Audi spaces in der AUDI AG, über den Proof of Concept bis hin zum Rollout. Im Jahr 2020 übernahm er die Verantwortung für Audi spaces im Trainingskontext. Foto: Alexander Prokop www.junfermann.de - Wir liefern versandkostenfrei! Neu bei Junfermann Sabine Prohaska Training und Seminare im digitalen Wandel Der E-Learning-Kompass für erfolgreiche Schulungskonzepte Digitale Konzepte werden immer wichtiger und Zukunftsforscher prognostizieren, dass kein Stein auf dem anderen bleiben wird. Dies erfordert einen neuen, flexiblen Zugang aller Beteiligten und ein Überdenken der bisher bekannten Prozesse. Es geht um innovative Seminarkonzepte, eine völlige Neuausrichtung der Rolle der Trainer, eine offene Unternehmenskultur und um die erforderlichen technischen Voraussetzungen. Das Buch führt diejenigen, die digitale Lernkonzepte entwickeln und umsetzen, durch die wichtigsten Bereiche und liefert eine verlässliche Schrittfür-Schritt-Anleitung für deren professionelle Umsetzung. 176 Seiten, kart., E-Book inside • € (D) 29,00 • ISBN 978-3-7495-0188-5 • Auch als E-Book erhältlich Daniela Blickhan Positive Psychologie und Coaching Von der Lösungszur Wachstumsorientierung Was lässt Menschen „aufblühen“? Daniela Blickhan setzt die Positive Psychologie selbst seit mehr als zehn Jahren im Coaching und in der Ausbildung von Coaches ein. Ihr Resümee: Jeder Coach kann Positive Psychologie als Bereicherung in sein Repertoire aufnehmen. Nach einer Zusammenfassung der für das Coaching relevanten Grundlagen der Positiven Psychologie geht es im 1. Teil um Fragen wie: Was bedeutet „Positive Diagnostik“? Was sind „Positive Interventionen“? Was charakterisiert einen „Positiven Coachingprozess“? Im 2. Teil geht es, abgerundet durch Fallbeispiele, darum, wie sich diese Grundlagen in einem Coachingprozess umsetzen lassen. 232 Seiten, kart., E-Book inside • € (D) 29,00 • ISBN 978-3-95571-951-7 • Auch als E-Book erhältlich Karin Kiesele & Andrea Schlösser Herausfordernde Situationen im Coaching Toolbox Best Practice Nicht jede Coaching-Sitzung verläuft nach Plan. Fast jeder Coach stößt beizeiten in seiner Arbeit an Grenzen, ist verunsichert, überfordert oder gar ratlos. Die Autorinnen beschreiben herausfordernde Coachingsituationen und bieten im Alltag erprobte Hilfestellungen und Interventionen an. Coaches erhalten hier konkrete Tipps und Anleitungen u. a. zu folgenden Themen: Widerstände und Blockaden, ins Stocken geratene Prozesse, Umgang mit Emotionen und Krisen, Selbstfürsorge, Umgang mit Absagen und Zahlungsausfällen u. v. m. 192 Seiten, kart., E-Book inside • € (D) 28,00 • ISBN 978-3-95571-953-1 • Auch als E-Book erhältlich 24 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0044 Projektmanagement ist Krisenmanagement Veränderung und Resilienz von Verwaltungshandeln in Zeiten von Corona Heike Kratt, Haupstadtrepräsentantin der GPM Die Corona-Krise mit ihren weitreichenden Folgen auf individueller und gesellschaftspolitischer Ebene prägt das Geschehen auf nationaler und internationaler Ebene seit mehr als einem Jahr. Es gibt keinen Bereich des öffentlichen oder privaten Lebens, der nicht von ihr betroffen wäre. Wie es Krisen dieser Größenordnung eigen ist, werden Stärken und Schwächen, insbesondere auf systemischer Ebene, sehr deutlich. Wie Deutschland und die Welt durch die Krise kommen-- daraus lässt sich vieles ableiten, was wir für die Gestaltung weiterer Krisen und Herausforderungen, die kommen werden oder schon da sind, wie z. B. der Klimawandel, lernen und nutzen können. Nicht nur die Selbstverantwortung jeder und jedes Einzelnen hat in der Corona-Krise eine unmittelbar existenzielle Bedeutung bekommen, sondern auch die Kompetenz und die Stärke der Regierung sowie allen anderen umsetzenden Ebenen, von welchen direkt und in unmittelbarer zeitlicher Nähe Menschenleben abhängen. Es ist nicht länger lediglich ärgerlich, wenn Verfahren lange dauern oder Zuständigkeiten unklar sind. Verzögerungen, Unklarheiten und Inkompetenz kosten Menschenleben. Diese Verantwortung haben die staatlichen Institutionen erkennbar angenommen und sie haben sie in vielen Bereichen angemessen ausgefüllt mit herausragendem Engagement der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Deutlich geworden sind schon jetzt gleichzeitig die großen Baustellen, die wichtig sind für erfolgreiches Handeln. Sichtbar wird, wie sehr diese Baustellen mit dem Thema Projektmanagement, Programmmanagement und Projektkompetenz verknüpft sind. Es geht um ebenenübergreifende Zusammenarbeit, um eine Kultur des gemeinsamen Erfolgs, um klare Rollen und Zuständigkeiten, um eine Stärkung von Portfoliomanagement, das Überblick und Priorisierung ermöglicht, Erwartungs- und Risikomanagement, um Agilität, Stakeholdermanagement und auch um Mut, die Dinge anzugehen-- und nicht zuletzt um eine angemessene und gute Kommunikation nach innen und außen. Dazu braucht es entsprechende Kompetenzen in der Verwaltung selbst-- und diese zu fördern, das wird auch eine wichtige Lehre aus dieser Pandemie sein. Diese Themen sind auch Empfehlungen des Aktionsprogramms „Mit Projekten Deutschlands Zukunft gestalten“, das sich, initiiert von der GPM, durch den Beirat unter Vorsitz des Präsidenten des Bundesverwaltungsamtes, Christoph Verenkotte, in der Umsetzung befindet. Die Pandemie unterstreicht diese Empfehlungen. Sie zeigt, wie wichtig es ist, in Programmen und Projekten zu denken, um dann die erforderlichen Rahmenbedingungen für erfolgreiche Projektarbeit zu schaffen und entsprechend handeln zu können. Bei allem individuellen Leid und gesellschaftspolitischen Stress, den die Corona-Pandemie auslöst, liegt in ihr eine echte Chance. Wir können aus ihr lernen, was wir gut gemacht haben, was wir besser machen sollten und was wir brauchen, um zukünftige Krisen erfolgreicher zu bewältigen. Das gilt insbesondere auch für den systemischen Bereich, der mit der Gestaltung dieser Krise beauftragt ist: Die Politik und in der Umsetzung, die öffentliche Verwaltung. In den folgenden drei Interviews geben Menschen, die im Krisenmanagement der öffentlichen Verwaltung tätig waren oder noch sind, oder mit dem Thema Projektmanagent beschäftigt sind, einen Einblick darin, in welcher Form Projektmanagement in der Covid-Krise eine wichtige Rolle gespielt hat. Sie knüpfen an Diskussionen an, die in einer Gesprächsrunde auf dem Zukunftskongress Live+Digital 2020 geführt wurden. Alle drei Ebenen Bund, Land und Kommune sind vertreten, um auch die verschiedenen Perspektiven, die sich hier ergeben, berücksichtigen zu können. Volker Düring gibt einen Einblick in die Rolle des Projektmanagements für das Krisenmanagement im Bundesgesundheitsministerium, Sabine Meister schildert die projektorientierte Arbeit in den Krisenstäben der Stadt Hamburg und Tanja Krins vertieft die Bedeutung von Projektmanagementkompetenzen für die kommunale Ebene mit Beispielen aus der Stadt Köln. Eingangsabbildung: © iStock.com / piranka Reportage Veränderung und Resilienz von Verwaltungshandeln in Zeiten von Corona DOI 10.24053/ PM-2021-0044 32. Jahrgang · 03/ 2021 25 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0045 Heike Kratt im Interview mit Volker Düring Projektmanagement als Krisenmanagement im Bundesministerium für Gesundheit Herr Düring, Sie sind Unterabteilungsleiter im Bundesministerium für Gesundheit (BMG), schildern Sie uns doch zunächst Ihre Aufgaben im BMG und ihre Rolle im Rahmen des Managements zur Bewältigung der Corona-Krise. Ich muss vorwegschicken, dass ich seit Mitte Februar eine neue Aufgabe im Ministerium übernommen habe und beauftragt bin, das Thema „Klimaneutrale Bundesverwaltung“ für das Ressort voranzutreiben. Davor war ich als Unterabteilungsleiter in unterschiedlichen Zuschnitten unter anderem für Personal und Organisation einschließlich der bestehenden Krisenreaktionsstrukturen verantwortlich. Im vergangenen Jahr konzentrierte sich meine Arbeit unter dem Aspekt der Corona-Krise stärker auf die Bereiche IT im Ressort, auf Bau- und Liegenschaftsangelegenheiten, alle Services im Inneren Dienst sowie auf den hausinternen Gesundheits- und Arbeitsschutz. Gesundheits- und Arbeitsschutz. Im Sommer letzten Jahres erwähnten Sie im Rahmen des Gesprächs auf dem Zukunftskongress, bei dem es um den Beitrag von Projektmanagement zur Krisenbewältigung ging, dass das BMG auf die Corona-Krise durch schon bestehende Projektrahmen, den sogenannten Krisenplänen, reagieren konnte. Konnten sich diese bewähren und wie hoch war der Bedarf, neue Projekte zur Bewältigung der Krise aufzusetzen? Ich habe damals darauf hingewiesen, dass das BMG selbstverständlich sofort in Kraft setzbare, skalierbare, modulartig aufgebaute und laufend gepflegte Krisenpläne in der Schublade hatte bzw. hat. Das gilt ja grundsätzlich auch für andere Behörden, die sich auf Krisenlagen vorbereiten müssen. Die Pläne im BMG werden nicht nur ständig auf aktuellem Stand gehalten, z. B. bei personellen oder organisatorischen Veränderungen, sondern wurden in der Vergangenheit nach größeren Geschehen wie z. B. der Schweinegrippe immer evaluiert, um gemachte Erfahrungen möglichst rasch einzuarbeiten. Das war erst vor wenigen Jahren sehr umfassend geschehen, so dass wir davon ausgehen konnten, grundsätzlich gut aufgestellt zu sein. Das waren wir dann im Kern des Infektionsgeschehens auch. Das Lagezentrum war rasch aufgebaut und technisch und personell hochgefahren, alle relevanten Strukturen wurden aktiviert. Insofern: ja, die Krisenpläne haben sich bewährt. Allerdings haben sich bei dieser Krise zusätzliche Problemstellungen und Besonderheiten ergeben, die deutlich über das zuvor in Krisenpläne fassbare Maß hinausgingen. Dadurch, dass die gesamte Gesellschaft und eben auch die Beschäftigten im Ressort direkt betroffen waren, mussten zusätzliche Maßnahmen zum Erhalt der Arbeitsfähigkeit des BMG und zugleich zum Schutz der Kolleginnen und Kollegen aufgelegt werden. Es gab zusätzlich massive und personalintensive Aktivitäten zur Sicherstellung des Bevölkerungsschutzes und zum Erhalt der Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens, die digitalen Arbeits- und Kommunikationsstrukturen mussten innerhalb kürzester Zeit enorm skaliert werden und, nicht zuletzt, auch die interne, die öffentliche und die politische Kommunikation erforderte mehr Kraft und Aufmerksamkeit. Ein sehr viel größerer Teil der Beschäftigten als in den Plänen ohnehin vorgesehen sah sich ad hoc in neu geschaffenen oder erweiterten Strukturen eingesetzt, überwiegend mit starkem Projektcharakter. Sie sind im Beirat des Aktionsprogramms „Mit Projekten Deutschlands Zukunft gestalten“ und setzen sich für die Stärkung von Projektmanagement in der Verwaltung ein. Würden Sie sagen, dass die Herausforderungen der Krise dazu geführt haben, dass das Thema Projektmanagement im BMG stärker verankert wird? Woran zeigt sich das? Diese Krise hat jedenfalls gezeigt, dass der Fall bzw. die Notwendigkeit eintreten kann, dass neben den erwarteten Krisenaufgaben in zuvor nicht absehbarem Umfang und ad hoc Aufgaben zur Erledigung anstehen, die weder in der Linienstruktur noch per Krisenplan erledigt werden können. Bessere Projektmanagementstrukturen in den Häusern und bessere Projektmanagement-Skills bei den Beschäftigten sorgen für mehr Flexibilität, bessere Reaktionsfähigkeit und mehr Fähigkeiten des Personals, sich mit und in agilen Strukturen zu bewegen. Die Corona-Krise hat im BMG zu einem umfassenden „Lessons Learned“-Prozess geführt, der letztlich auch zu einer besseren Verankerung von Projektmanagement im BMG geführt hat und weiter führen wird. Thema des Gesprächs auf dem Zukunftskongress war auch, dass die Arbeitsbedingungen von projektbeteiligten Menschen, insbesondere in Krisenzeiten, eine hinreichende Beachtung finden müssen. Welche Lehren haben Sie nach nun einem Jahr seit Beginn der Corona-Krise daraus gezogen? Wie gelingt es, die Arbeit in Projekten in der Verwaltung stärker für die Laufbahn zu berücksichtigen? Es ist mir wichtig, zunächst einmal festzuhalten, dass ich überall sehr hohe Leistungsbereitschaft und ein enormes Engagement in der Belegschaft gesehen habe, unabhängig von der Laufbahn oder der dienstlichen Stellung. Und während der Krise gab es mehrere Highlights, um das zu würdigen, unter anderem eine eigene Leistungsprämienrunde nur für das „Krisenpersonal“. Gleichwohl: wenn es darum geht, Pro- Reportage Projektmanagement als Krisenmanagement im Bundesministerium für Gesundheit DOI 10.24053/ PM-2021-0045 32. Jahrgang · 03/ 2021 Reportage | Projektmanagement als Krisenmanagement im Bundesministerium für Gesundheit 26 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0045 jektmanagement und die damit verbundene Flexibilität stärker als bisher auch im Regelbetrieb zu verankern, stehen die alten Hemmnisse im Raum, die ein klassischer Verwaltungsaufbau und die dazugehörigen Personal- und Personalbewirtschaftungsstrukturen mit sich bringen. Insofern kann die Corona-Krise als eine Art Katalysator dienen, die klassischen Strukturen in Zukunft ein Stück weit aufzubrechen. Wie hat sich das Personalmanagement an Krisen- und Projektstrukturen, insbesondere bei der Anreizsetzung und Würdigung für und von Projektmitarbeitenden angepasst? Das Problem ist aus meiner Sicht weniger die akute Würdigung der Leistungen in den Krisen- und Nebenstrukturen. Das war und ist nach wie vor allen ein Anliegen, angefangen bei der Leitung des Hauses bis hin zu den jeweiligen Kolleginnen oder Kollegen mit Vorgesetztenfunktion im Projekt. Die Aufgabe für die Zukunft besteht darin, daraus zu lernen und Projektarbeit auch im Alltagsbetrieb hoffähiger und attraktiver zu machen. Daran ist das Personalreferat im BMG zum Glück sehr interessiert und hat sich entsprechende Maßnahmen vorgenommen, um das Personal besser für kurzfristige Einsätze vorzubereiten und entsprechende Verfahren dafür aufzusetzen. Wir befinden uns jetzt seit einem Jahr in der Krise-- welche Lessons Learned würden Sie für das Thema Krisenmanagement in der Verwaltung bezogen auf die Erfahrungen im BMG ziehen? Was hat gut geklappt, wo gibt es noch Verbesserungsbedarf hinsichtlich des Krisenmanagements? Das vorbereitete Krisenmanagement des BMG hat im Kern geklappt und seine Ausrichtung und Struktur- - skalierbar, modulartig, immer aktuell- - wird sicherlich im Detail überprüft und ggfs. nachjustiert, ist aber grundsätzlich in Ordnung und sehr leistungsfähig. Mein Eindruck ist jedoch, dass wir Krisenmanagement nicht mehr länger isoliert als ein- - hoffentlich selten genutztes-- Tool im Werkzeugkasten betrachten sollten. Es hat sich gezeigt, dass es hilfreich ist, wenn das Haus und seine Beschäftigten insgesamt schnell und flexibel auf zusätzliche Herausforderungen reagieren können. Dazu müssen mehr Elemente des Projektmanagements verankert werden, Hemmnisse und Vorbehalte abgebaut und die „Projektmanagementkultur“ gestärkt werden. Der Katalog reicht von der stärkeren Verankerung in der Geschäftsordnung über diverse Elemente der Personalgewinnung und -entwicklung, geht über den Einbau in das Regelbeurteilungssystem und reicht hin bis zu speziellen Anforderungen an Führungskräfte und die Zusammenarbeit im Team bis zur Frage der Einbindung der Gremien, Personalräte, Gleichstellungsbeauftragten und Schwerbehindertenvertretungen. Das BMG hat bereits im Spätsommer des vergangenen Jahres einen „Lessons Learned“-Prozess eingeleitet und unter meiner Leitung die größeren und kleineren Handlungsfelder für die Zukunft identifiziert. Darunter sind auch relevante Bausteine, die sich weniger auf das akute Krisenmanagement, dafür aber mehr auf den angesprochenen zukünftigen Dauerbetrieb richten. Das fängt bei gezielten Fortbildungsangeboten an, führt über geänderte Anforderungen bei der Personalgewinnung, betrifft auch die Einbindung der Interessenvertretungen und hört bei einer leistungsfähigen digitalen Infrastruktur ausdrücklich nicht auf. Immer wieder wird auch über das Thema Resilienz der Verwaltung in Krisenzeiten gesprochen. Wo sehen Sie auf Grundlage der gesammelten Erfahrungen Anknüpfungspunkte dafür, diese Resilienz zu erhöhen? Es sollten bessere Projekmanagementstrukturen und -fähigkeiten im Normalbetrieb eingeführt und gepflegt werden. Das stärkt nicht nur die Resilienz in Krisen, sondern wappnet zusätzlich und ergänzend zu den weiter notwendigen Krisenplänen. Volker Düring Volker Düring war als Unterabteilungsleiter im Bundesministerium für Gesundheit unter anderem für Personal und Organisation einschließlich der bestehenden Krisenreaktionsstrukturen verantwortlich, im vergangenen Jahr unter dem Aspekt der Corona-Krise jedoch stärker für die IT im Ressort, für Bau- und Liegenschaftsangelegenheiten, alle Services im Inneren Dienst sowie für den hausinternen Gesundheits- und Arbeitsschutz. Seit Feburar 2021 treibt er das Thema „Klimaneutrale Bundesverwaltung“ für das Ressort voran. 27 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0046 Heike Kratt im Interview mit Sabine Meister Projektmanagement als Krisenmanagement in der Hansestadt Hamburg Frau Meister, Sie sind Leiterin des PMO in der Behörde für Justiz und Verbraucherschutz Hamburg. Schildern Sie uns doch zunächst Ihre Aufgaben in dieser Funktion. Zu unseren Kunden zählen die Kernbehörde mit drei Ämtern sowie die Dienststellen mit den Gerichten, Staatsanwaltschaften und dem Justizvollzug. Unser PMO besteht aktuell aus einem vierköpfigen Expertenteam. Es ist mit seinen zwei Jahren noch jung und weiterhin im Aufbau. Mit Methoden des klassischen Projektmanagements und innovativen Ansätzen wollen wir dazu beitragen, unsere Behörde organisatorisch zukunftssicher aufzustellen. Als internes Beratungsteam entwickeln wir gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen Lösungen für ihre Herausforderungen in Projekten und Prozessen sowie in der Organisationsentwicklung. Wir beraten auf Augenhöhe und geben mit Begeisterung neue Impulse in die Teams und unsere Organisation. Welche Rolle haben Sie im Rahmen der Pandemiebekämpfung übernommen? Sie waren Teil des Krisenstabs: Was haben Sie dort erlebt? Inwieweit haben Ihnen Ihre PM-Kompetenzen dort geholfen, die Herausforderungen zu gestalten? Wir haben sehr früh verstanden, dass wir eine andere Arbeitsstruktur für die Bewältigung der Corona-Pandemie, eine zentrale Anlaufstelle für die kleinen und großen Themen brauchen. Ich wurde im März 2020 gebeten, diese dafür kurzfristig eingesetzte Einheit- - den Lage- und Arbeitsstab meiner Behörde- - aufzubauen und zu leiten. Zu den wesentlichen Aufgaben gehörten die Erstellung von Lageberichten zur Entscheidungsfindung der Behördenleitung, Sicherstellung der Informationsflüsse unserer Häuser, die logistische Versorgung der Beschäftigten mit Schutzausrüstung, die Organisation von Covid-Testungen und -Impfungen für bestimmte Berufsgruppen, die Moderation von Themen-Workshops (z. B. zum Aufbau lokaler Maskenproduktion oder zur Logistik des zentralen Pandemielagers) und die Steuerung relevanter interner Aktivitäten im Zusammenhang mit der Pandemie. Dieser Lage- und Arbeitsstab ist bis heute ein wichtiger Teil des Krisenstabes. Damit konnten wir unsere Behördenleitung von der enormen Aufgabenflut entlasten und Entscheidungen unterstützen. Projektmanagement war hierbei hilfreich, denn mein neues elfköpfiges Team aus unterschiedlichen Bereichen und Professionen wurde schnell aus Freiwilligen eingesetzt. Die Teammitglieder kannten sich zum Teil nicht. Das neue Krisenteam musste also sehr zügig zusammenwachsen und sofort effektiv Aufgaben zum Schutz unserer Beschäftigten sowie der Bürgerinnen und Bürger übernehmen. Hierbei war beispielsweise zum Start das Kickoff hilfreich, in dem wir uns kennenlernten, die mitgebrachten Talente, Vorlieben, familiäre Situation und Skills der Teammitglieder herausfanden, ein gemeinsames Verständnis zur Krisenarbeit herstellten, Aufgaben identifizierten und dafür Verantwortlichkeiten geklärt haben. Welche Bedeutung hat für Sie auf der Landesebene Hamburg das Projektmanagement als Teil einer erfolgreichen Krisenbewältigung? Wir stecken aktuell in der 3. Welle und arbeiten weiter auf Hochtouren an der Krisenbewältigung. Mein Eindruck ist, dass die PMOs methodisch und praktisch die Krisenarbeit auf unterschiedlichste Art unterstützen konnten. Jedes PMO wird hier tatkräftig unterstützt haben. Wir sind sicher nur ein Beispiel von vielen in Hamburg. Konkret haben wir in der Behörde für Justiz und Verbraucherschutz zunächst die Krisenorganisation strukturell aufgesetzt. Dadurch wurden klare Entscheidungswege definiert und für die Krisenakteure der Hamburger Verwaltung sichtbar gemacht. Außerdem haben wir im Laufe der Pandemie viele neue interne Krisenprozesse identifiziert und aufgesetzt, die iterativ nach kurzen Retrospektiven angepasst wurden. Das betraf u. a. die Lageberichterstattung der Kernbehörde, der Gerichte und der Staatsanwaltschaften sowie des Justizvollzuges inklusive der Haftanstalten und auch die Schnelltestung von Beschäftigten, die zur kritischen Infrastruktur der Stadt gehören. Wie auch oft in der Projektarbeit hatten wir keine eigene fachliche Expertise im Team zum Thema Coronapandemie. Also haben wir die relevanten Experten zusammengebracht, viele Themen-Workshops organisiert, moderiert und Ergebnisse herbeigeführt, in denen es z. B. um Schnittstellenthemen in der landesweiten Beschaffung von Schutzausstattung und Pandemielogistik oder auch um den Aufbau einer regionalen Maskenproduktion für Hamburg ging. Haben die Herausforderungen der Pandemiebekämpfung aus Ihrer Sicht dazu geführt, dass die Arbeit in Projekten und das Thema Projektmanagement in der öffentlichen Verwaltung eher an Bedeutung gewonnen haben- - bezogen auf das konkrete Beispiel Hamburg? Wenn ja, woran zeigt sich das? Wenn nein, warum nicht? Die Projekte hatten vor und während der Pandemie aus meiner Sicht eine gleichermaßen hohe Bedeutung, denn damit werden wichtige Veränderungen umgesetzt. Die Pandemie hat unsere Projekte unterschiedlich stark beeinflusst. Einige Ressourcen sind zur Pandemiebewältigung aus den Projekten herausgezogen worden. Einige hatten Zeitverzögerungen, weil geplante Aktivitäten nicht mehr physisch umgesetzt werden konnten. Diverse Projekte liefen wie geplant weiter. Wir haben das große Glück, dass wir mit unserer IT in meiner Behörde schon sehr gut auf Homeoffice eingestellt waren. Trotzdem mussten sich natürlich auch unsere Projekt- Reportage Projektmanagement als Krisenmanagement der Hansestadt Hamburg DOI 10.24053/ PM-2021-0046 32. Jahrgang · 03/ 2021 Reportage | Projektmanagement als Krisenmanagement der Hansestadt Hamburg 28 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0046 teams und auch ihre Kunden komplett auf virtuelle, räumlich distanziertere Teamarbeit, andere Beteiligungsformate, Workshops und virtuelle Steuerungsgruppen einstellen. Es ist schwieriger für die Managementebene, weiterhin ihre Aufmerksamkeit bei den Projekten zu halten, wenn parallel so viele wichtige und eilige Entscheidungen in der Pandemie zu treffen sind. Das ist in den Projekten auch deutlich spürbar. Insgesamt haben wir das ganz gut gemeistert. Wir waren in Hamburg bereits vor der Krise gut aufgestellt, was das Thema Projektmanagement in Behörden angeht. Mein Eindruck ist, dass der Nutzen von PMOs und Projektmanagement in der Krise für die Entscheidungsebene ein Stück sichtbarer geworden ist. Dies wird uns sicher auch nach der Krise helfen, die Verankerung von Projektmanagement und PMOs weiter voranzutreiben. Welche Vorteile sehen Sie in einer Projektstruktur, insbesondere für eine erfolgreiche Krisenbewältigung? Haben Sie da konkrete Beispiele aus Ihrer Arbeit im Krisenstab? Jede Organisation hatte auch vor Corona ihren Pandemieplan in der Schublade liegen, aber ein Plan und die erlebte Realität unterscheiden sich dann doch. Wir betraten hier-- wie in einigen hochkomplexen Projekten- - absolutes Neuland. Projektmanagement bietet einen schnellen Einstieg und Aufbau von notwendigen Strukturen, operativen Prozessen und natürlich von Entscheidungsprozessen, die uns bei der Pandemiebewältigung helfen. Was haben wir z. B. getan? Wie in einem neuen Projekt haben wir anfangs relevante Informationen zusammengetragen, um inhaltlich das Big Picture der Pandemie zu verstehen. Ziele, Arbeitspakete und Verantwortlichkeiten mussten definiert werden, damit wir alle in die gleiche Richtung arbeiten und jeder weiß, was er oder sie zu tun hat. Im Kern ging es von Beginn an darum, Schaden von der Bevölkerung und den Beschäftigten abzuwenden und in unserer Kernaufgabe auch den Rechtsstaat in seinen Funktionen aufrechtzuerhalten. Der Auftrag lag für uns also u. a. im Risikomanagement. Zudem mussten wir extrem schnell und zielorientiert neue Krisenprozesse aufsetzen und Schnittstellen zu anderen Kriseneinheiten unseres Bundeslandes und des Bundes bedienen. Auch agile Arbeitsweisen waren nützlich für uns, denn mein Team musste unter zum Teil schwierigen Arbeitsbedingungen bei ständig wechselnden Rahmenbedingungen der Infektions- und politischen Beschlusslage bis heute Höchstleistung erbringen. Wir haben in der Startphase klassische und dann zügig agile Methoden eingesetzt, wie Dailys und Retrospektiven. Hier haben wir projektorientiert gearbeitet und das hat dazu beigetragen, die komplexen Herausforderungen der Krise strukturierter und auch schneller bearbeiten zu können. Welche Lessons Learned würden Sie aus Ihrer Arbeit im Krisenstab ziehen: Was ist gut gelaufen, was müsste sich für die nächste Krise verändern und welche Rolle spielt PM dabei? Meine persönlichen Lessons Learned aus der Arbeit im Krisenstab sind: Die Dynamik, Lernkurve, Motivation und die Belastung des Teams waren sehr hoch. Moderationserfahrungen, Prozess- und Projektmanagement haben uns in dieser zentralen Aufgabe sehr geholfen. Unterschätzt habe ich, dass meine Teammitglieder alle über einen langen Zeitraum die eigentlichen Kernaufgaben nicht ausüben konnten. Dies hatte Auswirkungen auf die Arbeit meines PMOs, das fast drei Monate stillstand, und natürlich auf die Tätigkeit der anderen Teammitglieder. Nach der ersten Welle haben wir unsere eigentlichen Aufgaben zum Teil wieder hochgefahren, dann kam die zweite Welle, sodass das Krisenteam zum Teil die Linien- und Krisenaufgaben gleichzeitig zu bewältigen hatte. Einsatzdauer und Belastung waren in dieser Pandemie schwer planbar. Was macht das mit der Gesundheit? In der Krisenarbeit wird sieben Tage die Woche gearbeitet. Meine Learnings sind, dass wir diese Krise durch viel Menschenkraft bewältigen und Menschen werden nach langen, mental schwierigen Einsätzen müde. Sie brauchen Pausen, um gesund zu bleiben und die Pandemie bewältigen zu können. Es gibt auch in Krisenteams belastende Situationen in ihren Familien. Insofern haben wir in Bezug auf Belastungssteuerung im Team dazulernen müssen, denn anfangs sind wir-- wie viele Menschen-- nicht von einem derartig langen Marathon ausgegangen und haben viel Energie eingesetzt. Ich würde darum das Krisenteam künftig von Beginn an wegen der enormen Dauerbelastung auskömmlicher aufstellen und mit mehr Puffer planen. Die Dynamik der vielfältigen Informationen war ebenso herausfordernd. Es kostet viel Zeit und Energie, wesentliche Informationen aufzubereiten und an die relevanten Stellen weiterzugeben, wenn sie sich sofort wieder überholen. Was sind die spezifischen Herausforderungen in dieser Krise auf Landesebene Hamburg gewesen und inwieweit hat Projektmanagement zur Bewältigung dieser Herausforderung beigetragen? Ich denke, alle Länder hatten ähnliche Herausforderungen. Für viele von uns war neu, dass wir uns überhaupt mit derartigen Themen befassen mussten. Die wenigsten von uns sind Pandemiemanager. Die wenigsten kannten sich mit dieser Materie aus. Wir hatten zu Beginn der Krise die Schwierigkeit, dass wir alle mit der Mangelsituation der Schutzausrüstungen kämpfen mussten und sinnvolle Kriterien für die Priorisierung aufstellen mussten, welche Beschäftigten die wenigen Masken bekommen, um den Dienstbetrieb aufrechtzuerhalten. Mit für uns völlig neuer Materie mussten wir uns befassen, dazu zählten z. B. Masken, Desinfektionsmittel und Reinigungsintervalle, Raumlüfter, Trennscheiben, Impfungen, Logistik und Lagerhaltung, audiovisuelle Vernehmungen und Verhandlungen. Wir haben uns mit Hilfe unseres PM-Know-how sehr schnell aufstellen können. Wir waren zügig in der Lage, unsere Aufgaben gut zu steuern. Wie in der Projektarbeit konnten wir unterschiedlichen Experten und Bereiche zusammenbringen und vernetzen, um die sich stellenden Fragen bewegen, beantworten und planen zu können. Risikomanagement half uns inhaltlich auch bei der Krisenbewältigung. Es gab eine große Anzahl präventiver und kurativer Maßnahmen sowie ein laufendes Monitoring über die Lageberichte, die uns die Wirkung unserer Schutzmaßnahmen aufzeigte und der Behördenleitung Daten bot für wichtige Entscheidungen. Das Team hätte ebenso an Corona erkranken können. Darum haben wir nach kurzer Zeit die Hauptprozesse detailliert beschrieben, überwiegend virtuell zusammengearbeitet und die Teamrollen für diesen Notfall dreifach besetzt. Prozess- Reportage | Projektmanagement als Krisenmanagement der Hansestadt Hamburg und Stakeholdermanagement war sehr hilfreich für das Aufstellen der Krisenprozesse. Sie sind in der GPM als Fachgruppenleitung Projektmanagement in der ÖV ehrenamtlich tätig, Ihr persönliches Resümee: Wie kann das Potenzial für Projektmanagement für eine erfolgreiche Krisenbewältigung durch die Verwaltung genutzt werden? Was müsste sich hier ggf. ändern- - für die nächste Krise? Im Projektmanagement steckt ein großes Potenzial zur Bewältigung von Krisen. Professionell ausgebildete Projektmanagerinnen und Projektmanager sind auch in Krisenprojekten flexibel einsetzbar und darauf trainiert, schnell komplexe Aufgaben zu durchdringen, Aufgaben, Prozesse und Entscheidungswege zu strukturieren und ziel- und risikobasiert zu steuern. Dafür muss sich die Organisation über dieses enorme Potenzial bewusst sein, in solchen Ausnahmesituationen bewusst umpriorisieren und diese Ressourcen hierfür gezielt einsetzen. Meine Behörde ist dafür ein gutes Beispiel von vielen. Sabine Meister Sabine Meister ist Leiterin des PMO in der Behörde für Justiz und Verbraucherschutz Hamburg und leitet in der GPM die Fachgruppenleitung Projektmanagement in der öffentlichen Verwaltung. Seit Beginn der Corona-Krise unterstützte sie ihre Behörde durch den Aufbau des Lage und Arbeitsstabes und leitete diesen Stab neben ihrem PMO für ein Jahr. Mit ihren vielseitigen Moderations- und Projektmanagmentskills gestaltete sie aktiv neue Krisenprozesse und bewältigte mit ihrem Team verschiedenste Themenfelder in der Corona-Pandemie. Anzeige Project Office ist Enterprise-Software für beeindruckende Projekte wie den Gotthard- Basistunnel. Agiles Teamwork und hohe Prozesssicherheit verbinden sich dabei zu konsequent hybridem Projektmanagement. Mit agilen Elementen wie Task Boards, Issues und Activities machen Sie Ihre Teams schneller und produktiver. Bewährte Elemente wie die Planung der Ecktermine liefern zuverlässige Leitplanken. Erfolgreiche Projekte durch verlässliche Prozesse und bessere Teamarbeit Engineering success - the agile way EVENT | CONTACT Cloud Connect 2021 Energizing digital sovereignty for your resilient business 21. & 22. September 2021 https: / / bit.ly/ 3fqudWR energizing great minds contact-sofware.com 30 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0047 Heike Kratt im Interview mit Tanja Krins Bedeutungsgewinn von Projektmanagement in der Corona-Krise am Beispiel der Stadt Köln Frau Krins, Sie leiten die Geschäftsstelle Digitale Agenda in der Stabsstelle Digitalisierung der Stadt Köln, was genau sind dort Ihre Aufgaben? Zu meinen Aufgaben gehören u. a. die Leitung der dezernatsübergreifenden Plattform (Steuerungsgruppe) der Digitalen Lots*innen, die Multiplikator*innen für das Thema Digitalisierung in den Dezernaten und Dienststellen der Stadt sind; das Projektcontrolling und die interkommunal, ebenen- und branchenübergreifende Zusammenarbeit, beispielsweise die Entwicklung von Standards für intelligent vernetzte Städte im Arbeitsausschuss „Nachhaltige Entwicklung in Kommunen“ und im Rahmen des Nationalen Digitalgipfelprozesses sowie aktuell die aktive Einbindung in das vom BMI geförderte Smart City Projekt un|box. Welche Rolle spielt hier das Thema Projektmanagement? Projektmanagement ist zum einen für die übergreifende Projektsteuerung relevant. Hier besteht die Herausforderung darin, bei den gesamtstädtischen Vorhaben und Maßnahmen einerseits Redundanzen, Synergien und auch Ressourcenengpässe (vor allem bezogen auf unseren städtischen IT- Dienstleister) zu erkennen und nach Möglichkeit aufzulösen. Andererseits führen wir selber in der Stabsstelle Projekte durch: Diese reichen von Veranstaltungen im Rahmen unserer Reihe #koelndigital, Beteiligungen am bundesweiten Digitaltag über konkrete Digitalisierungsvorhaben zur Pilotierung neuer Technologien bis zum großen un|box-Förderprojekt. Wie haben sich Ihre Aufgaben durch die Herausforderungen der Pandemiebewältigung verändert? Die Aufgaben haben sich inhaltlich grundsätzlich nicht verändert. Neu ist, dass wir nunmehr alle Tätigkeiten vollständig digital abwickeln, da wir überwiegend im Home-Office arbeiten. Das stellt geänderte Anforderungen an die Kommunikation: Der persönliche Austausch findet nur in Videokonferenzen oder per Telefon statt, nicht mehr in großen Projektrunden vor Ort. Interaktive Workshops können zwar in Teilen digitalisiert werden, aber die Aufmerksamkeitsspanne am Rechner bei mehrstündigen Videokonferenzen ist anders als vor Ort. Hier ist ein stringentes Zeitmanagement noch wichtiger als beim Austausch vor Ort, um die Aufmerksamkeitsspanne hoch zu halten und auch immer alle Teilnehmer*innen im virtuellen Meeting aktiv anzusprechen und einzubinden. Hat sich die Rolle von Projektmanagement in der Krise verändert? Nach meiner persönlichen Wahrnehmung hat Projektmanagement durch die Krise durchaus eine Schubwirkung erfahren-- wir sprachen ja bereits beim Zukunftskongress 2020 darüber. Die Bedeutung, Projekte mit konkreten Zielvereinbarungen, einer klaren Projekt- und Organisationsstruktur und einem Zeit-Maßnahmen-Plan gut durchzuplanen, ist über die bereits heute Projektmanagement-affinen Bereiche hinaus deutlich geworden. Insofern hat sich zwar nicht die Rolle von Projektmanagement verändert, aber dessen Wahrnehmung. Der Nutzen von Projektmanagement ist deutlicher geworden-- es ist klarer geworden, dass man bestimmte Themen von Anfang an als Projekte aufsetzen muss und sich bestimmte Fragen stellen sollte, damit das Thema erfolgreich bearbeitet werden kann. Welche Bedeutung hatte es für die Krisenbewältigung, dass die Stadt Köln im Bereich des Projektmanagements gut aufgestellt ist? In Köln verfügen wir seit vielen Jahren, insbesondere bei unserem IT-Dienstleister, dem Amt für Informationsverarbeitung, aber auch im Organisationsbereich über dezidierte Erfahrungen mit Projektmanagement. Im Rahmen der Verwaltungsreform wurde 2019 mit externer Expertise unter Federführung des Referats für Strategische Steuerung ein Handbuch zum Projektmanagement erstellt, das aktuell in der zweiten Version zur Verfügung steht. Hinsichtlich der Umsetzung setzten wir mit Open Project auf eine auf die Anforderungen einer Kommunalverwaltung angepasste Open-Source-Lösung. Diese Expertise war sehr hilfreich, um 2020 in der Pandemie kurzfristig Projekte zu initiieren und erfolgreich durchzuführen, die die Stadt bei der Krisenbewältigung unterstützen. Als einige Beispiele möchte ich nennen: • die Ausweitung des Home-Office Angebots von 6.800 Zugängen auf 15.000), • der ergänzende orts- und endgeräteunabhängige Zugang zum städtischen Netz über einen webbasierten endgeräteunabhängigen Arbeitsplatztyp wurde ausgeweitet (auf >19.000 Nutzer*innen) • die Entwicklung einer Lösung für ein digitales Kontakt- und Indexpersonenmanagement zur Unterstützung des Gesundheitsamtes, eine agile Lösung, die auch vom RKI positiv bewertet wurde, • die konsequente Etablierung virtueller und compliancekonformer Besprechungsformate (Videokonferenzen/ Telefonkonferenzen) • die Priorisierung des Personaleinsatzes-- eine toolgestützte kaskadierende Einsatzplanung durch unser Personal- und Verwaltungsmanagement. Welche besonderen Herausforderungen bestehen auf kommunaler Ebene hinsichtlich der Krisenbewältigung? Reportage Projektmanagement als Krisenmanagement auf kommunaler Ebene DOI 10.24053/ PM-2021-0047 32. Jahrgang · 03/ 2021 Reportage | Projektmanagement als Krisenmanagement auf kommunaler Ebene 31 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0047 Eine erfolgreiche Krisenbewältigung geht immer nur vernetzt. Dies gilt sowohl für die Beteiligten in der kommunalen Verwaltung, als auch innerhalb der jeweiligen Kommune (Wirtschaft, Zivilgesellschaft, Politik und Verwaltung) und darüber hinaus. Wir haben ja gesehen, wie wichtig die ebenenübergreifende Zusammenarbeit und die bundesweite Vernetzung im föderalen System sind. Auf kommunaler Ebene ist dabei zu berücksichtigen, dass Kommunen unterschiedlich aufgestellt sind: Durch interkommunale Kooperation lassen sich hier nach meiner persönlichen Erfahrung gute Lösungen anderer Kommunen nachnutzen und auch gemeinsam (aufwandsminimierend) Lösungen entwickeln. Der Austausch in der GPM-Fachgruppe „Projektmanagement in der Öffentlichen Verwaltung (PM-ÖV)“ unterstützt hier sehr. Hier kann ebenenübergreifend und offen diskutiert werden. Im föderalen System haben wir die Schwierigkeit, dass die Kommunen den Ländern zugeordnet sind, sie demnach keine direkte Schnittstelle mit dem Bund haben. Hier bleibt die weitere Entwicklung abzuwarten. Im Gespräch auf dem Zukunftskongress erwähnten Sie eine sehr hohe Anpassungs- und Veränderungsbereitschaft bei vielen Kolleginnen und Kollegen. Ist die Bereitschaft auf einem gleich hohen Niveau geblieben und glauben Sie, dass diese Bereitschaft zu langfristigen Veränderungen in der Verwaltungskultur führen kann, und wenn ja, welche sind das? In den vergangenen Monaten habe ich persönlich weiterhin ein sehr hohes Interesse an einer pragmatischen Lösungsorientierung wahrgenommen. Die agile Anpassung der internen Prozesse (beispielsweise beim Umgang mit Kernarbeitszeiten und mobiler Arbeit) hat eine bei den Beschäftigten direkt spürbare Wirkung erzielt. Die ressortübergreifende Zusammenarbeit, die veränderte Kommunikation der Kolleg*innen untereinander und innerhalb der Hierarchie werden die Unternehmenskultur (und die Führungskultur) nachhaltig prägen. Insgesamt hat die Digitalisierung der Verwaltung einen Innovationsschub erlebt. Dies werden wir sicherlich erst rückblickend konkret bewerten können. Es ist jedoch bereits jetzt erkennbar, dass die Digitalisierung mehr als Projekt- und Prozessthema verstanden wird. Digitalisierung wird nicht mehr als reines IT-Thema wahrgenommen- - es wird stärker als ganzheitlicher Transformationsprozess verstanden. Deshalb ist der Vernetzungsgedanke ungemein wichtig. Die Zusammenarbeit rückt mehr in den Fokus- - sowohl innerhalb einer Kommune als auch zwischen den Kommunen als auch zu anderen Akteur*innen z. B. aus der Wirtschaft. Deshalb bekommt Projektmanagement auch im Hinblick klarer Rollen, klarer Verantwortlichkeiten und klarer Strukturen, Schnittstellenmanagement und Stakeholdermanagement mehr Gewicht. Die Expertise, die man aus der Beschäftigung mit Projektmanagement gewinnt, und die Übertragung auf die Behördenstrukturen und Aufgaben sind vor diesem Hintergrund besonders hilfreich. Welche Maßnahmen sollten ergriffen werden, um auf kommunaler Ebene einerseits Projektmanagement-Nachwuchs zu fördern, aber andererseits auch bereits aktive Mitarbeitende im Bereich des Projektmanagements zu unterstützen? Hier müssen wir zwischen der Ausbildung und der Praxis unterscheiden. In der Ausbildung sind die Curricula der Hochschulen der Öffentlichen Verwaltung, aber auch (mit Blick auf die Verwaltungsspitze) die an Universitäten, hier insbesondere der juristischen Ausbildung zu betrachten. Es wäre sehr sinnvoll, dass das Thema Projektmanagement hier systematisch und strukturell stärker verankert wird. In der Praxis gibt es bereits unterschiedliche organisatorische Ansätze in den einzelnen Kommunen, vom Projektbüro bis zu strategischen Einheiten. Ihnen allen ist gemein, dass über Leitfäden und Schulungen die Expertise in die Verwaltung gebracht wird. Sehr wichtig ist auch hier die Vernetzung. Projektbüros, die unterstützend und begleitende Methoden und Expertisen einbringen, sind aus meiner Sicht ein wirklich wichtiger Baustein. Die Mitarbeiter*innen der Projektbüros sollen nicht die Projekte selbst umsetzen, sondern den Projektleiter*innen die entsprechende Unterstützung geben, um Projekte erfolgreich zu gestalten. Lessons Learned seit dem Sommergespräch 2020: Was ist gut gelaufen, wo muss sich noch was tun, um für die nächste Krise besser aufgestellt zu sein-- welche Rolle sollte dabei Projektmanagement haben? Rückblickend auf den Sommer 2020 kann man sagen, dass die Verwaltung eine hohe Bereitschaft gezeigt hat, auf die aktuelle, komplexe Situation rasch zu reagieren. Die Beschäftigten haben mit großem Engagement die Herausforderungen angenommen, Angebote digital ermöglicht und flexibel die Gesundheitsämter vor Ort unterstützt. Die Bedeutung einer funktionsfähigen staatlichen Verwaltung, die am Gemeinwohl interessiert ist, wurde deutlich. Zugleich zeigte sich, wo die Digitalisierung der Verwaltung an ihre Grenzen stößt: sei es rechtlich, sei es prozessual. Hier gibt es noch Nachsteuerungsbedarf. Da geht es auch um Fragen der ebenenübergreifenden Zusammenarbeit und Fragen von Auswirkungen bestimmter gesetzgeberischer Regelungen. Grundsätzlich ist Projektmanagement kein abgeschlossener Begriff, sondern befindet sich in einer stetigen Fortentwicklung. Leitfäden, Handbücher und organisatorische Modelle zur Umsetzung sind kontinuierlich zu hinterfragen und anzupassen. Die Erfahrungen der Krise können und sollten wir im Sinne von „Lessons Learned“ dazu künftig aufgreifen. Für mich persönlich ist eine wichtige Lessons Learned: Präsenz ist nicht immer notwendig und flexiblere Lösungen sind auch in der Verwaltung möglich und sinnvoll. Intern hat das digitale Arbeiten durchaus dazu geführt, dass das ziel- und ergebnisorientierte Arbeiten stärker in den Fokus gerückt ist. Das führt dazu, dass auch die „Nutzerseite“, die Bürger*innen-- auch im Sinne der agilen Haltung-- früher und konsequenter in den Blick genommen wird. Tanja Krins Tanja Krins leitet die Geschäftsstelle Digitale Agenda in der Stabsstelle Digitalisierung der Stadt Köln. 32 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0048 Methodik zur Vermessung von Unsicherheit in Projekten Frank Habermann Für eilige Leser | Die Beschäftigung mit „Unsicherheit“ ist beides-- gegen unsere menschliche Natur und unerlässlich für den Erfolg jedes Projekts. Die Methode „Uncertainty Mapping“ hilft, diesen scheinbar unlösbaren Widerspruch zu überwinden. Durch einen strukturierten Dialog werden die Projektbeteiligten in die Lage versetzt, zum wahren Kern von Unsicherheiten vorzudringen. Das Überraschende daran: es dauert nicht länger als das übliche Vorgehen und es gibt sogar Energie! In nur zwei Stunden können Gruppen mit bis zu 20 Personen zu wirklich tiefen Einsichten gelangen-- und einander besser verstehen. Der Artikel beschreibt den konzeptionellen Hintergrund und gibt eine Schritt-für-Schritt-Anleitung zur Anwendung der Methode. Schlagwörter | Unsicherheit, Komplexität, Entscheidungsfindung, langsames Denken, Wahrnehmung, Risikomanagement, Maßnahmenplanung, Projektplanung Von Benjamin Franklin soll der schöne Spruch stammen, dass im Leben nichts sicher sei- - außer Steuern. Nun war Benjamin Franklin kein Projektmanager. Wäre er das gewesen, was hätte er wohl über „Unsicherheit“ gesagt? Vielleicht, dass „in Projekten gar nichts sicher sei-- außer der Unsicherheit“. Oder dass „am Ende des Budgets sicher noch Projekt übrig ist“. Vielleicht hätte er aber auch etwas völlig anderes gesagt? Wir wissen es nicht! Was wir aber wissen, ist, dass der Umgang mit „Unsicherheit“ zu den ganz großen Herausforderungen im Projektmanagement zählt. Planen, Schätzen, Anforderungsmanagement: alles erfolgt unter Unsicherheit. Unsicherheit ist der Schlüssel zum Projekterfolg. Deshalb müssen wir lernen, professionell(er) mit Unsicherheit umzugehen. Der zweite Teil dieses Artikels stellt dafür eine neuartige Methode vor. Doch zunächst zu Grundsätzlichem, das jeder Projektprofi beherzigen sollte. Teil 1: Das Wesen von Unsicherheit Wie wir „Unsicherheit“ verstehen Zum professionellen Umgang gehört zunächst einmal, dass wir verstehen, was „Unsicherheit“ überhaupt ist. Oder besser: was Menschen unter „Unsicherheit“ verstehen. Etwa „Ungewissheit“, „Unwissenheit“ oder „Unklarheit“. Folgt man Gesprächen-- an Stammtischen ebenso wie in Business-Etagen- - , so gehen die Begriffe wild durcheinander. Offenbar assoziieren Menschen verschiedene Dinge mit Unsicherheit-- wir Menschen haben ein intuitives Verständnis davon, was „Unsicherheit“ bedeutet. Und dieses intuitive Verständnis ist abweichend von dem der Betriebswirtschaftslehre (BWL). Denn die BWL definiert Unsicherheit als „ein zukünftiges Ereignis, dessen Eintreten wir nicht beeinflussen können“. Falls wir vom Eintreten des Ereignisses eine negative Wirkung erwarten, nennt die BWL das „Risiko“. Unsicherheit resultiert aus Komplexität Die Welt ist unsicher und risikobehaftet. Das war schon immer so- - lange bevor der Begriff „VUKA“ die Runde machte. Man denke nur an das Risiko eines Atomkriegs in der zweiten Phase des 20. Jahrhunderts oder die Risiken, die mit der Nutzung von Kernenergie einhergehen. Diese Risiken haben-- zumindest in Deutschland- - abgenommen. Dafür sind andere hinzugekommen. Wie sieht die Gesamtbilanz aus: Ist die Welt tatsächlich unsicherer geworden? Vermutlich. Denn sowohl die Komplexität als auch die Schnelllebigkeit haben zugenommen. Globale Verflechtungen, Digitalisierung und Klimaerwärmung sind die Treiber einer Veränderungsdynamik, die wir seit Jahren erleben. Und diese Veränderungsdynamik ist immer weniger so stetig und linear, wie sich das viele wünschen. Stattdessen ist sie sprunghaft, unvorhersehbar und existenziell. Sie ist das, was man mit dem Modewort „disruptiv“ bezeichnet. Und unvorhersehbare Disruption macht die Welt- - mitsamt ihren Projekten-- tatsächlich unsicherer. Wissen Methodik zur Vermessung von Unsicherheit in Projekten DOI 10.24053/ PM-2021-0048 32. Jahrgang · 03/ 2021 Wissen | Methodik zur Vermessung von Unsicherheit in Projekten 33 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0048 Wir fühlen uns zunehmend unsicher Doch noch etwas anderes hat sich geändert. Dieses Andere ist unser subjektives Empfinden: Wir fühlen uns zunehmend unsicher! Der Grund dafür ist allerdings nicht allein die „tatsächliche Unsicherheit“ wie im vorherigen Absatz skizziert. Hauptverantwortlich ist vielmehr die mit dem rasanten Wandel von Technologien und Systemen einhergehende „Unwissenheit“ bzw. „Unbekanntheit“. Zunehmend stehen wir vor neuartigen Situationen und Technologien- - diese sind bereits „real existierend“, also sehr sicher. Doch wir kennen sie (noch) nicht, wir haben keine Erfahrungswerte, wie wir damit umgehen sollen. Und dies verunsichert uns-- bis hin zu Angst und Panik und entsprechend schlechten Entscheidungen. Wir streben zunehmend nach Sicherheit Zu den Paradoxien in unsicheren Zeiten zählt, dass Menschen nach Sicherheit streben. Die Corona-Pandemie hat das mehr als verdeutlicht. Viele Menschen wünschten sich bereits zu Beginn der Pandemie „klare Perspektiven“ und „verbindliche Pläne“. Ganz ohne Wertung! Offenbar fühlt sich Unsicherheit für die meisten Menschen nicht gut an. Und die Beschäftigung mit (tatsächlicher und gefühlter) Unsicherheit ebenso wenig. Oder anders ausgedrückt: Unsicherheiten nerven! Denn der Versuch, blinde Flecken zu beseitigen und das Unvorhersehbare zu managen, erfordert, sich tief in etwas einzuarbeiten und die Dinge wirklich verstehen zu wollen. Diese Art der Beschäftigung birgt zwei riesige Herausforderungen für jeden einzelnen von uns. Erstens verlangt sie nach der Einbindung von verschiedenartigen Expertisen, von „Besserwissern“ aus anderen Disziplinen (und allein die Tatsache, dass das Wort „Besserwisser“ in Deutschland negativ besetzt ist, verdeutlicht den Kern der Herausforderung). Zweitens bedingt sie eine offene und ehrliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Unwissen- - das ist nicht nur anstrengend und unangenehm, es ist häufig auch das Gegenteil des (Selbst-) Verständnisses von Leistungsträgern. Denn diese sollen doch bitteschön „effektive Lösungen aufzeigen“ und nicht „unnötig problematisieren“. „Illusion von Wissen“ ist der größte Feind Im Umgang mit Unsicherheit brillieren Menschen vor allem mit Seitwärts- und Ausweichbewegungen. Lieber ein falscher Plan als keiner! Die erfahrene Führungskraft rechtfertigt dies routiniert mit „akutem Zeitdruck“ und der Notwendigkeit eines „effizienten Vorgehens“. Dabei wird leider allzu häufig übersehen, welchen Wert Wissenslücken und Unklarheiten für den Projekterfolg besitzen. Besitzen können , sollte ich besser sagen. Voraussetzung ist nämlich, dass Wissenslücken aktiv gesucht und rechtzeitig identifiziert werden. Denn merke: Auch das Wissen um eine Wissenslücke ist bereits Wissen! Die Engländer bezeichnen das zutreffend als „Known Unknown“. Besitzt man dieses Wissen, kann man damit arbeiten-- die Wissenslücke lässt sich reduzieren. Das Gegenteil davon ist „Illusion von Wissen“-- die eingebildete Sicherheit und scheinbare Klarheit (etwa von Zielen und Anforderungen). Sie ist der größte Feind guter Entscheidungen und erfolgreicher Projekte. Denn „Illusion von Wissen“ bedeutet nichts anderes als „Blindheit gegenüber der eigenen Blindheit“. Es handelt sich hierbei um ein häufiges Phänomen in Projekten, eine Art Klarsicht- und Durchblickfehler. Ein trüber Fleck auf der (Projekt-)Managementlinse. Doch dieses Handicap ist weder angeboren noch unheilbar. Wir können dagegen angehen. Wie das funktioniert, zeigt der nun folgende zweite Teil. Teil 2: Die Vermessung der Unsicherheit Die Methode „Uncertainty Mapping“ „Uncertainty Mapping“ ist eine visuelle Managementmethode. Sie hilft, Unsicherheiten zu (a) identifizieren, (b) zu klassifizieren und (c) geeignete Maßnahmen für den Umgang damit festzulegen. Dieses „Vermessen von Unsicherheiten“ ist besonders hilfreich in der Vorbereitungs- und Startphase von Projekten. Die Methode kann aber auch sehr gut in einem laufenden Projekt genutzt werden, etwa in festgefahrenen Situationen oder nach einem wichtigen Etappenziel bzw. Sprint. „Uncertainty Mapping“ wurde von der Innovationsgemeinschaft „Over the Fence“ entwickelt und erprobt- - in dutzenden Projekten. Die Methode kombiniert traditionelle Instrumente des Projektmanagements (s. [1]) mit agilen Praktiken, Abbildung 1: Uncertainty Map (Quelle: [2, S. 125]) Wissen | Methodik zur Vermessung von Unsicherheit in Projekten 34 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0048 psychologischen Erkenntnissen und Leadership-Techniken (s. [2], [3], [4]). „Uncertainty Mapping“ stellt die Projektbeteiligten in den Mittelpunkt. Im Zuge des Verfahrens erlangen die für ein Vorhaben maßgeblichen Akteure (Team, Kunden und andere Stakeholder) Klarheit über dessen Unsicherheiten. Der Witz dabei: Die Methode schafft durch entspannten Dialog und sachorientierte Informationsanalyse sehr rasch die Basis für ein gemeinsames, tiefes Verständnis. Dabei können die beteiligten Personen von ihren intuitiven Annahmen ausgehen-- die durchaus sehr unterschiedlich sein können (und normalerweise auch sind). „Uncertainty Mapping“ hilft jedem Projektakteur eigene „blinde Flecken“ zu erkennen und es hilft der Gruppe, tatsächliche Projektunsicherheiten zu identifizieren. Und die Methode hat noch einen weiteren nicht zu unterschätzenden Effekt: Während eines „Uncertainty Mapping“- Workshops lernen die Akteure sich sehr viel besser kennen, sie lernen wie die anderen „ticken“ und die professionellen Perspektiven der anderen wertzuschätzen. Visuelle Form (Template) Abbildung 1 veranschaulicht die „Uncertainty Map“, die visuelle Form der Methode. Ihre Einfachheit ermöglicht das leichtgewichtige Sammeln und Sortieren von „Unsicherheiten“. Unterstützt wird dies durch natürliche Sprache und allgemeinverständliche Metaphern. Dadurch wirkt die Methode inklusiv für Beteiligte aus allen Disziplinen-- die Teilnehmenden werden dort abgeholt, wo sie sind, nämlich bei ihrem bestehenden Vorverständnis von „Unsicherheiten“. „Mit welchen Unsicherheiten ist das Projekt konfrontiert? “. Diese Kernfrage bildet die Überschrift jeder „Uncertainty Map“. Ferner ist die Form zweigeteilt. Links (unter dem Symbol der „Hand“) werden alle Punkte gesammelt, an denen die Akteure eines Projekts noch arbeiten können (sie können aktiv werden, d. h. „Hand anlegen“). Diese Punkte betreffen Unklarheiten oder Unwissen, d. h. „Blind Spots“, zu denen (noch) nicht genügend Informationen vorliegen. Kennt man diese Blind Spots, kann man daran arbeiten- - und sie reduzieren oder gar vollständig beseitigen. Typische Punkte, die in diese Kategorie fallen sind: • unbekannte Meinungen und Einstellungen von wichtigen Stakeholdern, • Situationen und Bedingungen, die unbekannt sind (aber bereits existieren), • Methoden, Tools, oder auch Räumlichkeiten, die im Projekt genutzt werden sollen, aber nicht ausreichend bekannt oder geübt sind. Im Gegensatz dazu sammelt die rechte Seite (unter dem „Auge“) Ereignisse , die in der Zukunft liegen und deren Eintreten durch die Projektakteure auch nicht beeinflussbar ist. Dies ist wichtig: was rechts steht, existiert noch nicht und ob es jemals existieren wird, entzieht sich vollständig dem Einfluss der Projektbeteiligten. Es sind „tatsächliche Unsicherheiten“! Da ihr Eintreten nicht in der Macht der Akteure liegt, können diese Sachverhalte lediglich beobachtet werden. In tatsächlichen Unsicherheiten liegen Chancen und Risiken, je nachdem, ob von dem Eintreten des unsicheren Ereignisses eine überwiegend positive oder negative Wirkung erwartet wird. Typische Punkte, die in diese Kategorie fallen, sind: • das Erlassen eines neuen Gesetzes oder einer Verordnung (mit Relevanz für das Projekt), • das Ausscheiden eines kommerziellen Projektpartners (z. B. durch dessen Bankrott), • technische Störungen oder Angriffe auf die Infrastruktur des Projekts (z. B. durch Cyber-Kriminalität). Schritt-für-Schritt Leitfaden „Uncertainty Mapping“ ist ein moderierter Dialog nach den Grundregeln des langsamen Denkens [2, s. bes. S. 134ff]. Angewendet wird die Methode in Workshops (mit einer Dauer von 2 Stunden; bei großen Gruppen auch länger). Durch gezielt eingesetzte Musterbrecher entsteht eine unaufgeregte Atmosphäre mit hoher Sachorientierung. Der formalisierte Gesprächsablauf gewährleistet zudem, dass jeder Teilnehmende gleichermaßen Raum bekommt, seine Gedanken zu äußern. Wie das funktioniert, wird nun beschrieben, und zwar Abbildung 2: Uncertainty Map, Informationserhebung (nach Schritt 1) Wissen | Methodik zur Vermessung von Unsicherheit in Projekten 35 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0048 für die Rolle eines „Moderators“ (generisches Maskulinum- - gemeint sind alle Menschen). Schritt 1: Unsicherheiten erheben Als Moderator eines „Uncertainty Mapping“-Workshops bringst du alle relevanten Akteure in einem Raum zusammen. Der Workshop kann in kleinem Kreis stattfinden oder in großer Runde (2 -20 Personen). Nachdem du den Zweck des Workshops erklärt hast, lädst du alle Teilnehmenden zu einem „Silent Brainstorming“ ein. Jeder soll schweigend und für sich allein über die Frage nachdenken: „Mit welchen Unsicherheiten ist das Projekt konfrontiert? “ Die Antworten werden auf Haftzettel notiert. Gib fünf Minuten Zeit. Bitte anschließend eine erste Person, ihre Haftzettel an einer Pinnwand anzubringen und die Antworten kurz vorzustellen. Anhand der Erläuterungen wird schnell ersichtlich, was „Unsicherheit“ für diese Person bedeutet. Die anderen Akteure hören schweigend zu und erkennen das Verständnis der anderen Person und ihre Sichtweise auf Unsicherheiten im Projekt. So werden Annahmen der Person bewusst und greifbar gemacht. Zu diesem Zweck ist es sehr hilfreich, wenn an dieser Stelle keine Rückfragen zugelassen werden und keine Diskussion aufkommt (wer sich intensiver mit den Vorteilen dieses Verfahrens beschäftigen mag: im Buch „Hey, nicht so schnell! “ sind die Techniken des „langsamen Denkens in einem Workshop“ ausführlich erklärt). Ist die erste Person fertig, geht es Person für Person weiter. Sind alle durch, ist ein Bild mit zahlreichen Haftzetteln entstanden (s. Abbildung 2). Das darf bestaunt werden! Die Runde ist beendet, wenn Verständnisfragen geklärt sind und jeder Akteur die Argumente aller anderen Akteure verstanden hat. Schritt 2: Unsicherheiten klassifizieren Teile nun die Arbeitsfläche in eine rechte und eine linke Hälfte (wie auf der visuellen Vorlage). Nimm dann einen beliebigen beschriebenen Haftzettel, lies ihn laut vor und frage in die Runde: „Können wir in diesem Punkt irgendwie aktiv werden, um die Unsicherheit zu beseitigen? “. Ist dies einvernehmlich der Fall, hänge den Haftzettel nach links (unter die Hand). Ist es einvernehmlich nicht der Fall, hänge den Haftzettel nach rechts (unter das Auge). Falls die Gruppe kein rasches Einvernehmen erzielt, positioniere den Haftzettel in der Mitte. Sortiere so in rascher Folge alle Zettel. Vermutlich wirst du das gleiche erleben, wie ich bei meinen Workshops: die aller- Abbildung 4: Uncertainty Map, Maßnahmenplanung (nach Schritt 3 und 4) Abbildung 3: Uncertainty Map, Klassifizierung von „Unsicherheiten“ (nach Schritt 2) Wissen | Methodik zur Vermessung von Unsicherheit in Projekten 36 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0048 meisten Haftzettel landen auf der linken Seite, sehr wenige rechts und in der Mitte (denen widmest du dich später). Abbildung 3 veranschaulicht dieses Ergebnis. Schritt 3: Maßnahmen festlegen-- „Blind Spots“ handhaben Du beginnst mit der linken Seite. Die Haftzettel dort beschreiben existierende Situationen oder Zustände, über welche die Akteure nicht genügend wissen bzw. die ungeklärt sind. Hier finden sich Haftzettel wie „Es ist unklar, was genau der Zweck des Projekts ist“, „Ich weiß nicht, ob der COO das Ergebnis abnimmt“ oder „Ich weiß nicht, was die Enduser bevorzugen“. In jedem Fall handelt es sich um einen individuellen Blind Spot. Manche individuellen Blind Spots können direkt ausgeräumt werden, weil einer der Akteure etwas weiß, was andere gern wissen möchten. Für alle übrigen Blind Spots sollten Aktionen definiert werden. Bei den genannten Beispielen etwa: (1) Identifiziere den Eigentümer des Projekts und befrage ihn genau dazu, (2) Sprich mit dem COO und erhebe seine Abnahmekriterien, (3) unternimm Feldforschung. Unter dem Strich solltest du- - gemeinsam mit den anderen Akteuren- - für jeden linken Haftzettel beschließen, was unternommen werden soll. In dem einen oder anderen Punkt kann durchaus beschlossen werden, nichts zu unternehmen (z. B. weil der Aufwand zu hoch wäre). Gleichwie sollte für jeden Haftzettel eine bewusste und klare Aussage getroffen werden. Das Resultat ist eine entsprechende „To-do-Liste“ für den Umgang mit den identifizierten „Blind Spots“, d. h. Unbekanntheiten, Unklarheiten und Unwissen. Schritt 4: Maßnahmen festlegen-- „Risiken“ handhaben Nun zu den Zetteln rechts. Diese markieren zukünftige Ereignisse, deren Eintreten die Akteure nicht beeinflussen können. Hätten sie Einfluss darauf, stünden sie links (unter der Hand). So aber können sie nur beobachtet werden. Zudem kann vorausgedacht werden, was im Fall des Eintretens eines negativen Ereignisses (=-Risiko) getan werden kann. An dieser Stelle sei eine außerordentlich positive Wirkung des „Uncertainty Mapping“ hervorgehoben: Rechts stehen meist nur sehr wenige Punkte- - mithin gibt es viel weniger „echte Projektrisiken“ als gemeinhin angenommen. Diese Klarheit beim Sortieren sorgt für einen deutlich reduzierten Aufwand im weiteren Risikomanagement. Bestimme also für alle rechten Zettel geeignete Aktionen. Hier kannst du das gesamte Repertoire des Risikomanagements anwenden, also ggf. noch einen „Umweg“ über eine Risikomatrix gehen. Wie dem auch sei, schließlich solltest du für jeden Punkt der rechten Seite eine Aktion festgelegt haben, z. B. „transferieren“, „mitigieren“, „Plan B entwickeln“, „Puffer einplanen“ oder eben auch „ignorieren“. Am Ende klärst du die verbliebenen Punkte in der Mitte. Da nun alle Teilnehmenden im selben Modus denken, gelingt das leicht. Jetzt hast du für alle Blind Spots und alle Risiken geeignete Aktionen definiert (s. Abbildung 4). Schlussendlich müsst ihr noch verabreden, wer was davon erledigt und welches Projektvorgehen am besten dafür geeignet ist (d. h. agil, traditionell, hybrid). Aber das ist ein anderer Artikel. Fazit Unsicherheit ist das Wesen jedes Projekts. Wer die Beschäftigung mit Unsicherheit verweigert, verweigert wesentliche Projektarbeit. Das Problem dabei: Unsicherheiten nerven! Die meisten Menschen wollen sich nicht damit beschäftigen. Die Kunst ist, es trotzdem zu tun. Damit das leichter fällt, wurde die Methode „Uncertainty Mapping“ erfunden. Die Methode hilft, alle Facetten von „Unsicherheit“ zu identifizieren. Basierend auf den Prinzipien des „langsamen Denkens“ werden die Projektbeteiligten in die Lage versetzt, tatsächliche Unsicherheiten und Situationen, die ein Gefühl der Unsicherheit hervorrufen, auseinanderzuhalten. Denn beides beeinflusst das Projekt-- aber auf sehr unterschiedliche Art. „Uncertainty Mapping“ wurde von der Innovationsgemeinschaft „Over the Fence“ entwickelt und getestet. Ausführlich beschrieben ist die Methode in dem Buch „Hey, nicht so schnell! “ [2] (https: / / heynichtsoschnell.com). Kostenfreie Downloads der grafischen Vorlagen sowie weitere Werkzeuge zum langsamen Denken finden sich auf der Website von „Over the Fence“ (https: / / overthefence.com.de / tools). Die Methode ist auch sehr gut für Online-Workshops geeignet- - auch dafür gibt es kostenlose Vorlagen. Literaturverzeichnis [1] Pearson, A., Brockhoff, K.: The uncertainty map and project management, Project Appraisal, 9(1994)3, S. 211-215, DOI: 10.1080 / 02 688 867.1994.9 726 951. [2] Habermann, F., Schmidt, K.: Hey, nicht so schnell! Wie du durch langsames Denken in komplexen Zeiten zu guten Entscheidungen gelangst, Offenbach 2021. [3] Gigerenzer, G., Kober, H.: Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft, München 2013. [4] Gilovich, T., Griffin, D., Kahneman, D.: Heuristics and Biases. The Psychology of Intuitive Judgement, Boston 2002. [5] Kahneman, D.: Schnelles Denken. Langsames Denken, München 2012. Eingangsabbildung: © iStock.com / William_Potter Prof. Dr. Frank Habermann Frank Habermann ist Professor für Betriebswirtschaft an der HWR Berlin und Gründer der Innovationsgemeinschaft „Over The Fence“ (gemeinsam mit Karen Schmidt). Sein jüngstes Buch „Hey, nicht so schnell! “ beschreibt neuartige Methoden für organisationale Entscheidungsprozesse. Internet: https: / / overthefence.com.de eMail: frank@overthefence.com.de 37 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0049 Erläuterung anhand eines Projektes für Dieselgeneratorensysteme Hybrides Projektmanagement und Selbstorganisation in einer klassisch hierarchischen Organisation Markus Talay, Matthias Hümmer Für eilige Leser | Innerhalb der Ausführung eines Großprojektes der Framatome wurde bei einem Systemlieferanten die Lieferung von Dieselgeneratorensysteme beauftragt. Der Auftrag umfasste neben der Hardwarelieferung auch das erforderliche Engineering und die Dokumentation. Dabei war der vertragliche Projektausführungsrahmen (Budget und Zeit) knapp bemessen bei gleichzeitig hohen Anforderungen an die Qualität und vielen Schnittstellen. Es ist nicht verwunderlich, dass die Abwicklung nach klassischen Projektmanagementmethoden (PMM) das Projekt schnell in eine Krise führte. Durch einen Wechsel der PMM hin zu einem agileren Vorgehen mittels hybridem Projektmanagement und Selbstorganisation konnte eine signifikante Verbesserung des Projektergebnisses erzielt werden. Eine vollkommen neue Abwicklungsform, erfolgreich eingesetzt unter den Randbedingungen eines starren und hierarchisch organisierten Unternehmens. Grundvoraussetzung dafür sind Vertrauen, Exzellenz und Rahmenbedingungen (RVE-Konzept). Schlagwörter | VUKA, Großanlagen, Komplexität, Randbedingungen, Dieselgeneratoren Einleitung In einem von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität (VUKA) geprägten Markt- und Arbeitsumfeld stehen die Protagonisten des deutschen Großanlagenbaus (dGAB) mit dem Rücken zur Wand. Die Unternehmen im dGAB sind überwiegend projektorientierte Unternehmen, die eine hierarchische aufgebaute Matrixorganisation vorweisen. Die Projektierung erfolgt über eine hohe Anzahl an Vorgaben und Prozessen, die zu einer starren und unflexiblen Organisation führen. Scheinbar genügen diese Unternehmensformen, gepaart mit klassischen Projektmanagementansätzen, nicht mehr den heutigen VUKA-Anforderungen. Hinterfragt man nun, warum diese Situation auftritt, dann lassen sich die Unternehmensformen nach Mintzberg [1] nutzen. Über diesen Ansatz sieht man, dass dGAB Unternehmensformen nach Mintzberg im Bereich der Maschinenorganisation oder Berufsorganisation eingeordnet werden können (Abbildung 1). Diese Unternehmensformen sind für einfache und stabile Projekte sowie wiederkehrende Arbeiten ausgelegt. Betrachtet man weiter im gleichen Bild (Abbildung 1) die Projekte des dGAB, so zeigt sich, dass diese Projekte in den Bereich komplex und dynamisch zu kategorisieren sind. Es tritt ein Miss-Match von Unternehmensorganisation und Projektorganisation auf und führt vor Augen, warum unter diesen Voraussetzungen eine erfolgreiche Abwicklung von Großprojekten in der VUKA-Welt nur äußerst schwer zu erreichen ist. Ein Umdenken ist erforderlich. In diesem Artikel wird dazu eine real umgesetzte Vorgehensweise präsentiert und diskutiert, die zeigt, dass eine Entwicklung und ein Wechsel hin zu hybriden Projektmanagementmethoden und Selbstorganisation eine Lösung für diese Situation sein kann. Wissen Hybrides Projektmanagement und Selbstorganisation DOI 10.24053/ PM-2021-0049 32. Jahrgang · 03/ 2021 Wissen | Hybrides Projektmanagement und Selbstorganisation 38 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0049 1. Projektabwicklung unter realen Bedingungen 1.1 Projektüberblick Im Rahmen eines Megaprojektes der Framatome wurden vier Dieselgeneratorensysteme, ein Ersatzmotor und ein Ersatzgenerator geliefert. Die Dieselgeneratorensysteme wirken innerhalb eines Kraftwerks als Sicherheitsbarriere (dritte Sicherheitsbarriere) und springen bei einem Stromausfall ein, so dass notwendige Systemprozesse in der Anlage ihre Funktionalität behalten und die Anlage in den unkritischen Zustand geführt werden kann. Der Liefer- und Leistungsumfang (LuL) wurde bei einem Systemlieferanten inklusive dessen neun Zulieferern beauftragt. Der LuL beinhaltete die Erstellung der Fertigungsunterlagen (18 Dokumentenpakete mit insgesamt ca. 600 Einzeldokumenten), die Fertigung des Dieselaggregats und der notwendigen Systemkomponenten, um das Dieselsystem betreiben zu können, die Verpackung sowie die Erstellung der Enddokumentation. Es existierten viele Schnittstellen die koordiniert werden mussten, wie auch einen unabhängigen Gutachter im Auftrag des Kunden, welcher die Kundenanforderungen für den LuL zusätzlich überwachte und an verschiedenen Punkten der Abwicklung Freigaben für den nächsten Schritt zu geben hatte. 1.2 Planung und Realisierung Die Durchführung der Arbeiten wurde nach klassischen Projektmanagementansätzen (wie z. B. Project Management Institute) geplant. Die geplante Projektdauer wurde mit insgesamt 48 Monaten angesetzt, welche über drei sequenziell zu durchlaufende Phasen (Fertigungsunterlagen, Fertigung und Enddokumentation) mit einem Freigabepunkt durch Kunden und Gutachter untergliedert wurde. Aus Sicht der Projektbeteiligten beinhaltete die Abwicklung ausreichend Zeit und Budget zur erfolgreichen Abwicklung eines schon bekannten LuL. Allerdings wurde in der Projektausführung die Planung auf eine starke Probe gestellt, denn in der Projektabwicklung nach klassischen Projektmanagementansätzen traten etliche Störungen auf. Insbesondere die Erstellung und die Prüfung der Vorprüfunterlagen-- Unterlagen zur Fertigung welche vor Produktionsbeginn erstellt und freigegeben werden müssen-- benötigte immens mehr Zeit, was durch unterschiedliche Designvorstellungen bedingt wurde. Des Weiteren hat der erforderliche Dokumentationsaufwand den ursprünglich angedachten Rahmen gesprengt. D. h. eine Abarbeitung und Prüfung in der geplanten Zeit und am geplanten Ort waren nicht realisierbar. Es war schnell klar, dass wegen fehlender Freigaben die Fertigung blockiert und, bezogen auf die Planung, verspätet gestartet werden würde. Mit Blick auf den Endtermin führte dies zu einer Anpassung des Terminplans und insbesondere auch des Arbeitsablaufs sowie der Arbeitsweise. Diese Änderungen werden nun in der angepassten Abwicklung in den Phasen Fertigungsunterlagen, Fertigung und Enddokumentation betrachtet und die aufgetretenen Effekte auf die Arbeitsweise beurteilt. Fertigungsunterlagen Die sequenzielle Bearbeitung (d. h. Unterlagenerstellung für alle Pakete mit anschließender Freigabe) in der Phase der Fertigungsdokumentationserstellung wurde abgeändert. Dabei wurde von einer kompletten hin zu einer paketweisen Dokumentationseinreichung mit unvollständigen, aber sinnvollen Paketen gewechselt, d. h., eine Adaptierung der Rahmenbedingungen erfolgte. Darüber hinaus wurde in einen anderen Bearbeitungsmodus gewechselt zur Erstellung und Prüfung der Vorprüfunterlagen. Mithilfe von Workshops wurden die Dokumente durch Lieferanten, Firma und Gutachter gemeinsam geprüft. Die Vorgehensweise der Workshops erfolgte in einem agilen Modus. Die Workshops wurden in Sprintform wöchentlich mit allen beteiligten Parteien geplant und durchgeführt. Dadurch konnten Missverständnisse vermieden und die Dokumentenfreigabe beschleunigt werden. Daraus resultiert auch ein Wechsel vom klassischen in den hybriden Projektmanagementmodus. Der Effekt war eine Verminderung der Missverständnisse und eine Reduzierung der Aufwendungen / Iterationen für erneute Überarbeitung und Prüfung. Insbesondere wurde durch die enge Zusammen- und Teamarbeit über längeren Zeitraum Vertrauen aufgebaut. Vertrauensbildung und gemeinsames Zielverständnis ermöglichten somit eine Steigerung der Kapazitäten bei gleichzeitiger Adaptierung der Ausführungsrandbedingungen. Fertigung Nach der Dokumentationsfreigabe wurde die Fertigung gestartet. Auch hier wurde das ursprüngliche Vorgehen angepasst, und die Fertigungsplanung der Reihenfolge entsprechend der Unterlagenfreigabe adaptiert. Dabei wurde auf zeitkritische Langläufer geachtet, welche separate Teilfreiga- Abbildung 1: Kategorisierung der Organisationsformen und Einordnung des dGAB und seiner Projekte Wissen | Hybrides Projektmanagement und Selbstorganisation 39 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0049 ben für nicht erreichte Meilensteine unter Berücksichtigung von Risikomanagementaspekten erhielten. Die Terminkette wurde dazu den Gegebenheiten angeglichen und dabei dennoch die notwendige Fertigungs- und Produktionsreihenfolge eingehalten. In der Umsetzung war eine intensive Fertigungsverfolgung notwendig, welche den positiven Nebeneffekt ermöglichte, Abweichungen frühzeitig zu identifizieren. Im Falle von Abweichungen wurden Lösungsvorschläge unterbreitet und zwischen allen Parteien abgestimmt. Differenzen, wenn es denn welche gegeben hat, und diese durch die enge, zeitnahe Kommunikation nicht geklärt werden konnten, wurden in parteiübergreifenden Workshops diskutiert und durch gemeinsame Entscheidungsfindung beseitigt. Eine Koordination interner und externer Einheiten für eine schnelle Entscheidungsfindung war zwingend erforderlich. Dies führte zu einer Reduktion der Blockaden. Dies war nur über eine extrem hohe fachliche und methodische Exzellenz sowie eine Steigerung der Verantwortungen / Entscheidungsgewalt aller Beteiligten möglich. Das Ergebnis war eine verkürzte Dauer für die Entscheidungsfindung bei Abweichungen / Problemen und eine verbesserte Risikoidentifikation- - insbesondere Seitens der Lieferanten, weil eine zielorientierte und kooperative Arbeitsweise gelebt und gefördert wurde, und damit eine flexible Reaktion auf wechselnde Rahmenbedingungen erreicht werden konnte. Exzellenz und Steigerung der Verantwortungen innerhalb des Teams führten zu einer flexibleren Handhabung der Randbedingungen und damit zu einer Adaption der Ausführungsrandbedingungen im Vergleich mit klassischen Arbeitsmethoden. Dies führte in Konsequenz zu einer Reduktion der Anforderungen an die Ausführungskapazität der Protagonisten. Abschlussdokumentation Die Erstellung und Prüfung der fertigungsbegleitenden Dokumentation war die abschließende Arbeit beim Systemlieferanten im Projekt. Auch für die Erstellung der aus 92 Ordnern bestehenden Enddokumentation sah die ursprüngliche Planung eine sequenzielle Abarbeitung vor, d. h. Erstellung, Prüfung durch den Hersteller, Prüfung durch den Kunden und durch den Gutachter- - dies nach jedem gefertigten Teilsystem. Die Erfahrung der Fertigungsunterlagenerstellung wurden hier eingebracht und das Vorgehen analog gewählt. Insbesondere die Dokumentationskontrolle zeigte, wie sich eine Veränderung in der Abwicklung positiv auf das Projektergebnis auswirken kann. Dabei ist die Workshopmodus-Bearbeitung, in Anwesenheit aller Parteien, hervorzuheben. Hier ist im Beisein aller Parteien bei Identifikation von nicht anforderungskonformen Unterlagen (z. B. fehlender / mangelnder Zertifikate) über eine sofortige gemeinsame Diskussion eine schnelle Lösungsfindung möglich. Was durch Vertrauen und Steigerung der Einzelverantwortungen innerhalb des Teams begründet werden kann, das zu einer über eine flexiblere Handhabung der Ausführungsrandbedingungen führt. Das Ergebnis der Vorgehensweise war auch in dieser Phase eine signifikante Aufwandsreduzierung. Realisiert zum einen über die Prüfung der Dokumentation in einem kurzen Zeitraum von 5 Wochen und zum anderen durch Vermeidung von zusätzlichen Aufwendungen durch Nacharbeiten. Dies würde in einer sequenziellen, klassischen Abwicklungsform mit erheblichen Mehraufwendungen zu mehreren iterativen Prozessschritten sowie letztlich in höheren Kosten und längerer Abwicklungsdauer führen. Auch hier resultierte das Vorgehen in einer Reduktion der Anforderungen an die Ausführungskapazität, verglichen mit klassischen Arbeitsmethoden oder Projektmanagementansätzen. 1.3 Zwischenfazit Die Änderung von der nicht erfolgreichen, sequenziellen Projektabwicklung und tayloristischen Arbeitsabläufen hin zu einer hybriden, selbstorganisierten Projektabwicklungsform ist nur über erforderliche Anpassungen möglich. Über die drei Phasen des Dieselgenerator-Projektes lassen sich die erforderlichen Anpassungen fassen und in drei interagierende Bereiche unterteilen, welche durch ein zentrales Element noch gefördert werden (siehe Abbildung 2). Die in Abbildung 2 dargestellten Elemente (Ausführungsrahmenbedingungen, Vertrauen und Exzellenz der Beteiligten) lassen sich wie folgt verstehen: • Rahmenbedingungen-- Diese lassen sich über die Projektabwicklung (Liefer- und Leistungsumfang, Termine, Budget und Qualität), Informationssysteme (Computer Program- Abbildung 2: Interagierende Bereiche für selbstorganisierte Arbeitsweise. Quelle: Eigene Darstellung Wissen | Hybrides Projektmanagement und Selbstorganisation 40 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0049 me, Hilfsmittel etc.) Regelwerke, Prozesse und Einbindung von Gutachtern etc. angeben. • Vertrauen-- Neben Rahmenbedingungen ist das Vertrauen ein weiteres zentrales Element für eine Zusammenarbeit innerhalb des Teams. Vertrauen existiert aufgrund von Firmengrenzen nicht a priori, und muss über einen längeren Zeitraum oder wiederholte gemeinsame Zusammenarbeit erworben werden. • Exzellenz- - Stellt die Fähigkeiten der Protagonisten dar. Diese beinhalten insbesondere Intelligenz, Erfahrung, Wissen, Netzwerk und Softskills. Wie in Abbildung 2 dargestellt, werden diese über die Kultur (wie z. B. offene Fehlerkultur oder lernende Organisation) in der Firma und auch den ausführenden Ländern im internationalen Kontext zu einer Arbeitsumgebung verbunden. Die Unternehmenskultur entscheidet auch über die mögliche Reichweite der Ausführungsrahmenbedingungen. Beispielsweise investiert das Unternehmen in den Mitarbeiter, so entsteht Exzellenz, die wiederum zu mehr Vertrauen zwischen Führungskraft und Mitarbeiter führt. Dieses Vertrauen wiederum wirkt sich auf die Rahmenbedingungen aus. Die Interaktion der Ausführungsrahmenbedingungen beschreibt das Zusammenspiel zwischen Maschine, Material und Methode, bezogen auf die Fähigkeiten und Qualifikation des Menschen. Je nachdem, wie die Ausführungsrahmenbedingungen im betrieblichen Alltag umgesetzt werden, kann das RVE-Konzept (Rahmenbedingungen, Vertrauen, Exzellenz) als wünschenswerte Grundvoraussetzung zur Beherrschung von Komplexität innerhalb der Projekte verstanden werden. 2. Komplexität innerhalb des Projektes 2.1 Theoretische Betrachtung von Komplexität Abschnitt 1 zeigt klar, dass das Dieselgeneratorenprojekt (DGP) ein komplexes Projekt war. Betrachtet man die Abwicklung genauer, so lässt sich herausarbeiten, dass die Projektsituationen durch sich gegenseitig beeinflussende projektbezogene, strukturelle und personenbezogene Aspekte getrieben wurden. Diese Erkenntnis erlaubt nun den in Hümmer [2] neu entwickelten Ansatz zur Komplexität und deren Beherrschung zu übertragen. Denn Gesamtkomplexität besteht aus struktureller und subjektiver Komplexität, die verbunden sind und rückkoppeln. Dabei stellt strukturelle Komplexität die Anforderungen an die zur Ausführung erforderliche Kapazität (von Mensch, Maschine, Material und Methoden). Strukturelle Komplexität bildet den strukturellen Aufbau (Tiefe und Breite) sowie die Veränderlichkeit eines Projektes und der Umgebung über die Zeit ab. Sogenannte Komplexitätstreiber steigern die Anforderungen an die Projektausführung. Strukturelle Komplexität triggert dann über die Anforderungen subjektive Komplexität. Diese entsteht immer dann, wenn die Anforderungen der zur Verfügung stehenden Kapazitäten (Mensch, Maschine, Methode und Material (4M) in Anlehnung (ohne Mitwelt) an [3]) überschritten werden: Überforderung und Dysfunktionen sowie Änderungen an bzw. Auswirkung auf Struktur entsteht, d. h. eine Rückkopplung auf die strukturelle Komplexität. Für die Wirkweise von Komplexität auf Aufgabenerledigung muss zwischen Aufgaben- und Ausführungsebene differenziert werden. Auf der Aufgabenebene werden durch eine Adaption der Ausführungsrandbedingungen in der Ausführungsebene die an die 4M angeforderten Kapazitäten verändert. Das Resultat dieser Veränderung in der Aufgabenebene ist eine Veränderung der Kapazität oder der Anforderungen. Um mit diesen sich gegenseitig beeinflussenden Arten von Komplexität (strukturelle und subjektive) in der Organisation und der Projektabwicklung umzugehen, müssen diese bei den Strategien zum Management und Umgang mit Komplexität berücksichtigt werden. 2.2 Strategien zum Umgang mit Komplexität Über das Komplexitätsverständnis (Abschnitt 2.1) lassen sich nun zwei grundlegende, koexistente Strategien zum Umgang und Management von Komplexität in Projekten ableiten: • Reduktion der Kapazitätsanforderungen- - aktives Beeinflussen des Projektes und dessen Struktur über eine Veränderung der Randbedingungen. Es bedarf der Möglichkeit einer Einflussnahme durch aktives Hinterfragen der Ausführungsrandbedingungen, dies zu tun. Darunter fallen z. B. vordefinierte Anforderungen zu diskutieren, klarer Liefer- und Leistungsumfang, wenige Schnittstellen etc. • Kapazitätserhöhung-- aktives Reagieren auf eine komplexe Situation und Anpassen der eigenen Kapazitäten. Dies kann z. B. über optimale Mitarbeiterauswahl (Best for the job), Qualifizierung und Weiterentwicklung von Mitarbeitern erfolgen, sodass eine Kapazitätserhöhung durch Aufwandsreduzierung aus der Situation heraus erreicht werden kann. Diese Strategien umfassen eine Kombination der Elemente aus Anforderungsreduktion und Kapazitätserhöhung. Wichtig im Umgang mit Komplexität ist, dass nur eine ausgewogene Kombination beider Strategien zielführend sein kann. Denn die während der Projektabwicklung aufgetretenen Störungen unterscheiden sich situativ und daher sind die Herangehensweisen entsprechend passend auszuwählen und anzuwenden. Abbildung 3: Vertrauen, Rahmenbedingungen und Exzellenz im Zusammenhang mit PMM. Quelle: Eigene Darstellung Wissen | Hybrides Projektmanagement und Selbstorganisation 41 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0049 Erweitert man den Blickwinkel auf existierende PMM und deren Wirkung auf die Komplexitätsbeeinflussung, so zeigt sich, dass sich diese hinsichtlich Reduktion der Kapazitätsanforderungen und Kapazitätserhöhung differenzieren lassen. Klassische PMM wirken dabei nicht reduzierend auf die Komplexität in der Projektstruktur ein und erhöhen sogar bei Festhalten an den sequenziellen Abläufen die Kapazitätsanforderungen und schränken die Kapazitäten und damit die Flexibilität im Handeln der Beteiligten ein. Hybride oder agile PMM hingegen erlauben inhärent eine Reduktion der Kapazitätsanforderungen sowie eine Kapazitätserhöhung. Es lässt sich dadurch folgern, dass sich diese PMM besser zum Komplexitätsmanagement eignen können. Die situative Umsetzung der Strategien wird nun am Beispiel des Dieselgeneratorenprojektes genauer diskutiert. 3. RVE-- Grundlage der Transformation zu hybridem Projektmanagement und Selbstorganisation Die Projektabwicklung der Dieselgeneratoren unter VUKA- Randbedingungen zeigt klar, dass ein Wechsel von einer starren, prozessorientierten Abwicklung zu hybridem Projektmanagement und Selbstorganisation vorteilhaft für eine Komplexitätsbeherrschung ist. Darüber hinaus zeigt dieses Beispiel, dass solche Veränderungen auch in Unternehmen des deutschen Großanlagenbaus gelingen können, wie im Projekt der Framatome zu sehen. Um allerdings diese Transformation (Einführung von hybridem Projektmanagement und Selbstorganisation) zu ermöglichen, sind, wie in Abschnitt 1.3 hervorgehoben, drei miteinander in Verbindung stehende Elemente (Vertrauen, Rahmenbedingungen und Exzellenz) von besonderer Relevanz. Denn deren Gewichtung ändert sich abhängig von der PMM (siehe Abbildung 3). Wie in Abbildung 3 skizziert, stehen bei einer klassischen Projektabwicklung Rahmenbedingungen und Exzellenz im Vordergrund. Dies ändert sich beim hybriden Projektmanagement und Selbstorganisation. Hier stehen die Bereiche Vertrauen und Exzellenz im Fokus, welche eine flexible Projektabwicklung über Reduktion der Kapazitätsanforderungen sowie eine Kapazitätserhöhung ermöglichen. Möchte man nun einen Schritt weiter zu einem erfolgreichen Anpassen hin zu agilen Organisationsstrukturen in Unternehmen des deutschen Großanlagenbaus, so ist eine Transformation hin zur Selbstorganisation und zu hybriden Projektmanagementmethoden sowie eine flexiblere Arbeitsabwicklung möglich. Eine Veränderung zur flexiblen Arbeitsabwicklung und agilen Organisationsstrukturen muss über einen Changeprozess erfolgen. Die Kernaspekte einer entsprechenden Transformation sind in Abbildung 4 dargestellt. Wie die Abbildungen 2 und 4 darstellen, erfordert eine Veränderung offensichtlicherweise eine positive Unternehmenskultur, die sich über eine im Unternehmen gelebte Fehlerkultur und offene, transparente Kommunikation sowie auch über die individuellen Fähigkeiten (Exzellenz und Softskills) der Beteiligten ausprägt. Diese sind für eine Eigenkontrolle und -steuerung innerhalb des Teams eine Grundvoraussetzung. Für eine praktische Implementierung lassen sich dabei aus dem Dieselgeneratorenprojekt nachfolgende Hinweise für jedes Element des optimalen Arbeitsumfelds geben: • Teamorientierung Das Team muss sich bewusst sein, dass nur gemeinsam (sogar über Firmengrenzen hinweg) das Ergebnis erreicht werden kann, und eine Einzelleistung zwar gewürdigt, die Teamleistung jedoch in einem höheren Maße anerkannt wird. Dieser Erkenntnis zufolge werden Einzelvereinbarungen zwischen Führungskraft und Mitarbeiter abnehmen und im Wesentlichen durch die Projekt- und Teamvorgaben ersetzt. • Rahmenbedingungen Global definierte und fixierte Zielvorgaben durch das funktionale Management oder die Projektleitung sind erforderlich. Sie bilden einen groben Rahmen, der aber lokal und situativ durch die Protagonisten im Team angepasst werden kann. Dies erfordert einen hohen Exzellenzgrad und viel Vertrauen innerhalb des Teams und auch vom Management, d. h., wie am Beispiel des Dieselgeneratorprojektes gesehen, dass der Einfluss von Hierarchie bei Bedarf erfolgt und Management primär unterstützend wirkt. Schlussfolgernd verstehen sich Führungskräfte in diesem Zusammenhang als unterstützende und beratende Funktion, um dem Team die bestmöglichen Voraussetzungen zur Erreichung des Ziels zu gewähren. • Exzellenzgrad Die Kompetenzen und Fähigkeiten aller Mitarbeiter müssen aufgebaut und weiterentwickelt werden. Dies umfasst insbesondere die individuellen Fähigkeiten im Bereich Selbstorganisation, Empathie und Softskills. Maßnahmen die hier gezielt genutzt werden können, fallen unter Ressourcenentwicklung und -planung. Dabei sind insbesondere Trainings „on the job“ zum kritischen Hinterfragen und Reflektion von Arbeitssituationen als Lernerfahrung und Wissensbildung hervorzuheben. • Vertrauen Abbildung 4: Transformationsprozess mittels des neuen RVE-Konzeptes. Quelle: Eigene Darstellung Wissen | Hybrides Projektmanagement und Selbstorganisation 42 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0049 Entsteht aus der Unternehmenskultur über gelebte Fehlerkultur und offene, transparente Kommunikation. 4. Zusammenfassung und Fazit Der deutsche Großanlagenbau kämpft in einem preisgetriebenen Käufermarkt mit VUKA-Anforderungen. Um in dieser Situation zu überleben ist eine Anpassung der Unternehmen und der Projektabwicklungsform erforderlich, da die existierenden, starren Unternehmensstrukturen und die angewandten, klassischen Projektmanagementansätze eine Berücksichtigung der Anforderungen durch die Ausführungsrandbedingungen nicht in ausreichender Form zulassen. Die entstandene Komplexität wird dadurch nicht beherrscht. Dennoch kann die erforderliche Flexibilität in bestehenden großen Unternehmen wie der Framatome des deutschen Großanlagenbaus erreicht werden. Wie die retrospektive Betrachtung eines Dieselgeneratorenprojektes eindrucksvoll aufzeigt. Voraussetzung dafür ist eine Unternehmenstransformation weg von starren, prozessorientierten Abläufen hin zu flexibleren und anpassungsfähigeren Organisationen und Projekten. Dies kann über hybride Methoden und Selbstorganisation erreicht werden, durch die der Projektbedarfsgrad an die Agilität angepasst werden kann. Hier erfolgt eine Anpassung an die Situation über Strategien zur Komplexitätsbeherrschung, d. h. Reduktion der Kapazitätsanforderungen und Kapazitätserhöhung, wodurch die vorherrschende Komplexität verringert wird. Dies führt in der Umsetzung der Komplexitätsbeherrschung zur Anpassung der Ausführungsanforderungen. Dies berücksichtigen klassische Projektmanagement- und Abwicklungsmethoden nicht adäquat und erreichen dadurch das Gegenteil: Komplexität wird in der Regel noch gesteigert. Für die Umsetzung im Unternehmen ist eine Veränderung der Unternehmenskultur essenziell und der Schlüssel zur erfolgreichen Einführung und Anwendung von Selbstorganisation und hybrider Methoden. Diese baut auf dem RVE-Konzept, den miteinander in Verbindung stehenden Elementen auf: Rahmenbedingungen, Vertrauen und Exzellenz (RVE). Dabei sind eine gelebte Fehlerkultur und offene, transparente Kommunikation eine Grundvoraussetzung, die den Menschen als zentrale Funktion und als verbindendes Glied berücksichtigt. Dessen Know-how, technisches Basiswissen, Erfahrung, Exzellenz, Soft Skills (Kommunikation, partnerschaftliches Verhältnis, Fehlerkultur, etc.) und Authentizität müssen ausreichend ausgeprägt sein und gefördert werden. Zusätzlich sind die Randbedingungen zu betrachten, unter denen die Arbeiten ausgeführt werden. In einer von Selbstorganisation und hybrider Methoden geprägten Umgebung sind diese weniger stark ausgeprägt und lassen eine Anpassung zu. In einem gut balancierten Verhältnis von RVE kann ein maximales Projekt- oder Betriebsergebnis aufgrund Komplexitätsreduktion und Kapazitätserhöhung und damit in Verbindung stehende Flexibilität und maximale Anpassungsfähigkeit erreicht werden. 5. Referenzen [1] Mintzberg, Henry. Structure in 5's: A Synthesis of the Research on Organization Design. Management science 26.3 (1980): 324 ff. [2] Hümmer Matthias. Komplexität und deren Beherrschung in internationalen Groß- und Megaprojekten des deutschen Großanlagenbaus. Dissertation. (2020). [3] Steven, Marion. Handbuch Produktion: Theorie-- Management-- Logistik-- Controlling. Kohlhammer GmbH (2007): 176 f. Eingangsabbildung: © iStock.com / marchmeena29 Dr. Talay, Markus Dr. Markus Talay ist als Order Manager bei der Framatome GmbH im Kraftwerksbau tätig. Seine vertieften Kenntnisse im Komplexitätsmanagement ermöglichen es ihm, als Task- Force Manager in kritischen Teilprojekten zu fungieren. Darüber hinaus unterstützt er die Organisationseinheiten in der Weiterentwicklung des Projekt- und Prozessmanagements. eMail: markus.talay@framatome.com Paul-Gossen-Straße 100, 91 052 Erlangen Prof. Dr.-Ing. Hümmer, Matthias Matthias Hümmer hat als Projektleiter in internationalen Projekten des Groß- und Megaanlagenbaus Komplexität und deren Beherrschung erlebt sowie aufgrund des geweckten Interesses über Forschungen weiter vertieft. Aktuell arbeitet er als Professor an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Mannheim im Studiengang Integrated Engineering. eMail: matthias.huemmer@dhbw-mannheim.de Duale Hochschule Baden-Württemberg Mannheim, Handelsstraße 13, 69 214 Eppelheim 43 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0050 Virtuelle Führung-- Was können wir aus Projekten lernen? Christian Stadler, Anke Brinkmann Für eilige Leser | Virtuelle Führung hat seit 2020 im Zuge von Social Distancing eine neue Verbreitung und völlig neue Bedeutung erhalten. Schon 2018 zeigte der „Virtual Team Report 2018“ (CULTUREWIZARD.COM) auf, dass global die virtuelle Zusammenarbeit von 64 % (2010) auf 89 % (2018) gestiegen ist (bezogen auf die an der Befragung teilnehmenden Branchen weltweit). Dieser Anstieg von 25 % zeigt in welche Richtung sich die Zusammenarbeit entwickelt. Seit 2020 ist diese Entwicklung auch in Branchen sichtbar, die noch nicht virtuell tätig waren. Dies verlangt nicht nur Führungskompetenz, sondern auch Fähigkeiten im Umgang mit persönlicher Distanz und virtueller Kommunikation. In Projektteams gab es diese Herausforderung branchenübergreifend im Zuge der Globalisierung und Einführung von digitalen Systemen seit langem. Die Teammitglieder müssen sich in kurzer Zeit aufeinander einlassen und Vertrauen zueinander aufbauen, um erfolgreich das Ziel zu erreichen. Hierbei ist die Kommunikation ein wichtiger Bestandteil sowie das gemeinsame Commitment das Projektziel zu erreichen. Damit alle ihre Rolle im Projekt wahrnehmen können, braucht es Klarheit zur Rolle, Freiheitsgrade (damit Eigenverantwortung gelebt werden kann), Transparenz über die vorhandenen Informationen (um gute Entscheidungen zu treffen) und Empathie unter den einzelnen Teammitgliedern. Schlagwörter | 5 Erfolgsfaktoren, VUCA, Teamerfolg, virtuell, Social Distancing, Beziehungen Welche Herausforderungen ergeben sich für die virtuelle Führung von Projektteams? Führung auf Distanz erfordert ein neues Führungsverständnis. Die Projektleiter müssen in der Lage sein, Vertrauen aufzubauen, einen Team-Spirit für ein gemeinsames Wirken herbeizuführen, ohne einen persönlichen Kontakt zu ihren Mitarbeitern zu haben. Abstandsregelungen und Social Distancing haben uns vor Augen geführt, dass Menschen soziale Wesen sind. Unsere Lebens- und Arbeitsqualität bemisst sich zu einem großen Teil an der Qualität der Interaktionen mit den Menschen um uns herum. Gute, gesunde Beziehungen machen uns glücklich und widerstandsfähig, auch angesichts von Rückschlägen und Entbehrungen. In die Verbundenheit der Mitarbeitenden zu investieren ist folglich eine Investition in die Zukunft. Austausch, gemeinsames Lernen und interdisziplinäre Teams gehören zu den Basics einer modernen (Netzwerk-)Organisation. Dies verlangt ein Mindset, basierend auf Vertrauen in der Zusammenarbeit. Der offene Austausch von Informationen stärkt die Leistungsbereitschaft und den Kooperationswillen. Dies ist ebenso in Teams, die sich persönlich sehen. In der virtuellen Welt kommt jedoch hinzu, dass der Informationsaustausch reduziert stattfindet-- eMails, die kurzgefasst werden, knappe Telefonate etc. Ist der Austausch nur darauf ausgerichtet, kann es dazu führen, dass der Kooperationswille und die Motivation nachlassen und es zu Konflikten innerhalb der Gruppe kommen kann. Diese stellen die größte Herausforderung für die Projektleiter dar. Kommunikations- und Koordinationsprobleme, die in jedem Team auftreten können, fallen bei virtuellen Teams oft besonders ins Gewicht. Dies lässt sich darauf zurückführen, dass die Kommunikation über räumliche, temporale und organisationale Grenzen hinweg um einiges schwieriger und anspruchsvoller ist als eine von Angesicht zu Angesicht. Die Schwierigkeiten fokussieren sich neben den genannten, veränderten Rahmenbedingungen hauptsächlich auf die Eigenschaften der Teammitglieder. Während Konflikte bei den Rahmenbedingungen noch schnell zu identifizieren sind, wird dies bei den Eigenschaften der Personen (der Grundlage der Beziehungsebene) sehr schwierig. Was in lokalen Teams durch „Bauchgefühl“ und Gespräche, verbunden mit Mimik Wissen Virtuelle Führung - Was können wir aus Projekten lernen? DOI 10.24053/ PM-2021-0050 32. Jahrgang · 03/ 2021 Wissen | Virtuelle Führung-- Was können wir aus Projekten lernen? 44 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0050 und Gestik, in den Teeküchen und Büros unserer Organisation wettgemacht wird, stößt im virtuellen Raum an seine Grenzen. Die kanadische Psychologin Susan Pinkert beschreibt in ihrem Buch „The Village-Effect“ anhand von Forschungsergebnissen, wie wichtig persönliche Begegnungen sind und warum sich diese nicht durch virtuelle Kontakte ersetzen lassen. Persönliche Kommunikation löst ein Ausschütten von Neurotransmittern und Hormonen aus, die Stress reduzieren und Wohlbefinden erzeugen. Das ist ein Grund dafür, warum Menschen mit wenigen echten Kontakten sogar ein 30 % höheres Sterberisiko haben. Ein simpler Händedruck oder ein Schulterklopfen erhöhen laut Pinkert die Ausschüttung des Hormons Oxytocin und das wiederum reduziert Stress und erhöht das Vertrauen. Susan Pinkert beschreibt eine Studie, bei der herausgefunden wurde, dass eine ermutigende SMS der Mutter nach einem Test keinen Einfluss auf die Cortisolwerte im Speichel hat- - im Gegensatz zu einem Telefongespräch oder einem persönlichen Treffen. Sie schließt daraus, dass in der virtuellen Kommunikation oft ein Großteil der Botschaft verloren geht. Das nämlich, was wir durch unseren Tonfall, unsere Mimik und Körpersprache unbewusst mitteilen. Diese Botschaften bestimmen die Beziehungsebene (vgl. Personalmagazin 5 / 16 Seite 30 ff.). Deshalb ist es in der Führung auf Distanz besonders wichtig, den Kontakt zu den einzelnen Teammitgliedern so persönlich wie möglich zu halten. Viele Beschäftigte verbringen den ganzen Tag in Videomeetings und gönnen sich zu wenige Pausen. Raum für spontane Kreativität geht verloren. Gerade dies ist etwas, dass in Projekten, da es oft neue Ansätze sind, benötigt wird. Das bedeutet, dass es unabhängig, ob wir uns in einem Projektkontext im Unternehmen oder operativen Tagesgeschäft befinden, wichtig ist, für die Teilnehmenden Räume zu schaffen. Räume, wo es Anlässe gibt, neben dem fachlichen Austausch auch Beziehungen zueinander aufzubauen. Dies kann zum Beispiel durch • virtuelle Coffee und Lunch Dates, • Spaziergänge „walk the talk“, • virtuelles Chat-Roulette oder ein virtuelles Quiz (spielerisch), • Check-Ins bei Meetings-- „Wie geht es mir? “ oder „womit habe ich heute schon jemandem eine Freude bereitet? “-- unterstützt werden. Diese Methoden erfüllen zu einem akzeptablen Grad das Bedürfnis nach sozialer Nähe und nach informellen Kontakten der Teammitglieder. Sie erschaffen hiermit einen gemeinsamen Wohlfühleffekt. Dies minimiert die Grundlage von Konflikten. Die Führungskraft schafft somit einen Raum für anlassfreie Kommunikation im virtuellen Raum, da sonst durch eine stetige Versachlichung der Kommunikation ein „wir spüren uns nicht mehr“ Gefühl eintritt. Hier stehen den Führungskräften viele Möglichkeiten offen. Was sind die Erfolgsfaktoren virtueller Führung? 5 Erfolgsfaktoren, die ineinandergreifen, unterstützen die Führung und Zusammenarbeit. Klarheit und Transparenz Die Aufgabe, das Ziel sollte für alle eindeutig formuliert sein. Durch Rückfragen und dem Verschriftlichen der Ziele können Missverständnisse vermieden werden. Gegebenenfalls müssen Erwartungshaltungen der Projektmitglieder vorab in Einzelgesprächen abgefragt und abgeklärt werden, um Konflikte durch Frustration zu verhindern. Dies kann ein regelmäßiger virtueller Jour fixe mit den einzelnen Teammitgliedern sein, in dem nicht nur Arbeitsstände besprochen werden, sondern auch Erwartungen abgeglichen und Befindlichkeiten ausgetauscht werden können. Damit kann die Projektleitung das fehlende Live-Bauchgefühl in verschiedenen Situationen bestmöglich kompensieren. Auch sollte für alle Mitwirkenden klar werden „Warum setzen wir dies um? “; „Woran erkenne ich, dass das Ziel erreicht wurde? “; „Was ist anders als vor dem Projekt? “. Neben der Aufgabe sollten auch die Regeln der Zusammenarbeit festgelegt werden. Verabreden, wie häufig sich alle austauschen und über welche digitalen Medien dies stattfindet. Transparenz sollte geschaffen werden, indem Berechtigungskonzepte für den Austausch von Informationen auf Plattformen und Laufwerken so angelegt werden, dass sich die Mitarbeitenden eigenständig Informationen holen können. Sehr wichtig für Klarheit und Transparenz ist auch die Protokollierung und Dokumentation von Diskussionen und Entscheidungen. Diese helfen dabei, Missverständnisse und daraus hergeleitete Fehlentwicklungen rechtzeitig wahrzunehmen. Sie sind eine gute Grundlage für die routinemäßigen Feedback-Gespräche. Auch kann eine gute Dokumentation helfen, Entscheidungswege zu einem späteren Zeitpunkt nachvollziehbar zu machen. Vertrauen Vertrauen ist kein Selbstzweck-- es ist immer die Eigenschaft einer Beziehung zwischen zwei oder mehreren Menschen. Vertrauen ist also Beziehungssache und somit im Team für den Erfolg oder Misserfolg entscheidend. In einer erfolgreichen Beziehung schenken sich Teammitglieder und Führungskraft einander wechselseitig Vertrauen. Dieses Vertrauen ist in virtuellen Teams besonders wichtig, weil die Führungskraft die Arbeitsleistung weniger gut direkt überschauen kann als in lokalen Teams. Durch die veränderten Rahmenbedingungen und besonders der veränderten Kommunikation stehen in virtuellen Teams Beziehungen somit unter einem erheblichen Druck. Daher wirkt sich Vertrauen besonders positiv auf die Motivation und das Zusammengehörigkeitsgefühl aus. Es wird gestärkt, indem die Führungskraft den Teams unabhängig von Hierarchie oder Status Wertschätzung gibt und Gestaltungsspielraum. Beschäftige, die sich einbringen dürfen, da, wo dies von der Führungskraft gefördert wird, tauschen sich mehr aus und können auf Veränderungen von außen flexibler reagieren. Sie identifizieren sich mehr mit dem Projektziel, der Aufgabe. Persönliche Treffen Durch persönliche Treffen zu Beginn, zum Beispiel bei einer Kick-off-Veranstaltung, in der ein gemeinsames Commitment gegeben wird, ein stabiles Vertrauen entwickelt werden kann, analog der Teams, die in Präsenz zusammenarbeiten. Auch eine informelle „Online-Zusammenkunft“, kann dies unterstützen, wenn ein persönliches Treffen nicht möglich ist. Auch hier ist das Ziel, Klarheit über den eigenen Beitrag zu bekommen. Schaffe ich, was ich zusage? Verbindlichkeit fördert Vertrauen und reduziert das Auftreten von Konflikten. Wissen | Virtuelle Führung-- Was können wir aus Projekten lernen? 45 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0050 Trainings in den Tools und Methoden Damit die Zusammenarbeit gut funktioniert, ist es wichtig, ein einheitliches Verständnis an Methoden und Tools zu haben, die genutzt werden. Denn, wenn in Teams die Tools bekannt sind, entsteht kein Ungleichgewicht. Beispielsweise dadurch, dass eine Person ein Tool besser kennt, möglicherweise schneller antwortet oder vermeintlich professioneller wirkt. Wer eine Plattform gut kennt, fühlt sich sicherer und wohler. Ungleichgewichte werden vermieden. Denn auf Augenhöhe zu arbeiten ist für ein konstruktives Miteinander wichtig. Neben der Methodenkenntnis sollte es auch Räume für den informellen Austausch geben. Auf welchem Weg dies stattfindet, entscheidet der Teilnehmerkreis, hier gibt es kein „Richtig“ oder „Falsch“. Psychologische Sicherheit Verunsicherung mindert Leistung wie Wohlbefinden. Gerade für die virtuelle Zusammenarbeit ist ein offenes Ansprechen von Spannungen und Fehlern wichtig, da sich die einzelnen Akteure nicht sehen. Es ist zudem förderlich für Innovationen und den Teamerfolg. Die Führungskraft sollte hierbei Vorbild sein und Hilfe erbitten, einen Fehler anzusprechen oder ein Projekt zu kritisieren. Dies kann beispielsweise in einem Feedbackmeeting getan werden. In einer „sicheren“ Organisation zeichnen sich Führungskräfte dadurch aus, dass sie sich selbst zurücknehmen, eigenes Nichtwissen eingestehen und Probleme offen ansprechen. Gleichzeitig motivieren sie so Ihre Teams, sich auch so zu verhalten und aktiv einzubringen, ohne negative Konsequenzen fürchten zu müssen. Bei Führung auf Distanz ist die Vermittlung psychologischer Sicherheit noch wichtiger, auch wenn dies schwieriger als in physischer Präsenz zu vermitteln ist. Zum Beispiel ist der Verlust der „Verbindung“ zum Unternehmen und zur Führungskraft eine große Furcht von Teammitgliedern in der virtuellen Zusammenarbeit. Zwar wird gemeinsam erfolgreich gearbeitet, aber es besteht die Gefahr des berühmten Sprichworts: „Aus den Augen aus dem Sinn“. Die Teammitglieder fühlen sich oftmals (ohne das entsprechende Feedback) abgekoppelt von der Karriereplanung, Beförderungen, Bonusprogrammen etc. Die Führungskraft sollte daher besonders auf die Bedürfnisse der „Wahrnehmung“ der Teammitglieder achten. Auch virtuell gibt es einen hohen Bedarf an Personalentwicklung. Es muss ein Zugehörigkeitsgefühl aufgebaut werden, um die Loyalität der Teammitglieder langfristig zu sichern. Denn Sicherheit zu bekommen, steigert die Verbundenheit zum Team und damit verbessern sich das Wohlbefinden und die Leistungsfähigkeit. Wie kann die Organisation die Führungskräfte unterstützen, um Beschäftigte arbeitsfähig zu halten und eine Beschäftigungsfähigkeit wiederherzustellen? „Resilienz“ heißt das Wort der aktuellen Zeit. Es lässt sich als „Widerstandsfähigkeit“ übersetzen, mit der Fähigkeit, sich von äußeren Einflüssen nicht so schnell verunsichern zu lassen, sondern situativ unter veränderten Bedingungen weiterzumachen. In der VUCA-Welt (Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität) erleben wir Situationen, in denen wir flexibel und unter Unsicherheit Entscheidungen treffen, die komplexe Zusammenhänge beinhalten. Dies stellt unsere Unternehmen vor Herausforderungen und es benötigt Widerstandskraft in der Organisation. Wie kann diese aufgebaut werden? Es benötigt Führung und Struktur, aber nicht kontrolllastig, sondern auf Vertrauen basierend und unterstützend. Denn je mehr Interdependenzen ein System enthält, desto komplexer ist es. Wissen Sie, wie sich Ihr Team fühlt? Was jeden beschäftigt? Was deren individuelle aktuelle Herausforderungen sind? Wo Sie sie ggf. unterstützen können oder gemeinsam nach Lösungen suchen? Gerade wenn virtuell gearbeitet wird, ist es wichtig zuzuhören, nachzufragen und empathisch im Projektteam aufeinander einzugehen. In einem ersten Schritt kann dies sicher durch eine „Puls- Umfrage“ geschehen, um ein Gesamtbild zu erhalten. Es ersetzt jedoch nicht das persönliche Gespräch. Projektleiter sollten sich diese Gespräche als Routine in ihren Alltag einbauen. Folgende Leitsätze können dabei helfen: • Ich möchte nicht nur hören, was du sagst, sondern ich möchte verstehen, was du mir sagen möchtest und was du brauchst, damit es dir gut geht und wir gut zusammenarbeiten können. • Ich achte in unserem Gespräch auf die „nonverbalen Zeichen“. • Ich wiederhole, was ich verstanden habe, und kläre, ob das, was ich meine, was du brauchst, auch das ist, was du suchst. Gerade wenn diese Gespräche keine Routinen sind, sollte der Austausch da ansetzen, wo das Team steht, um auch authentisch angenommen werden zu können. Entwickelt sich mit der Zeit eine Kultur des offenen Austausches und Miteinanders, profitieren alle davon. • Es wird als Wertschätzung von den Teams angenommen. • Es steigert das Zugehörigkeitsgefühl und die Verbundenheit miteinander. • Es kann dabei helfen, Prioritäten zu setzen und die vorhandenen Kapazitäten besser einzuschätzen und zu nutzen. Dies ist eine gute Basis der Zusammenarbeit, bei der sich die einzelnen Mitarbeitenden wohlfühlen und dadurch motiviert, Ihren Beitrag zum Ergebnis leisten. Denn Führen auf Distanz heißt, den Kontakt zu den einzelnen Teammitgliedern zu halten, präsent zu sein. Durch zeitnahes Feedback können aufkommende Konflikte zeitnah geklärt, Problemlösungskompetenz gestärkt und die Erfahrung der Wirksamkeit in den Teams genutzt werden. Gute, gesunde Beziehungen machen uns glücklich und widerstandsfähig, auch angesichts von Rückschlägen. In die Verbundenheit der Mitarbeitenden zu investieren ist folglich eine Investition in den Erfolg des Projektes. Austausch, gemeinsames Lernen und interdisziplinäre Teams gehören zu den Basics einer modernen Projektorganisation. Welche Möglichkeiten gibt es in der Praxis, den Zusammenhalt in den Teams zu fördern? 1. Wenig Silos und schlanke Prozesse, um Abstimmungsschleifen abzuschaffen und Ergebnisse mit dem Kunden rückzukoppeln und anzupassen. Das setzt voraus, dass Mitarbeitende Spielräume haben und der Projektleiter auf die Kompetenzen und das Urteilsvermögen seines Teams vertraut. Wissen | Virtuelle Führung-- Was können wir aus Projekten lernen? 46 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0050 2. In Rollen denken und dabei auf Aufgaben und auf die Nutzer*innen fokussieren. Beispielsweise wenn das Thema „gesundes Essen“ stärker in den Arbeitsalltag integriert werden soll- - die Rolle eines „Vitamin Managers“. Jeder Rolle sollte eine Beschreibung zugeordnet werden, aus der die Verantwortlichkeiten und Aufgaben ersichtlich werden und auf die alle Mitarbeitenden Zugriff haben. 3. Soziale Interaktion, um sich kennenzulernen und Spaß zu haben. Beispielsweise spielerisch durch ein „Glücksrad“, bei dem Schätzfragen beantwortet werden oder kleine Geschichten zu einem Thema überlegt werden oder Fragen wie „Was wollte ich schon immer einmal machen? “ oder Challenges zu starten, indem man gemeinsam tanzt. Mit etwas Mut und Experimentierfreude können dadurch neue kreative Ideen entstehen. Um die Beschäftigten arbeitsfähig zu halten, ist es wichtig im Dialog zu bleiben und zu schauen, wo die aktuellen Handlungsfelder im Team sind. Angefangen vom Vertrauen bis hin zum Spaß oder Humor, der die Widerstandskraft stärkt. Zusammenfassend soll die Projektleitung, unterstützt durch die Organisation, Rahmenbedingungen schaffen, die das Team benötigt, um das Ziel zu erreichen und dieses inspirieren, daran mitwirken zu wollen. Statt sich als Projektleitung um die Frage zu kümmern „wie umgesetzt wird“, sollten sie den Blick darauf richten, Beschäftigte von Tagesroutinen zu entlasten. Mitarbeiter sollten mit voller Priorität die Ziele verfolgen können. Um Mitarbeitende zu begeistern, diese Idee zu unterstützen, benötigt es eine Vision-- warum tun wir, was wir tun? Gerade im virtuellen Raum, wo Körpersprache und Kommunikation nicht täglich stattfindet, ist es wichtig, ein gemeinsames Bild zu entwickeln, welches erreicht werden soll. Wenn dieses gemeinsame Bild klar ist, kann die Entscheidungsmacht an das Team abgegeben werden und die Projektleitung für die kleinen Zwischenschritte loslassen. So kann das Team situativ flexibel und zeitnah reagieren. Das Team ist dadurch handlungsfähig. Die Rolle der Projektleitung richtet sich dann darauf, das Ziel zu fokussieren, die Brücke zwischen den Teammitgliedern oder Teams zu bilden, zuzuhören, Impulse und Ideen aufzunehmen, neu zuzuordnen und an der Vision, dem Purpose auszurichten. Wenn dann noch die Organisation den nötigen, beschriebenen Rahmen bildet, kann Führung im virtuellen Raum genauso erfolgreich sein, wie im persönlichen. Eingangsabbildung: ©Lukas Bieri Pixabay Christian Stadler Christian Stadler wurde 1979 in Bochum geboren. Nach seiner Ausbildung zum Bankkaufmann hat er schnell seine Passion für die Personalarbeit entdeckt. Seine Expertise schärfte er durch absolvierte Studiengänge in den Bereichen Wirtschaftsrecht (Schwerpunkt Arbeitsrecht) und Organisationspsychologie. Auch konnte der Autor seine Expertise bereits im Ausland unter Beweis stellen und seinen Horizont erweitern. Beruflich ist Christian Stadler seit knapp 20 Jahren im öffentlichen Dienst zuhause, davon viele Jahre in beratender und verantwortlicher Position im Personal- und Organisationsbereich. Themenschwerpunkte waren dabei u. a. Arbeitsrecht, Personalentwicklung und Recruiting. Am öffentlichen Dienst liebt der Autor besonders das große Potenzial an Chancen, Herausforderungen und Optimierungsmöglichkeiten im HR-Bereich. Handlungsleitend für den Daten- und IT-affinen Autor ist die sinnvolle Digitalisierung von bewährten HR-Methoden und Tools. Aktuell beschäftigt er sich mit diversen Themen rund um „New Work“ und dem „New Normal“. Nebenberuflich ist Christian Stadler als Referent und Dozent bundesweit an verschiedenen Fortbildungseinrichtungen tätig. Ehrenamtlich unterstützt er den Bundesverband der Personalmanager als Mitglied des Gesamtvorstands. Anke Brinkmann Anke Brinkmann wurde 1973 in Räckelwitz geboren. Nach einer Ausbildung zur Konditorin studierte die Autorin an der Technischen Universität in Berlin Betriebswirtschaftslehre mit dem Schwerpunkt Finanzierung und Investition. Nach ihrem Studium arbeitete sie 10 Jahre in internationalen Managementberatungen als Beraterin für IT- und Restrukturierungsprojekte im Rahmen von Organisationsveränderungen und später als Expertin für Organisationsentwicklung sowie im Bereich der Kompetenz, Personalentwicklung und dem Gesundheitsmanagement. Von Beginn an gehörte das Arbeiten in virtuellen Teams zu ihren Aufgaben. 2010 wechselte sie auf die Unternehmensseite und unterstützt seitdem als Projektleiterin als auch in Führungsrollen im Bereich HR und Gesundheitsmanagement Teams, ihr Potenzial zu nutzen und sich zukunftsfähig aufzustellen, mit flexiblen Organisationsmodellen und neuen Arbeitsmethoden. Durch die rasante Entwicklung im Bereich der Digitalisierung wird das Arbeiten in virtuellen Teams neue Normalität. Dabei ist es ihr wichtig, die Verbundenheit in den Teams und mit der Organisation im Fokus zu halten. Ehrenamtlich ist sie seit 2017 im Präsidium und als Fachgruppenleiterin Gesundheitsmanagement des Bundesverbandes der Personalmanager tätig. 47 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0051 Homeoffice und mobiles Arbeiten Wie Corona die Arbeitswelt und das Projektmanagement nachhaltig verändert Florian Kunze Für eilige Leser | Die Coranakrise führt aktuell zu einer massiven Transformation der Arbeitssituation von Millionen Beschäftigten in Deutschland, die Büro- oder Wissenstätigkeiten nachgehen. Zu Beginn des ersten Lockdowns im März und April 2020 wurden plötzlich Millionen von Beschäftigten angewiesen, mobil von zu Hause zu arbeiten. Repräsentative Daten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW, 2020) zeigen, dass durch die Krise die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland im Homeoffice von 12 Prozent auf 33 Prozent gestiegen ist. Generell besteht laut dem IFO Institut sogar ein Potenzial von fast 56 Prozent der Jobs in Deutschland, die im Homeoffice ausgeführt werden können (Alipour, Falck, Peichl & Sauer, 2021). Die Frage für Unternehmen und Beschäftigte über die aktuelle Pandemielage hinaus ist, wie nachhaltig diese Transformation der Arbeitswelt durch die Coronapandemie sein wird. Wird es eine Veränderung der Arbeitssituation hin zu mehr Flexibilität und Mobilität geben, die längerfristig anhält, oder werden die meisten Beschäftigten nach dem Ende der Corona-Lage wieder ins Büro zurückkehren? Erleben wir durch die Coronapandemie eine Veränderung hin zu mehr „New Work“, d. h. zu flexibleren Arbeitsarrangements, mit der Präsenzpflicht im Büro nicht mehr als alleinigen Standard wie bisher? Auch für das Projektmanagement dürften sich in einer solchen neuen Arbeitswelt Chancen und Herausforderungen ergeben. Schlagwörter | Homeoffice, Demographie, Teammeeting, Teamidentität, New Work Die Konstanzer Homeoffice Studie Aktuell führe ich mit meinem Forschungsteam an der Universität Konstanz die Konstanzer Homeoffice Studie durch, in der wir 700 Erwerbstätige befragen, die aktuell im Homeoffice arbeiten und die repräsentativ für die deutsche Erwerbsbevölkerung sind, um diese Fragen zu beantworten (Kunze, Zimmermann & Hampel, 2020). Seit Beginn der Coronapandemie im März 2020 haben wir die Studienteilnehmer an inzwischen 12 Befragungszeitpunkten befragt; zum letzten Mal Ende Januar 2021. Basierend auf den ersten Studienergebnissen würde ich die These aufstellen, dass die coranabedingten Veränderungen der Arbeitswelt sehr nachhaltig sein werden. Was wir in der Studie sehen, ist, dass eine große Mehrheit der Befragten sehr zufrieden mit der neuen Arbeitssituation ist und über ein hohes Engagement und Produktivität berichtet. Zusätzlich wird insbesondere auch die Vereinbarkeit von Arbeits- und Privatleben als besonders positiv während der Homeofficetätigkeit eingeschätzt. Auch wenn das Arbeiten von zu Hause durchaus auch Schattenseiten hat, wie eine soziale Isolierung und eine mögliche emotionale Erschöpfung, wenn man es nicht schafft, seinen Arbeitstag gut zu strukturieren, dürfte es vielen Unternehmen schwerfallen, nach Corona das Rad wieder komplett hin zu einer vollständigen Präsenzpflicht zurückzudrehen. Die Kultur in vielen Unternehmen, die Präsenz im Büro mit Leistung gleichsetzt, dürfte durchaus beträchtlich ins Wissen Wie Corona die Arbeitswelt und das Projektmanagement nachhaltig verändert DOI 10.24053/ PM-2021-0051 32. Jahrgang · 03/ 2021 Wissen | Wie Corona die Arbeitswelt und das Projektmanagement nachhaltig verändert 48 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0051 Wanken kommen und auch die Argumentation von Führungskräften, dass spezifische Bürotätigkeiten grundsätzlich nicht im Homeoffice möglich sind, dürfte schwer zu halten sein. Beschäftigte wünschen sich hybride Arbeitsformen Allerdings sehen wir in den Daten interessanterweise über die Zeit einen Rückgang der zeitlichen Präferenzen für das Arbeiten im Homeoffice (siehe Abbildung 1). Während zu dem Befragungszeitpunkt im Mai 2020, direkt nach dem ersten Lockdown, die höchste Zustimmung bei der persönlichen Präferenz noch bei drei Tagen Homeoffice pro Woche war, ist diese im Oktober 2020 auf zwei Tage zurückgegangen. Auch wollen deutlich weniger Befragte (-5 Prozent) komplett im Homeoffice arbeiten. Diese Daten machen deutlich, dass viele Arbeitnehmende sich eine hybride Form des Arbeitens mit einer Kombination von Präsenzarbeit und mobilem Arbeiten wünschen. In anderen Fragen der Studie sehen wir, dass die Studienteilnehmenden sowohl die Vorzüge der Präsenzarbeit für den sozialen Austausch und das kreative Zusammenarbeiten mit Kollegen und Kolleginnen schätzen als auch die Vorteile des mobilen Arbeitens, wie mehr Ruhe und fokussiertes Arbeiten sowie den Wegfall des Pendelweges wahrnehmen. Volle Rückkehr in Präsenzarbeit reduziert Engagement und erhöht die Erschöpfung Zusätzlich machen unsere Daten auch deutlich, dass es der absolute falsche Weg für Unternehmen ist, bei einem Abflachen der pandemischen Situation wieder alle Mitarbeitenden in die volle Präsenzarbeit zurückzuholen. In unserer Studie konnten wir in den letzte beiden Erhebungswellen im Oktober 2020 und im Januar 2021 beobachten, dass es bei denjenigen Beschäftigten, die wieder in vollständiger Präsenzarbeit sind, einen Rückgang der Produktivität um fast 12 Prozent, im Vergleich zu denjenigen gab, die weiter mobil arbeiten können (Vgl. Abbildung 2). Gleichzeitig steigt bei dieser Gruppe, die wieder in voller Präsenz arbeitet, die gefühlte psychische Belastung auch deutlich an und liegt fünf Prozentpunkte über der Mitarbeitendengruppe, die weiterhin mobil arbeiten darf. Diese Zahlen zeigen eindrücklich, dass durch eine Rückkehr zur Präsenzarbeit die Gefahr besteht, dass die Leistungsfähigkeit einzelner Mitarbeitenden und der ganzen Organisation leidet, und auch Stress und Belastung gesteigert werden. Unterstützung für mobiles Arbeiten durch Arbeitgeber häufig noch ausbaufähig Deshalb haben wir uns in unserer Studie auch angeschaut, wie die Unterstützung der Unternehmen für ein hybrides Arbeiten aktuell und nach Corona aussieht. Hier gibt es derzeit noch großen Nachholbedarf in verschiedenen Bereichen (siehe Abbildung 3). So haben nur 35 Prozent der Unternehmen ihre Mitarbeitenden zu ihrer Präferenz zum mobilen Arbeiten befragt. Dies ist ein sehr niedriger Wert, in Anbetracht der Tatsache, dass eine partizipative Entwicklung von unternehmensweiten Regelungen für mobiles Arbeiten ein entscheidender Erfolgsfaktor sein dürfte. Auch die technische und Wissen | Wie Corona die Arbeitswelt und das Projektmanagement nachhaltig verändert 49 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0051 IT-Ausstattung der Beschäftigten im Homeoffice ist noch ausbaufähig, nachdem eine Mehrheit der Befragten noch keine vollständige technische Ausstattung erhalten hat. Zu improvisieren und darauf zu vertrauen, dass Beschäftigte mit privaten Endgeräten von zu Hause arbeiten, war etwas, was für die kurze Zeit des ersten Lockdowns im März und April 2020 noch sinnvoll war. Wenn es jetzt darum geht, nachhaltiges mobiles Arbeiten zu ermöglichen, ist es zwingend notwendig, ausreichend in die IT-Ausstattung zu investieren, um ein produktives Arbeiten und auch den Gesundheitsschutz der Mitarbeitenden zu gewährleisten. Noch niedriger ist die Zustimmung mit 16 Prozent bei der Frage, ob die Mitarbeitenden schon gezielte Schulungen für das Arbeiten im Homeoffice erhalten haben. Auch hier gibt es also noch erhebliche Potenziale, um die Mitarbeitenden sowohl im Bereich ihrer technischen Kompetenzen (z. B. Nutzung von Online-Kollaborationstools) als auch ihre persönlichen Kompetenzen (sinnvolle Arbeitsstrukturierung) fit für das mobile Arbeiten zu machen. Auch die Fortbildung von Führungskräften fällt unter diese Kategorie. Hier zu investieren erscheint besonders für ein erfolgreiches Projektmanagement in einer mobilen Arbeitswelt sinnvoll. Projektmanagement in einer mobilen Arbeitswelt-- erfolgreiche virtuelle Führung gestalten So ergeben sich auch für ein Projektmanagement in einer zunehmenden mobilen Arbeitswelt neue Chancen und Herausforderungen. Im Vordergrund steht die effektive Führung und Steuerung der virtuellen Zusammenarbeit in entsprechenden Projektteams. Zentral ist hier besonders die richtige Gestaltung von virtuellen Meetings, um Projektteams auch in der virtuellen Zusammenarbeit zu integrieren und zu motivieren. Nach dem Fachartikel von Malholtra, Majchor und Rosen (2007) sind hier sechs Faktoren zentral: Erstens sollten Führungskräfte Vertrauen und Stabilität innerhalb es Teams etablieren, indem klare Kommunikationsregeln und Normen entwickelt werden. Dabei geht es darum, dass allen klar ist, wann und in welcher Frequenz und über welche Kanäle am besten kommuniziert wird. Zusätzlich sollte auch klar sein, welche Informationen vertraulich sind und welche nach außen kommuniziert werden können. Zweitens ist es wichtig, dass die Vielfalt der Teammitglieder verstanden, wertgeschätzt und genutzt wird. Dies bedeutet zuerst einmal, dass die unterschiedlichen demographischen Hintergründe und Einstellungen der Teammitglieder transparent gemacht werden, zum Beispiel dadurch, dass ausführliche Vorstellungsrunden stattfinden und digitale Steckbriefe zur Verfügung stehen. Zusätzlich sollte darauf geachtet werden, dass für spezifische Projekte immer möglichst unterschiedliche Teammitglieder zusammengebracht werden, um wechselseitige Vorurteile abzubauen und Gruppenbildung zu vermeiden. Drittens sollte Teammeetings strukturiert vorbereitet und durchgeführt werden und zum Aufbau einer gemeinsamen Teamidentität genutzt werden. So ist es wichtig, zum Start des Meetings nicht immer sofort mit der inhaltlichen Agenda zu beginnen, sondern auch den sozialen Aspekt der Zusammenkunft für die Teamintegration zu betonen. Während des Meetings ist es wichtig, alle Teilnehmenden engagiert und aktiv zu halten. Dazu gehört besonders auch, eher stillere Teammitglieder aktiv in die Diskussion zu integrieren. Viertens sollten Fortschritte in der Zusammenarbeit und der Beteiligungen der einzelnen Teammitglieder möglichst systematisch nachverfolgt werden. Dies kann geschehen, indem beobachtet wird, wieviel sich Teammitglieder an der asynchronen (in Datenbanken und virtuellen Kommunikationsplattformen) und synchronen (in Teammeetings) Kommunikation und Wissensgenerierung beteiligen. Fünftens muss neben der starken internen Führung und dem Management des virtuellen Teams auch sichergestellt werden, dass es eine externe Sichtbarkeit des Teams und der Ergebnisse gibt. Wichtig ist deshalb besonders innerhalb der Organisation, aber möglicherweise auch außerhalb, zentralen Stakeholdern den Beitrag und Nutzen des gesamten Teams und einzelner Teammitglieder zu kommunizieren. Sechstens sollten den Teammitgliedern auch klargemacht werden, dass sie auch individuell von der Mitgliedschaft in der Gruppe profitieren und Ihnen Wertschätzung und Belohnungen für ihren Einsatz entgegengebracht werden sollen. Dies kann zum Beispiel durch ein symbolisches Management gemacht werden, in dem Lob und Auszeichnungen für besondere Erfolge zu Beginn einer virtuellen Besprechung verteilt werden. Zusätzlich sollten gemeinsame Erfolge virtuell gefeiert werden, was auch wieder die gemeinsame Teamidentität stärken sollte. Ausblick-- Warum mobiles Arbeiten auch nach Corona bleiben wird Auf Basis unserer Studienergebnisse lässt sich klar prognostizieren, dass mobiles Arbeiten auch nach der Corona-Krise mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer deutlich erhöhten Quote fortgesetzt werden wird als zuvor. Zentrale Gründe hierfür wurden auch gerade nochmals in einer Studie aus Stanford beschrieben (Barrero, Bloom & Davies, 2021). Erstens wurden Trägheit und langjährige Widerstände in Organisationen gegen mobiles Arbeiten durch die dynamische Veränderung durch Corona mit einem Schlag überwunden. Zweitens haben sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer Investitio- Wissen | Wie Corona die Arbeitswelt und das Projektmanagement nachhaltig verändert 50 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0051 nen in das mobile Arbeiten getätigt, zum Beispiel in Form von IT-Infrastruktur, die Anreize für eine Fortsetzung geben. Drittens wurde das mobile Arbeiten von dem Stigma befreit, dass dies nur Teilzeitbeschäftigte oder weniger leistungsfähig Arbeitnehmer machen können. Zusätzlich ist es möglich, dass Mitarbeitende auch Maßnahmen der sozialen Distanz beim Arbeiten, zum Beispiel zum Infektionsschutz während der Grippesaison weiter aufrechterhalten werden. Fünftens werden technologische Innovationen für ein effektives mobiles Arbeiten weiter zunehmen. So hat sich bis zum Juni 2020 schon die Zahl der Patente, die explizit das Wort Homeoffice erwähnen in den USA im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt. Schließlich dürfte mobiles Arbeiten auch ein zentraler Faktor für die Arbeitgeberattraktivität werden, der besonders von jungen, auf dem Arbeitsmarkt begehrten Bewerbern stark nachgefragt werden wird. Zukünftig erfolgreiche Unternehmen und Projektmanager sollten sich deshalb schon heute damit auseinandersetzen, wie man das Umfeld in einer mobileren Arbeitswelt so gestaltet, dass eine produktive Zusammenarbeit gelingt. Nachhaltig erfolgreich werden nur diejenigen sein, die hier agieren, statt reagieren und sowohl bei den Mitarbeitenden als auch den Führungskräften in Kompetenzen und Infrastruktur für das mobile Arbeiten investieren. Besonders Fortbildungsmaßnahmen zu einer effektiven virtuellen Führung sollten hier für ein erfolgreiches Projektmanagement in einer mobilen Arbeitswelt im Vordergrund stehen. Literatur Alipour, J-V, Falck, O., Peichl, A., Sauer, S. (2021): Homeoffice Potenzial weiter nicht ausgeschöpft. IFO Schnelldienst, 6 / 2021. https: / / www.ifo.de / DocDL / sd-2021-digital- 06-alipour-etal-homeoffice.pdf Barrero, J. M.; Bloom, N. & Davies, S. J. (2021): Why Working from Home will Stick. Stanford Working Paper. Stanford University Working Paper Serieshttps: / / papers.ssrn. com / sol3 / papers.cfm? abstract_id=3 741 644 DIW (2021): Vor dem Covid-19 Virus sind nicht alle Erwerbstätigen gleich. https: / / www.diw.de / de / diw_01.c.789 505. de / publikationen / diw_aktuell / 2020_0041 / vor_dem_ covid-19-virus_sind_nicht_alle_erwerbstaetigen_gleich. html Kunze, F., Hampel, K., & Zimmermann, S. (2020). Homeoffice in der Corona-Krise: eine nachhaltige Transformation der Arbeitswelt? Policy Paper des Cluster „The Politics of Inequality“ http: / / kops.uni-konstanz.de / bitstream / handle / 123 456 789 / 51 524 / Kunze_2 - 926cp7kvkn359. pdf? sequence=3&isAllowed=y Malhotra, M., Majchrzak A, & Rosen, B. (2007): Leading virtual Teams Academy of Management Perspectives, 21(1): 60-70. Eingangsabbildung: © iStock.com / fizkes Florian Kunze, Kilian Hampel, Sophia Zimmermann Homeoffice und mobiles Arbeiten-- Frag doch einfach! Klare Antworten aus erster Hand utb, erscheint im Herbst 2021 ISBN: 978-3-8252-5664-7 Mehr Informationen zum Autor und der Konstanzer Homeoffice Studie finden Sie unter: www.professorkunze.de Prof. Dr. Florian Kunze Florian Kunze ist Professor für Organisational Studies an der Universität Konstanz und leitet das Future of Work Lab. 51 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0052 Begutachtung von EDV-Projekten Jürgen Reinke Für eilige Leser | Immer wieder hört oder liest man, dass Einführungs- oder Umstrukturierungsprojekte in der Informationstechnik scheitern oder in Zeit und Budget weit über das hinausgehen, was seinerzeit geplant war. Lag es am fehlenden oder falschen Projektmanagementansatz? Wurde die falsche Steuerungsmethodik gewählt? Hat man die Komplexität unter- und die Kompetenz der Beteiligten überschätzt? Oder lag es einfach daran, dass die ‚Stakeholder‘ nicht mitgezogen haben? Im Zuge einer Gutachtenerstellung wird der Sachverständige aufgefordert, zu diesen Fragen Stellung zu nehmen. Entsprechende Ansätze stellt der Autor in dem folgenden Beitrag vor. Schlagwörter | EDV-Projekt, SAP-Projekt, Gutachten, Ressourcenplanung, Normen, Kosten, Standards, Kommunikation, Systemische Projektsicht 1 Projekte aus der Sicht des Sachverständigen Als Sachverständiger der Fachgruppe Informationstechnik wird man i. d. R. erst herangezogen, wenn die ausgeführte Arbeit zur erheblichen Unzufriedenheit des Auftraggebers oder -nehmers ausgeführt wurde oder- - volkstümlich ausgedrückt- - „ das Kind in den Brunnen gefallen ist “. Die Unzufriedenheiten in der Ausführung können technischer (z. B. unzureichende System- oder Programmleistung) oder organisatorischer (schlechtes Projektmanagement, unzureichende Kompetenz oder Widerstände bei den Mitarbeitern) Natur sein. Die typische Situation ist, dass die Kosten davonlaufen und weit und breit noch kein definiertes Ende zu sehen ist. Die Projektleitung steht dann vor folgendem Dilemma: • Der ‚Sprint‘ im Projekt muss aufrechterhalten werden, damit die Projektpartner mit der notwendigen Energie (weiter) am Projekt arbeiten. • Die i. d. R. sich widersprechenden Aussagen der Projektpartner (Eigene Mitarbeiter: „ Es läuft gar nichts! “ vs. externer Projektpartner: „ Wir stehen kurz vor Produktivsetzung! “) müssen verifiziert und abgeglichen werden. • Die Kosten bzw. die weitere Finanzierung des Projektes müssen glaubhaft budgetiert und gegenüber ‚Sponsoren‘ dargelegt und von diesen genehmigt werden. • U. U. muss ein ‚Eskalationsmanagement‘ bzw. ‚Task-Force‘ gebildet werden, um nicht mit den bisherigen Strukturen weiterzuarbeiten. • U. U. muss sogar ein Abbruch des Projektes in Erwägung gezogen werden mit den daraus resultierenden rechtlichen und organisatorischen Folgen. Nicht zuletzt wird der Sachverständige aufgefordert, eine Begutachtung darüber zu abzugeben, „ wer denn nun schuld sei“. 2 Vorgehensweise des Sachverständigen 2.1 Umfeld des Sachverständigen Ein Sachverständiger baut sein Gutachten im Wesentlichen auf drei Säulen auf: • Gesetzliche Grundlagen, deren Nichteinhaltung oder -beachtung ‚automatisch‘ einen Rechtsmangel darstellt; • Normen und Standards, deren Einhaltung zwar nicht zwingend vorgeschrieben ist, aber einen Handlungsmaßstab bilden können, nach dem eine Leistung bewertet werden kann; • persönliche Erfahrung, aufgrund derer der Untersuchungsgegenstand weitgehend objektiv nach den Regeln der Wissenschaft oder des Gewerbes zu beurteilen ist. Unter Beachtung dieser drei Säulen hat der Sachverständige ein Gutachten zu erstellen, das nachvollziehbar und objektiv zu sein hat. Da ein Gutachten i. d. R. zugunsten eines Kontrahenten ausfällt, muss sich der Sachverständige auf die ‚Gegenwehr‘ (i. d. R. durch gegnerische Rechtsanwälte) einstellen, die versuchen, sein Gutachten zu ‚zerpflücken‘. Wissen Begutachtung von EDV-Projekten DOI 10.24053/ PM-2021-0052 32. Jahrgang · 03/ 2021 Wissen | Begutachtung von EDV-Projekten 52 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0052 So kommt es vor, dass ein von der Gegenseite beauftragter Sachverständiger aufgrund der gleichen Säulen genau das Gegenteil beweisen will. 2.1.1 Normenumfeld Dem IT-Sachverständigen stehen im Bereich Projektmanagement einige Normen (z. B. DIN 69 900-69 909-2, DIN ISO 21 500) zur Verfügung. Diese Normen sind aber in der Projektmanagement(PM)-Ausbildung kaum Schulungsinhalt. Ebenso spielen diese Normen in der praktischen Tätigkeit eines Projektmanagers kaum eine Rolle- - ja sind diesem meistens nicht einmal bekannt. Allein die Nichtanwendung von Normen bedeutet aber noch kein schlechtes Projektmanagement. 2.1.2 Rechtliches Umfeld In der Regel wird ein IT-Sachverständiger von einem Auftragnehmer/ -geber oder von einem Gericht herangezogen, um einen allfälligen Mangel und der daraus resultierenden Weigerung auf Bezahlung einer Leistung , Anspruch auf Rückabwicklung eines (Teil-)Auftrages (Wandlung) oder Zubilligung eines Schadenersatzes (z. B. bei Projektverzögerungen oder -abbruch) zu bewerten. Die typischen Fragestellungen bezüglich strittiger Leistungen beim Projektmanagement sind: • Ist das Projektmanagement auf beiden Seiten ziel- und sachorientiert durchgeführt worden? • Welche Ursachen könnten zu dem problematischen Projektverlauf beigetragen haben und wem ist eine Verantwortung zuzuweisen? Dazu muss bemerkt werden, dass die Leistung Projektmanagement i. d. R. niemals allein Gegenstand eines Gutachtens sind. Meistens geht es auch um Fragen der Programmqualität, Budgettreue, Qualitätsmanagement, Technische Realisierung u. w. In diesem Artikel soll aber isoliert die Aufnahme und Bewertung der Leistung Projektmanagement betrachtet werden. Eine umfassende Abhandlung der rechtlichen Beurteilung einer Leistung Projektmanagement würde ein eigenes Thema für einen Fachbeitrag füllen. In diesem Beitrag soll dieses Thema deshalb nur mit einigen kurzen Punkten besprochen werden. Juristen (und auch IT-Fachleute in ihrer Eigenschaft als Sachverständige ) haben die Gegenstände ihrer Untersuchung nach folgender ‚Hierarchie‘ zu bewerten: 1. Welche vertraglichen Vereinbarungen sind getroffen worden? • Werkverträge schulden den Erfolg eines Projektes. Das bedeutet, es müssen nicht nur die unter den folgenden Punkten 2. und 3. genannten Kriterien bei der Realisierung erfüllt sein. Es muss der Erfolg garantiert werden. In einem konkreten EDV-Projekt muss also die Anwendung zur Zufriedenheit des Auftragnehmers laufen. • Dienstleistungsverträge schulden das redliche Bemühen des Aufragnehmers, die bedungene Leistung ordnungsgemäß zu erbringen. Ob das Projekt letztlich erfolgreich ist, ist nicht relevant. In einem EDV-Projekt muss also lediglich die Dienstleitung (z. B. eine Programmierung) ‚handwerklich‘ nach den im folgenden Punkt 3. genannten Kriterien erbracht werden. • Bei einem Dienst- oder Arbeitsvertrag ist die Situation wieder eine ganz andere, da hier arbeitsrechtliche Punkte wie Befolgung von Dienstanweisungen , Treueverhältnis , Aufsichtspflichten etc. eine Rolle spielen. 2. Welche konkreten Arbeitsvorgaben sind vertraglich vereinbart worden? • Ist die Anwendung von Normen oder weitgehend anerkannten Methoden (z. B. Vorgehensweise nach Critical Chain CCPM, PMI , PMBOK , SAP -Phasenmodell oder DIN 69 900, ISO 21 500) vereinbart worden? • Ist die Erfüllung konkreter Teilaufgaben anhand von Milestones an die weiteren Aufgabenschritte gebunden (Teil-Abnahme)? Abbildung 1: Zusammenhang zwischen MA-Zahl und Produktivität. (Eigene Darstellung) Wissen | Begutachtung von EDV-Projekten 53 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0052 3. Entspricht die Leistung folgenden Kriterien? • den anerkannten Regeln der Technik. • dem Stand der Technik . • dem Stand von Wissenschaft und Technik. • den Verkehrssitten. • den Gebräuchen im Geschäftsverkehr . Nehmen wir folgende vertragliche Konstellation an: Es ist ein Werkvertrag zur Einführung eines kompletten EDV-Systems (z. B. für Auftragsabwicklung, Produktion und Rechnungswesen ) mit einem IT-Dienstleister vereinbart worden. Die konkrete Anwendung eines bestimmten Projektmanagementmodells ist nicht vereinbart worden. Eine in solchen Fällen übliche Formulierung lautet: „ Der Auftragnehmer übernimmt eigenverantwortlich sämtliche Arbeiten und Leistungen, die für die erfolgreiche und zeitgerechte Implementierung des vertragsgegenständlichen SAP -Systems erforderlich sind.“ Aus einer solchen Formulierung ist unschwer zu ermitteln, dass dazu auch ein adäquates Projektmanagement gehört. Es sei denn, es handelt sich bei dem Auftraggeber um ein Ein- Personen-Unternehmen, was bei der Einführung z. B. eines SAP-Systems i. d. R. nicht anzunehmen ist. Bezüglich der o. g. Punkte schuldet der Dienstleister gem. Nr. 1. den Erfolg . Zu 2. gibt es keine konkreten Vereinbarungen. Insofern ist er frei bzgl. Normen und Standards. Im Grunde muss er nicht einmal nachweisen, nach irgendwelchen Normen oder Standards gearbeitet zu haben. Die Einhaltung der Kriterien zu Punkt 3 werden von ihm im Rahmen seiner Sorgfaltspflicht als ordentlicher Kaufmann erwartet. Wenn nun das Projekt ‚in Schieflage‘ gerät, geht der Sachverständige an die Aufgabe heran. Die zentrale Frage ist: Ist die Projektplanung und- - durchführung dem Projektauftrag angemessen, nachvollziehbar und schlüssig? 2.2 Untersuchungsgegenstände Soll der ‚Erfolg‘ eines Projektes untersucht werden, gehören folgende Untersuchungsgegenstände dazu: • Welche Projektpartner mit welchen Aufgaben waren / sind involviert? • Welche Annahmen sind hinsichtlich der vertraglichen Grundlagen vorauszusetzen (s. o.)? • Sind Anforderungen und deren Realisierung adäquat priorisiert worden? • Wie waren / sind die jeweils aktuellen Stände des Budgetverbrauchs in Abstimmung mit dem Fertigstellungsgrad? • Wie viele und welche (insbesondere personellen) Ressourcen waren / sind im Projekt involviert? Abbildung 2: Nachträgliche Feststellung des MA-Einsatzes im Projektlauf-- getrennt nach Funktionsprofilen. (Eigene Darstellung) Abbildung 3: Feststellung der prozentualen Aufteilung der Ressourcen während des Projektlaufes-- ungünstiger Verlauf. (Eigene Darstellung) Wissen | Begutachtung von EDV-Projekten 54 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0052 • Welche Instrumente standen / stehen für Ressourcensteuerung und Qualitätsprüfung zur Verfügung? • Wie lief / läuft die Kommunikation im Projekt? 2.2.1 Projektpartner Nicht selten sind in großen EDV-Projekten interne und externe Projektpartner in zweistelliger Anzahl mit entsprechend vielen Mitarbeitern vertreten. Häufig passiert es, dass sich Projektpartner gegenseitig die Verantwortung für bestimmte Projektteile zuschieben. Wer ist z. B. für die Vorbereitungen zur Migration in einem System verantwortlich? Hier gilt es-- leider oft erst im Nachhinein-- zu klären, ob und welche Strukturen hinsichtlich Liefern und Empfangen von Informationen notwendig sind bzw. gewesen wären. 2.2.2 Priorisierung von Anforderungen Das Einfordern der Priorisierung von Anforderungen aus einem Pflichten- oder Lastenheft ist eine wesentliche Aufgabe des Projektmanagements. Dabei stellt sich häufig ein ‚ABC-Effekt‘ heraus: Für 80 % aller Anforderungen (A- und B-Aufgaben) werden 60 % der Ressourcen verbraucht. Für die restlichen 20 % (C-Aufgaben) werden noch einmal 40 % der Ressourcen gebraucht. Dabei wird folgendes übersehen: • Die Organisation ist häufig gar nicht reif für bestimmte automatisierte Vorgänge, die früher durch qualifizierte Mitarbeiter für jeden Einzelfall gelöst wurden. • Während der Entwicklung eines (integrierten) EDV-Systems ist dieses ‚unproduktiv‘, verursacht aber hohe Kosten und Kapitalbindung. Ebenso muss das ‚alte‘ System weiter gefahren werden mit entsprechenden Aufwendungen. • Es gelingt ‚findigen‘ Mitarbeitern durch die Definition von immer neuen Anforderungen („ Das muss unbedingt automatisch laufen “), den Termin für den ‚Echtbetrieb‘ immer weiter hinauszuzögern. 2.2.3 Budgetverbrauch Nehmen wir als Beispiel, der Auftraggeber hat für ein Projekt ein Budget von € 1 Mio. reserviert. Ein häufiger Fehler ist, dass das Management erst eingreift, wenn dieses Budget aufgebraucht ist. In einer Analyse des Projektstatus wird festgestellt, dass zwar € 1 Mio. ausgegeben worden ist, jedoch erst ca. 30 % aller vorgesehenen Projektaufgaben erledigt sind. Nehmen wir an, der Auftraggeber ist bereit, noch einmal € 2 Mio. zusätzlich auszugeben, um das Projekt zu 100 % abzuschließen. Nach einer Zeit sind € 3 Mio. ausgegeben-- und das Projekt zu 60 % fertiggestellt. Hier darf der Sachverständige nicht den Grundsatz ‚Augen zu und durch‘ unterstützen. Sofern Listen der (geplanten) Aktivitäten vorliegen (Diese sind oft als ‚Anhänge‘ zu Verträgen vorhanden) gilt es, mit den Mitarbeitern zu definieren, welche Aktivitäten nun wirklich ‚fertig‘ (einschl. Test und Abnahme) sind. Häufig stellt sich dann heraus, dass eine ‚relative‘ Budgetüberschreitung schon viel früher eingetreten ist. 2.2.4 Ressourcen Kein Projekt kommt ohne Ressourcen aus. In Bauprojekten stehen neben personellen auch umfangreiche technische Ressourcen zur Verfügung. In EDV-Projekten braucht man natürlich auch technische Ressourcen (Server, PC-Arbeitsplätze, Netzwerke, Leitungen). Diese sind aber i. d. R. leicht zu beschaffen, zu steuern und zu budgetieren. Die wesentlichen Kostentreiber sind die personellen Ressourcen. Sollte es zu Projektverzögerungen- - meistens kombiniert mit Budgetüberschreitungen- - kommen, gilt oft der Grundsatz „ Einfach mehr Ressourcen… “. Frei nach dem Dreisatz: „ Wenn 10 Aufgaben von 5 Menschen erledigt werden, wie viel werden dann von 15 Menschen erledigt? - = 30 Aufgaben? “ Rechnerisch richtig- - aber trotzdem falsch. Der USamerikanische Informatiker Frederick Phillips Brooks, Jr. [1] stellt fest: „ Der Einsatz zusätzlicher Arbeitskräfte bei bereits verzögerten Softwareprojekten verzögert sie nur noch mehr .“ Durch die Einarbeitung der neuen Mitarbeiter, Kompetenzabgrenzungen und-- nicht zuletzt-- verschiedene individuelle Arbeits- und Herangehensweisen entstehen Verzögerungen, die den erwarteten ‚Sprint‘ zu einem ‚peu á peu‘ werden lassen. Brooks stellt den Zusammenhang von Projektteamgröße und Produktivität dar: Aufgrund des überproportionalen Kommunikationsbedarfes nimmt die Produktivität eines Projektteams degressiv ab. Brooks berechnet nun die maximalen Kommunikationspfade nach der Formel Abbildung 4: Feststellung der prozentualen Aufteilung der Ressourcen während des Projektlaufes-- günstiger Verlauf. (Eigene Darstellung) Wissen | Begutachtung von EDV-Projekten 55 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0052 Komm.-pfade-= Anz. MA x ((Anz. MA - 1 )/ 2 ). Nehmen wir als Beispiel ein Projekt mit 2.000 zu erfüllenden Aufgaben, die (der Einfachheit halber) durchschnittlich jeweils einen Tag dauern. Würde eine Person diese Aufgaben erledigen, bräuchte sie 2.000 Tage, zwei Personen würden 1.000 Tage brauchen usw. Wären durchschnittlich 30 Personen in das Projekt involviert, müsste das Projekt rechnerisch in 67 Tagen abgeschlossen sein und damit eine Produktivität von 100 % sichergestellt sein. Unter Berücksichtigung der o. g. Formel errechnen wir aber eine Projektlaufzeit von 197 Tagen. Also eine Produktivität von 34 % (s.o. Abbildung 1). Nun kann man einwenden, dass ja nicht jeder mit jedem reden muss. In der Praxis zeigt sich aber doch, dass-- insbesondere bei unzureichendem Kommunikationsmanagement-- die Kommunikation nicht in einer produktiven Weise durchgeführt wird. Im Übrigen wird hier noch nicht auf die Qualität der Kommunikation eingegangen. Wir wissen aus dem praktischen Leben nur zu gut, dass es Menschen immer wieder schaffen, stundenlang ‚aneinander vorbeizureden‘. In der Praxis bedeutet das: • Bei der Projektplanung kann es sinnvoll sein, eine längere Laufzeit einzuplanen-- und dafür weniger MA (in Abhängigkeit von erforderlichen Kompetenzen) zu planen. Die Notwendigkeit der Kontinuität der eingesetzten Mitarbeiter sei hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt. • Bei einer Eskalation kann es sinnvoller sein kann, den Produktivtermin nach hinten zu verlegen- - und mit dem bestehenden Team weiterzuarbeiten, als-- unkoordiniert-- neue Ressourcen einzubinden. Eine weitere Frage ist, welche Qualität die Ressourcen haben bzw. welche Qualifikationen eingesetzt werden. In meiner ersten Projektleiter-Ausbildung wurde folgende kleine Geschichte zum Besten gegeben: Ein Ruderteam stellt fest, dass in einem Ruderboot ein Ruderer und acht Steuermänner sitzen. Da das Team nicht sonderlich erfolgreich war, suchte man nach einer Lösung. Nach umfangreicher Beratung und Analyse kam man zu folgender Lösung: Den Ruderer mehr motivieren! Dieses kleine Beispiel mag zeigen, dass viele ‚Steuermänner‘ in einem Projekt eher hinderlich sein können. Ebenso ist es unproduktiv, wenn viele ‚Ruderer‘ arbeiten, ohne dass es eine effiziente Steuerung gibt. Wie lautet nun die ‚ideale‘ Zusammensetzung eines solchen Teams? Nun, das kommt darauf an! Auf die jeweilige Projektphase. Dazu kann man ein Intensitätsraster erstellen, das eine ‚Ausgewogenheit‘ der eingesetzten Profile darstellt. Graphisch ist das in Abbildung 2 dargestellt. Auf der y-Achse sind die jeweiligen Einsatztage in dem Quartal dargestellt. Deutlich sind hier ‚Dellen‘ in den Quartalen I und II / 2015 zu erkennen. Durch einen Wechsel in der Projektleitung war das Projekt kurzzeitig ‚führungslos‘. Trotzdem wurden die ‚ausführenden‘ Kräfte aufgestockt, um das Projekt voranzubringen. In Zusammenhang mit den vorhergehenden Ausführungen zur Produktivität kann man sich vorstellen. wie ‚chaotisch‘ das Projekt in dieser Zeit lief. Durch den massiven Einsatz des (neuen) Projektleiters in den Quartalen III und IV / 2015 konnte das Projekt jedoch nicht mehr ‚gerettet‘ werden. Ende 2015 wurde das Projekt gestoppt-- und der Sachverständige nahm seine Arbeit auf. Das Intensitätsraster kann auch in einer weiteren Hinsicht genutzt werden. Gerade bei SAP-Projekten werden i. d. R. externe Beratungen hinzugezogen, die nicht nur beraten , sondern auch realisieren. Hier stellt sich die Frage der Ausgewogenheit zwischen externen und internen Ressourcen. Bezüglich dieser Konstellationen sind folgende Phänomene zu beobachten: • Die externen Ressourcen sind überproportional vertreten und ‚interpretieren‘ die Wünsche des Kunden und realisieren an den wirklichen Anforderungen vorbei. • Die internen Anwender richten ihre Wünsche direkt an die jeweils realisierenden Berater ohne eine Abstimmung mit der Projektbzw. Geschäftsleitung. Hier sei der Hinweis gestattet, dass es grundsätzlich sinnvoll ist, wenn realisierende Berater (z. B. Programmierer) direkt mit Anwendern zusammenarbeiten, um hier ‚kurze Wege‘ zu finden. Die grundsätzliche Entscheidung, ob eine Anforderung realisiert werden soll, muss jedoch von den jeweiligen Steuerungsebenen herbeigeführt und beauftragt werden. • Beratungsunternehmen neigen dazu, ihre z. Zt. ‚arbeitslosen‘ oder noch in Ausbildung befindlichen Berater Abbildung 5: Systemwürfel gemäß Liebelt Wissen | Begutachtung von EDV-Projekten 56 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0052 in laufende Projekte ‚zu drücken‘, um diese wirtschaftlich zu nutzen. Ebenso kommt es häufig vor, dass hochqualifizierte bzw. gefragte Berater ‚aus dem Projekt gezogen‘ werden, um sie in anderen Projekten einzusetzen. • Auftraggeber neigen dazu, sich von der Beauftragung eines Beratungsunternehmens eine ‚schlüsselfertige‘ Lösung zu erhoffen. Die Notwendigkeit der Mitarbeit der eigenen MA wird unterschätzt und oft nicht entsprechend geplant. Von den eigenen MA wird erwartet, dass sie die Mitarbeit am Projekt neben ihrer normalen Tätigkeit erledigen. Wenn auch nicht alle Ereignisse in der Zusammenarbeit zwischen internen und externen Ressourcen rechnerisch analysiert werden können, gibt es aus der Erfahrung einige ‚Größenordnungen‘ in welchem Verhältnis interne und externe Ressourcen zusammengesetzt sein sollten. Einen eher ungünstigen Verlauf sieht man in Abbildung 3. Die Intensität des Projektverlaufes zeigt die blaue Linie. Die Linie zeigt die üblichen Projektverläufe. Zur Erläuterung des Beispiels: Wenn ein Projekt 10 Quartale läuft, würden sich linear pro Quartal 10 % an Aktivitäten ergeben. Das ist jedoch nicht praxisorientiert. In den ersten drei Quartalen pendeln die Aktivitäten zwischen 6 % und 12 %. In den folgenden Phasen der Realisierung steigt die Intensität von ca. 7 % bis ca. 15 %. Die höchste Intensität sollte bei Test, Integration des alten Systems und Produktivsetzung vorhanden sein. Alle Prozentwerte der Projektkurve ergeben 100 %. Die Einsätze der externen und internen Mitarbeiter sollten sinnvollerweise der Projektlinie folgen. Das Beispiel zeigt folgende Eigenschaften: • Zum Anfang waren zu viel externe Ressourcen eingebunden, die bereits einen großen Teil des Budgets verbraucht haben. • In der Realisierungsphase waren (wohl noch zu früh) zu viele interne Ressourcen gebunden, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht voll produktiv für das Projekt arbeiten konnten. Die realisierten Objekte waren noch nicht so weit, um von den Anwendern getestet, bewertet und abgenommen zu werden. • Aufgrund der hohen Belastung oder anderer Faktoren (z. B. Ausscheiden entscheidender Mitarbeiter) ‚sackt‘ die Kurve ab, so dass die notwendigen Aktivitäten in den Abschlussphasen (Test, Integration, Prod.-setzung) von externen Ressourcen wahrgenommen wurden. Eine ideale oder zumindest optimale Kurve sollte einen Verlauf nehmen wie in Abbildung 4, die sich durch folgende Eigenschaften auszeichnet: • Zum Anfang sind hohe interne Ressourcen eingebunden, um das Projekt aufzusetzen und die notwendigen Informationen für das Design bereitzustellen. Als externe Ressourcen sind primär die Solution-Architects eingebunden, also die externen Berater, die das Geschäft des Auftraggebers verstehen müssen und Konzepte erarbeiten. • In der Realisierung stehen hohe externe Ressourcen (z. B. für Programmierung und Customizing) zur Verfügung. Für Abstimmprozesse müssen natürlich auch entsprechende interne Ressourcen zur Verfügung stehen. • In der Abschlussphase (Test, Integration, Produktivsetzung) sollten interne und externe (nach Bedarf) Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Abnahmeprozess entsprechend zu unterstützen. Die externen Ressourcen sollten vornehmlich aus Solution-Architects bzw. Senior Consultants bestehen. Diese geben den Bereinigungsbedarf an die Programmierer oder Customizer weiter. 2.2.5 Systemische Projektsicht Die vorgenannten Mengenrelationen zeigen nur den quantitativen Aspekt einer Projektentwicklung. Eine weitere Sicht sollte auf die qualitativen Aspekte eines Projektes gelegt werden. Bruno Jenny [2] liefert dazu einen interessanten Ansatz. In Form eines Systemwürfels [3] stellt er die verschiedenen Aspekte einer qualitativen Betrachtung des Projektverlaufes dar. Die Aspekte Beziehungen (Organisation), Abbildung 6: Beispiel einer ‚humanen‘ Projektentwicklung für ein-- zumindest was die Projektmanagement- Parameter betrifft-- erfolgreiches Projekt. (Eigene Darstellung, in Anlehnung an Liebelt [3]) Wissen | Begutachtung von EDV-Projekten 57 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0052 Elemente (Aufgaben) und Dimensionen (Umfeld) stellt er in einem dreidimensionalen Zusammenhang. (s. Abbildung 5) Die Darstellung in diesem Würfel wird vom Sachverständigen dahingehend erweitert, dass die ‚Erfüllungsgrade‘ entsprechend visualisiert werden. Ein Beispiel für einen ‚humanen‘ Projektverlauf zeigt Abbildung 6. Einige Bereiche sind zwar im ‚roten Bereich‘ gelandet. Dies ist aber nicht ungewöhnlich. Insgesamt kann das Projekt als (organisatorisch) erfolgreich angesehen werden. Natürlich kann man noch nicht vollständig von einem ‚erfolgreichen‘ Projekt sprechen. Die Ergebnisse des ‚Würfels‘ sagen nur aus, dass das Projekt bezüglich der Projektmanagement-Parameter erfolgreich war. Ob die Ziele inhaltlich vollständig (bzw. zur Zufriedenheit der Auftraggeber) erreicht wurden, kann man ggf. darstellen, indem man den Würfel entsprechend adaptiert und z. B. die Aspekte Funktionen , Integration und Ergonomie mit den entsprechenden Ausprägungen (z. B. Aspekt: Funktionen mit den Ausprägungen Rechnungseingang, Rechnungsausgang, Buchhaltung, Controlling) erfasst. Ein anderes Beispiel zeigt Abbildung 7. Hier hat sich das Projekt im letzten Drittel chaotisch entwickelt. Alle Komponenten sind im roten Bereich gelandet. Dass das Projekt inhaltlich erfolgreich war, ist zwar nicht ganz ausgeschlossen, aber eher unwahrscheinlich. 3 Conclusio Wird ein Sachverständiger mit einem Gutachten zu einem Projektverlauf beauftragt, wird er zunächst eine weitgehende Befundung vorzunehmen. Das bedeutet: Verträge, Protokolle lesen, Interviews führen und u. a. die vorgestellten Analysen durchzuführen. Dann bewertet er, welche Dinge hätten erkannt und anders gemacht werden müssen, oder welche ‚zumutbar‘ gewesen wären. Dabei ist es grundsätzlich von Vorteil, wenn der jeweilige Projektmanager ein nachvollziehbares und schlüssiges Vorgehen darstellen kann. Ebenso ist es während der Projektlaufzeit immer zielführend, die Kommunikation mit allen Ebenen bezüglich des Projektmanagements aufrechtzuerhalten, also gewissermaßen ‚den Faden gespannt zu halten‘. Auch wenn es selbstverständlich klingt: Die Mitarbeiter müssen ‚mit ins Boot' geholt werden. Das ausgeklügeltste PM-Konzept nützt nichts, wenn es nicht gelebt wird. Und-- zu guter Letzt: Für welches PM-Modell sich der Projektmanager auch immer entscheidet. Der Erfolg kann nie garantiert werden. Dazu hat jedes Projekt zu viele Parameter. Aber das ist eine andere Geschichte. Literatur [1] Fred Brooks , The Mythical Man-Month. Essays on Software Engineering3 (1995), Verlag Addison-Wesley [2] Jenny, Bruno : Projektmanagement in der Wirtschaftsinformatik5 (2001), Verlag vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich [3] angelehnt an W. Liebelt, M. Sulzberger, Grundlagen der Ablauforganisation (1989) und G. Schmid , Grundlagen der Aufbauorganisation (1985), Verlag Götz Schmidt, Giessen Eingangsabbildung: © iStock.com / DNY59 Jürgen Reinke Jürgen Reinke ist seit 1980 IT-Berater für ERP-Systeme in mittleren und Großunternehmen. Er leitete mehrere Großprojekte in internationalen Versicherungskonzernen wie auch Industrieunternehmen. Seit 2011 ist er Allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger für Informationstechnik (Fachgebiet Projektmanagement) in Österreich. 5760 Saalfelden, Haid 109 Telefon: 0664 / 150 5 440 eMail: juergen.reinke@reinke.at Internet: www.reinke.at Abbildung 7: Beispiel einer chaotischen Projektentwicklung für ein-- zumindest was die Projektmanagement- Parameter betrifft-- misslungenes Projekt. (Eigene Darstellung, in Anlehnung an Liebelt [3]) 58 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0053 Projektmanagement-Effekte bei DB Cargo Christian Drachenberg Für eilige Leser | Die steigende Anzahl der IT-Systeme der DB Cargo AG [1]- - der Schienengüterverkehrstochter der Deutschen Bahn AG [2]-- und die zunehmende Komplexität der Vernetzung dieser Systeme führte die traditionelle Arbeitsweise in Projekten der DB Cargo an ihre Grenzen. Eine im IT-Bereich beginnende Neustrukturierung der Projekte, der zugehörigen Prozesse und Verantwortlichkeiten, eröffnete der DB Cargo neue Wege und Möglichkeiten zur Weiterentwicklung, die vorher nicht im Fokus standen, aber zunehmend als „Best Practice“ empfunden werden. Nachdem IT-Projekte als „Vorreiter“ agierten und andere Bereiche in Folge die neuen Abläufe übernahmen, steigerte sich die Qualität der Projekte bei der DB Cargo weiter. In Zukunft wird es interessant zu beobachten und mitzuerleben, wie sich die Arbeits- und Projektkultur durch die Konzernstrategie „Starke Schiene“ [3] weiter verändern wird. Schlagwörter | Digitale Transformation, Wechselwirkung Projekt und Organisation, Vereinheitlichung Projektmanagement Hintergrund & Historisches Grenzen des „historischen“ Projektmanagements Als die Deutsche Bahn im Jahr 1994 in eine AG umgewandelt wurde [4], ging dies mit einer Aufteilung in Einzelgesellschaften einher. Besonders relevant für einen Zugang privater Anbieter zum deutschen Bahnnetz war die Abspaltung der DB Netz AG, die alle Schienenwege und Trassen als unabhängige Instanz verwaltet. Damit diese Aufgabe effektiv gelöst werden kann, war eine Einführung entsprechender IT-Systeme erforderlich. Die Planung und Einführung von IT-Systemen der DB Cargo nahm um die Jahrtausendwende richtig „Fahrt auf“ (siehe Abbildung 1: Auswertung Softwaresysteme der DB Cargo). Den Beginn machte Software, die die Planung und Produktion von Güterzügen unterstützten. (Anmerkung: Mit „Produktion“ ist im Bahnverkehr die Bereitstellung eines Zuges und Durchführung der Fahrt gemeint. Dies schließt alle sicherheits- Wissen Projektmanagement-Effekte bei DB Cargo DOI 10.24053/ PM-2021-0053 32. Jahrgang · 03/ 2021 Abbildung 1: Auswertung Softwaresysteme der DB Cargo © DB Wissen | Projektmanagement-Effekte bei DB Cargo 59 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0053 relevanten Prüfungen und die Erstellung der erforderlichen Unterlagen ein-- und ist eine „Wissenschaft für sich“). Besonders die Einführung und das Ausrollen neuer Software war im Vergleich zu heutigen Prozessen eher „hemdsärmelig“. Waren zwei Wochen Begleitung durch einen Betreuer vor Ort damals noch ausreichend, ist dieses Vorgehen in der heutigen Zeit nicht mehr vorstellbar. Der damalige Standard „handschriftlich ausgefüllte Dokumente“ wurde durch eine IT-Applikation erweitert, mit der erklärten Zielsetzung, eine elektronische Lösung als Option anzubieten. Die Vereinfachung der Prozesse und die neu gewonnene Unterstützung durch die IT wurde zügig von den Mitarbeitenden akzeptiert, sodass sich die IT-Lösungen als neue Basis etablieren konnten. Mangels konkret für diesen Zweck ausgebildeten IT-Projektleitenden wurden die Projekte durch Kolleginnen und Kollegen aus den Fachbereichen geführt. Diese waren- - und sind- - , was die fachlichen Hintergründe betrifft, absolut auf der Höhe und versiert. Ihre Kenntnisse von Projektleitungsmethoden waren zum Teil sehr gut- - aber eben nicht im IT-Umfeld. Inzwischen wissen wir: Auch mit einer formellen Weiterbildung als Projektleitender benötigt man Zeit, sich in einem „unbekannten Themenumfeld“ zurechtzufinden. Wie in diesem Fall die erfolgreiche Arbeit in einem komplexen Umfeld wie der IT der DB Cargo. Durch die zunehmende Vernetzung der neuen Systeme wurden die Projekte komplexer und die Abstimmungen aufwendiger. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, wurden in der Folgezeit zwei Projektleiter eingesetzt- - einer für die Fachlichkeit, einer für die Abläufe in der IT. Das funktionierte meist sehr gut, vor allem, wenn die Kolleginnen und Kollegen gut zusammenarbeiteten, dennoch gab es teilweise Reibungsverluste. Es gab immer wieder Diskussionen, wer der beiden Projektleiter denn nun „gesamtverantwortlich“ ist- - oder über notwendige Gegenmaßnahmen entscheiden soll. Oder-- im schlimmsten Fall-- für eine Verschiebung von Meilensteinen verantwortlich ist. Die Mitarbeitenden aus dem Fachbereich wollten sich die „Kontrolle“ und auch die Verantwortung nicht nehmen lassen, die Projektbeteiligten aus der IT versuchten, (aus ihrer Sicht) negativen Entwicklungen entgegenzuwirken. Vor allem in der Abstimmung zwischen einzelnen Projekten und Bestandssystemen, was Softwareänderungen, Einführung und Tests betraf, wurde das notwendige Prozedere immer schwieriger. Die Komplexität der Vernetzung durch Schnittstellen und Abhängigkeiten hatte einen Grad erreicht, der diese Teamlösung de facto unmöglich machte. Schaffen neuer Grundlagen Eine Änderung brachte das Programm „Digitale Transformation“. Im Zuge des DB Cargo-weiten Projekts wurden alle Prozesse rund um IT-Projekte durchleuchtet und auf einen durchgängigen Standard gebracht, der auch international funktionsfähig ist und akzeptiert wird. Grundlage waren und sind die Empfehlungen der GPM. Mit dem Beginn der Umsetzungsphase der Digitalen Transformation wurden die Prozesse angepasst und die Verantwortlichkeiten neu sortiert. Als eine der weitreichenden Änderungen wurde das Profil der Projektleitenden neu definiert und entsprechend gestärkt. Jetzt liegt die volle Verantwortung für das Projekt, von der Planung bis zum Abschluss, bei eben diesem Projektleitenden. Inzwischen wurde verstanden und akzeptiert, dass die Fachbereiche ihren Einfluss in IT-Projekten in den Lenkungskreisen und als wichtige Elemente des Projektteams geltend machen können und müssen. Damit wurde die Idee umsetzbar, die am besten geeignete Person, unabhängig von der Zugehörigkeit zu einem Bereich oder Abteilung, als Projektleitenden auszuwählen. Die Ziele des Programms Digitale Transformation wurden erreicht: Abbildung 2: DB Netz AG, Netzleitzentrale Frankfurt am Main: Blick auf die Monitore am Arbeitsplatz des Bereichskoordinatoren Süd (RB Süd, RB Südwest) DB Netz © Deutsche Bahn AG Wissen | Projektmanagement-Effekte bei DB Cargo 60 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0053 • Es gibt deutlich mehr Transparenz in allen Phasen der Projekte. • Die Arbeit an einer koordinierten Vereinheitlichung der Systeme unter der Führung der IT-Architektur-Abteilung wurde möglich und die Umsetzungen dieser Konzepte planbar. • Gemeinsame Projekte mit Schwestergesellschaften der DB Cargo im Ausland wurden „einfacher“ und befinden sich auf einer stabileren Basis. Damit wurde es möglich, die Stärken des europaweiten DB-Cargo-Netzwerks durch eine gemeinsame IT weiter auszubauen. Auf neue Anforderungen von Kunden, Partnern oder auch der verschiedenen nationalen Infrastrukturbetreiber (Gesetzesänderungen, Änderungen der Vorgaben oder Prozesse) kann schneller und effektiver reagiert werden, da das Vorgehen standardisiert ist. Inzwischen ist dieses Modell etabliert und wird im Dialog mit allen Beteiligten weiterentwickelt. Ergebnisse in der IT Fast alle IT-Projektleitenden sind inzwischen IPMA zertifiziert. Neben neuen Mitarbeitenden wurde auch für die Mitarbeitenden aus Nicht-IT-Bereichen eine Zertifizierung gestartet, um die „neuen“ Prozesse und Standards weiter zu verbreiten, die Basis der Projektentwicklung der DB Cargo weiter zu verbessern und die Akzeptanz im Unternehmen für projektorientierte Ansätze zu erhöhen. Auch wenn das Fortbildungsprogramm Corona-bedingt ins Stocken geraten ist, soll an dem Programm der Fortbildung und Zertifizierung festgehalten werden. Nicht nur bei den Projektleitenden gab es Veränderungen. Auch andere Teams und Abteilungen wurden umstrukturiert und mit neuem Aufgabenprofil versehen. Ob es um die IT- Architekten geht, die zukünftige Entwicklungen aufzeigen und die Zukunft im Zusammenspiel der IT der DB Cargo planen, oder aber um die Mitarbeitenden der Einführungskoordination, deren Aufgabe unter anderem die Erstellung von Einführungsdrehbüchern ist, um die Funktionsfähigkeit der komplexen Verknüpfungen bestehender IT-Systeme bei Softwareaktualisierungen sicherzustellen. Der gesamte Lebenszyklus eines IT-Projekts wurde überarbeitet und modernisiert. Von der Idee über die Vorstudie, die Umsetzung und letztendlich den Betrieb wurden Unterlagen und Prozesse angepasst. Eines der Ergebnisse ist die Erkenntnis, dass wir als DB Cargo eine hybride Organisation sind, die sowohl agile als auch klassische Methoden des Projektmanagements nutzt. Obwohl man von Projekt zu Projekt entscheidet, wie eine Umsetzung erfolgen soll, gibt es doch eine Komponente aus der „agilen Welt“, die sich für uns bewährt hat und nicht mehr aus den Projekten der DB Cargo wegzudenken ist: Die „Planungskonferenz“, auf der die Erstellung neuer Software abgestimmt wird, um Konflikte zwischen Projekten frühzeitig aufzuzeigen und zu klären, wie begrenzte Ressourcen bestmöglich zu nutzen sind. In den beteiligten Teams rund um die Projekte ist- - auch getrieben durch die Projektleitenden- - eine selbstlernende Organisation entstanden. Bestehende Dokumente und Prozesse rund um die Projekte werden laufend angepasst-- zum Beispiel wurden Freigabeprozesse weiterentwickelt und vollständig digitalisiert, damit auch in Corona-Zeiten ohne Beeinträchtigungen durch fehlende, gedruckte Freigaben gearbeitet werden kann. Das mag trivial klingen, aber auch in diesem Punkt war eine gewisse Überzeugungsarbeit notwendig, da der bestehende Prozess verändert wurde. In diesem Prozess gab es eine deutlich erkennbare Lernkurve auf dem Weg zu einer selbstlernenden Organisation. Corona-Auswirkungen Abseits von wirtschaftlichen Folgen waren die Auswirkungen der Corona-Krise auch bei Projekten der DB Cargo AG spürbar. Es war eine „Justierungsphase“ notwendig, um die Projekte auf eine komplette „Remotesteuerung“ umzustellen. Homeoffice war bereits vor Corona verbreitet, aber in weit geringerem Maße. Schwerpunkt der Projektarbeit und des Miteinanders war der persönliche Kontakt zwischen den Mitgliedern eines Projektteams und zwischen den Projekten. Abbildung 3: Entlang der Weinberge bei Karlstadt am Main rollt eine Ellok der Baureihe 185.2 mit einem Güterzug Richtung Würzburg © Deutsche Bahn AG Wissen | Projektmanagement-Effekte bei DB Cargo 61 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0053 Es mussten nicht nur praktikable Lösungen für das verteilte Arbeiten gefunden werden, sondern viele weitere Aspekte waren betroffen. Wie führen Sie zum Beispiel einen „Kick-Off- Workshop“ oder ein „Lessons-Learned“ durch? Acht Stunden in einer Videokonferenz zu verbringen ist sehr anstrengend und virtuelle Diskussionen sind eher „schwierig“. Schwerwiegender waren die erforderlichen Anpassungen bei Großveranstaltungen, wie zum Beispiel der Planungskonferenz. Marktstände in einer Halle mit kurzen, persönlichen Gesprächen an Bistrotischen waren nicht mehr möglich. Die Online-Variante funktioniert zwar und bringt auch gute Ergebnisse hervor, aber eine „Netzwerkpflege“-- die der Schmierstoff der digitalen Community ist- - war in dieser Form nicht mehr möglich. Richtet man seinen Blick auf die Ergebnisse, erkennt man, dass die neuen Prozesse mit kleineren Anpassungen auch in einer „Corona-Zeit“ funktionieren und die Herausforderungen zum Teil mit „mehr Zeit“ und eigenen Austauschformaten angegangen werden. Beispiele wären virtuelle Stand-up- Meetings oder ein eigener Tagesordnungspunkt wie „Kaffeeklatsch“ in einem eher formlosen Termin. Ausblick-- „Starke Schiene“ und „Starke Cargo“ Konzernstrategie „Starke Schiene“-- Deutsche Bahn AG und DB Cargo Einen Überblick über die Konzernstrategie „Starke Schiene“ findet man auf den Internetseiten der Deutschen Bahn [4]. Kurz zusammengefasst handelt es sich um ein Programm, die Deutsche Bahn AG zukunftssicher aufzustellen und einen Beitrag zum Klimaschutz und zur Sicherung logistischer Funktionen in Deutschland und Europa zu leisten. Die Strategie Starke Schiene erstreckt sich auf alle Geschäftsbereiche der Deutschen Bahn AG. Die DB Cargo leistet dabei einen wesentlichen Beitrag zur Umsetzung der Strategie. „Starke Cargo“: die „Starke Schiene“ der DB Cargo Am „einfachsten“ ist aus Sicht der DB Cargo IT die Gruppe der Modernisierungsanforderungen an die IT-Systeme. Die Anforderungen sind typischerweise gut verstanden und ausführlich beschrieben. Die IT-Architekten haben ihre Vorstellungen klar dargestellt-- ob es um die Umstellung auf Cloudfähigkeit die Ablösung von Mainframe Systemen oder die Zusammenführung bestehender Systeme geht: Die Projekte sind keine „Selbstläufer“, aber sie sind gut vorbereitet und durchführbar. Die nächste Gruppe beinhaltet Projekte, in denen Neuland betreten wird: • Wie kann ein IT-System aussehen, um die Auslastung der DB Cargo-eigenen Wagen und der Wagen unserer Kunden zu verbessern? • Welche Möglichkeiten gibt es, Bedarfe der Kunden schneller und effektiver zu bedienen? • Wie kann die Kommunikation mit dem Kunden verbessert und seine wachsenden Erwartungen erfüllt werden? • Wie kann ein verlässliches „Forecast-System“ aussehen? Und wie kann man in diesem Fall die Wageneigentümer und die Wagenmieter (das sind oft unterschiedliche Gesellschaften) informieren? • Wie kann der Datenschutz durchgehend sichergestellt werden? Im Güterverkehr benötigt man mehr als eine Art von Wagen: Teile für die Automobilindustrie werden in unterschiedlichsten Wagentypen geliefert, aber die Hersteller brauchen besondere Wagen zum Transport der fertigen Autos. In beiden Fällen fahren Wagen unter Umständen leer zurück. Das geht auch noch etwas komplizierter: Nicht immer benötigt ein Kunde einen kompletten Zug von A nach B- - um bei unserem Beispiel zu bleiben: Fertige Automobile sind vom Werk zu einem Verladehafen zu befördern. Manche Kunden buchen nur zwei oder drei Wagen, weil sie einfach keinen Bedarf für einen gesamten Zug haben. Abbildung 4: Digitale Weichendiagnose mit DIANA © Deutsche Bahn AG Wissen | Projektmanagement-Effekte bei DB Cargo 62 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0053 • Wie stelle ich aus mehreren dieser Wagen verschiedener Kunden effektiv einen Zug zusammen? • Wie kann ich die Planung IT-technisch unterstützen? • Wie schaffe ich es, die benötigte Zeit in den Rangieranlagen zu verkürzen? • Wie kann ich das Informationsbedürfnis des Kunden zu seiner Zufriedenheit und seinen Erwartungen entsprechend bedienen? • Und wie stellt man durch Erweiterbarkeit eine Zukunftsfähigkeit her, damit noch kommende Änderungen nur „kleinere Anpassungen“ und keine komplette Neuplanung erfordern? Abgesehen von der IT müssen hier Prozesse und Arbeitsabläufe untersucht und optimiert werden, um sich in einem zweiten Schritt über eine Umsetzung Gedanken zu machen. Da die Zeit drängt und die Kolleginnen und Kollegen aus dem Fachbereich nur begrenzt zu einem Projekt abgestellt werden können, um die Vorarbeiten zu begleiten, möchte der Fachbereich oft einen agilen Ansatz verfolgen. Das scheint ein guter Ansatz zu sein, bis man zu den Risiken eines agilen Vorgehens ohne hinreichende Ausgangsplanung kommt. Ohne klare Projektziele und Meilensteine läuft das Projekt Gefahr, sich in Details zu verlieren und wesentliche Ziele zu verfehlen. Gerade gegen Ende des Projekts sind die schwierigen Ziele noch offen, da die Vorarbeiten nicht abgeschlossen waren und eine Umsetzung dann ohne massiven Mehraufwand nicht mehr möglich ist. Als erstes Zwischenfazit kann festgehalten werden, dass die Umstellung auf einen Projektfokus in diesen Fragen und die entsprechende Rückendeckung des DB Cargo Managements weiterhelfen, gute Ergebnisse zu erzielen. Beispiele für übergreifende Elemente Ein wahrer Test der neuen „Projektkultur“ der DB Cargo kommt in der Zusammenarbeit mit nationalen und internationalen Schwestergesellschaften des Deutsche Bahn Konzerns. Analog zur DB Cargo haben sich auch hier „bevorzugte bzw. erprobte Vorgehensweisen“ herauskristallisiert. Findet sich nun auf beiden Seiten oder zumindest einer Seite ein Team mit einem umfassenden Projekt Know-how, ist es gut machbar, sich entweder dem Partner anzupassen oder aber ein gemeinsames Vorgehen zu finden. Zieht eine Gesellschaft ein Vorgehen nach dem klassischen Projektvorgehen vor, dann kann sich die andere Seite auch bei einem eigenen agilen Ansatz darauf einstellen und das Projekt entsprechend steuern. Mit Wissen und Vertrautheit in verschiedenen Aspekten der Projektleitung und der entsprechenden Erfahrung ist es möglich, die eigenen Prozesse und Dokumente leicht anzupassen, damit eine Transparenz auch innerhalb der gesamten Organisation gewährleistet ist. Das klingt nach mehr Aufwand als es tatsächlich ist. Die Konzernvorgaben der Deutschen Bahn AG gestatten kleinere Abweichungen und unterschiedliche Ausgestaltungen im Projektprozess, aber gewisse Grundlagen und Dokumente sind vorgegeben. Ob ein Vorstudiendokument ein Kapitel oder zwei verpflichtende Anhänge mehr hat, ist nicht erheblich. Klassisches Beispiel für dieses Vorgehen ist die Umstellung der Zugleittechnik auf „ECTS“ [5]-- ein europaweit einheitliches Verfahren zur Steuerung von Zügen. (Anmerkung: Züge fahren nicht wie Autos „auf Sicht“, der Bremsweg von der ersten Sicht des Lokführers auf das Signal bis zum Signal ist in der Regel zu lang. Aus diesem Grund wird der Status des nächsten Signals über ein Leittechnikverfahren vorgemeldet und der Lokführer kann entsprechend reagieren). Damit diese Technik auch genutzt werden kann, ist es notwendig, dass nicht nur die Infrastruktur der Strecke ausgerüstet wird, sondern auch die Triebfahrzeuge. Der Mischbetrieb von alten und neuen Standards der Leittechnikverfahren muss ebenfalls möglich sein, um einen sicheren Betrieb zu gewährleisten. Ein weiterer Aspekt sind internationale Projekte mit Tochtergesellschaften der DB Cargo aus den jeweiligen Ländern (Anmerkung: DB Cargo hat 16 eigenständige Tochtergesellschaften in ganz Europa, von Spanien bis Bulgarien, von Italien bis Dänemark-- bis hin zur neuen Seidenstraße nach China). Hier wird es komplizierter- - nicht nur wegen der Sprachbarriere und unterschiedlicher Firmenkulturen. Das Sprichwort „Andere Länder andere Sitten“ gilt in gewisser Weise auch für den Bahnverkehr. Die grundsätzlichen Abläufe sind identisch und in der EU geregelt, aber wenn es um Details geht, dann zeigen sich Feinheiten, welche die Projektarbeit erschweren (die ich aus eigener Erfahrung kennenlernen konnte). Kleinigkeiten wie leicht unterschiedliche Dokumente, erlaubte Schichtzeiten oder komplett andere Prozesse und zeitliche Vorgaben bei der Bestellung von Trassen (z. B. in Rumänien) sorgen dafür, dass es sehr schwer wird, eine einheitliche Softwareplattform zu schaffen. Diverse Sonderregelungen wie „es fahren auch auf elektrischen Triebfahrzeugen noch Heizer mit“ (UK) sind dabei eher noch amüsante Fußnoten. Bahnverkehr ist nicht mehr national. Die europa- und weltweite Vernetzung von Produktionsketten erfordert Güterverkehr über Grenzen hinweg. Die Stärken der Eisenbahn zeigen sich vor allen bei Verkehren über weite Strecken. Eines der prominentesten Beispiele ist die Verbindung Rotterdam-- Genua, die durch vier Länder führt. Jede Vereinfachung der aufwendigen Trassenbestellungen und Prozesse bei der eigentlichen Fahrt steigert die Effektivität der Zugfahrt und spart Ressourcen. Aus diesem Grund ist es eine Erleichterung und Vereinfachung der Abläufe, wenn vergleichbare Prozesse und Abbildung 5: Weichen und Gleisverbindungen im Nürnberger Rangierbahnhof © Deutsche Bahn AG Jetzt online lesen in unserer neuen eLibrary www.pmaktuell.de Der Online-Zugriff ist in den Leistungen für GPM Mitglieder inbegriffen. Noch kein GPM Mitglied? Schreiben Sie uns unter mitglieder@gpm-ipma.de. Herausgeber: GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V. Unter Mitwirkung von: spm - Swiss Project Management Association und Projekt Management Austria P R OJ E K T M A N A G E M E N T A K T U E L L Wissen | Projektmanagement-Effekte bei DB Cargo standardisierte Software für alle beteiligten Partner zum Einsatz kommen. Eine der ersten Aufgaben in einem solchen Projekt ist es also, die jeweiligen Prozesse zu erfassen, damit ein Vergleich möglich wird. Eine Angleichung oder Vereinheitlichung der Prozesse zu definieren, ist dann die Voraussetzung für eine Umsetzung in der IT. Fazit Start-ups fällt der Umgang mit neuen Ideen und einem steten Wandel leichter- - es ist der Kern ihrer Geschäftsidee. Große Unternehmen haben im Laufe ihres Wachstums diese Fähigkeit oft zumindest teilweise eingebüßt. Hier ist es hilfreich, Teams oder Abteilungen zu haben, die den Wandel vorantreiben und diese Fähigkeit im Bewusstsein halten. Auch wenn die Umsetzungsgeschwindigkeit zuweilen niedriger als erhofft ist: die Änderungen zeigen Wirkung. Den Nutzen haben die Vorhaben, die deutlich an Qualität und Flexibilität gewinnen. Andererseits werden neue Wege und Ideen aufgezeigt, von denen auch Kolleginnen und Kollegen, die nicht so stark in Projekte involviert sind, profitieren. Sie erkennen, dass es sinnvoll sein kann, „tägliches Projektgeschäft“ an jemanden zu übergeben, der damit vertraut ist und können sich auf ihre eigenen Stärken zu konzentrieren-- die Fachlichkeit und das Wissen um Abläufe und Vorschriften. Unterstützt das Management dieses Vorgehen und konzentrieren sich die Projektleitenden auf ihre Aufgaben, die Fülle an Ideen, Anforderungen und Anmerkungen zu ordnen und eine Umsetzung zu liefern, dann bringen diese gemeinsamen Projektteams mit Wissen und Erfahrung jedes Unternehmen nach vorne. Christian Drachenberg Christian Drachenberg ist seit 2012 bei der DB Cargo AG als Projektleiter tätig. Schwerpunkte der bisherigen Tätigkeiten lagen im Bereich „Europaweite Produktionssysteme“ und „Modernisierung der IT“. eMail: Christian.Drachenberg@ deutschebahn.com Literatur [1] DB Cargo AG | Deutsche Bahn AG; https: / / www.deutschebahn.com / de / konzern / konzernprofil / Konzernunternehmen / db_cargo-1 191 810? qli=true&page- Num=0&contentId=1 191 968 , Stand: 26. 05. 2021. [2] DB Konzern | Deutsche Bahn AG; https: / / www.deutschebahn.com / de, Stand: 26. 05. 2021. [3] Die Gründung der Deutschen Bahn AG | Deutsche Bahn AG; https: / / www.deutschebahn.com / de / konzern / geschichte / bahnreform-1 188 014, Stand: 26. 05. 2021. [4] Deutschland braucht eine starke Schiene | Deutsche Bahn AG; https: / / www.deutschebahn.com / de / konzern / starke_schiene-3 953 064, Stand: 26. 05. 2021. [5] European Train Control System-- Wikipedia; https: / / de.wikipedia.org / wiki / European_Train_Control_System , Stand: 26. 05. 2021. Eingangsabbildung: © Deutsche Bahn AG Jetzt online lesen in unserer neuen eLibrary www.pmaktuell.de Der Online-Zugriff ist in den Leistungen für GPM Mitglieder inbegriffen. Noch kein GPM Mitglied? Schreiben Sie uns unter mitglieder@gpm-ipma.de. Herausgeber: GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V. Unter Mitwirkung von: spm - Swiss Project Management Association und Projekt Management Austria P R OJ E K T M A N A G E M E N T A K T U E L L Anzeige 64 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0054 Chancen der Online-Lehre für Projektmanagement an Hochschulen Dörte Bräunche, André Dechange, Claudia Förster, Susanne Marx Für eilige Leser | Die Corona-Pandemie hat in 2020 auch die Projektmanagement-Dozenten an Hochschulen vor große Herausforderungen gestellt. In kürzester Zeit wurde das Lehrkonzept auf die Online-Lehre umgestellt. Welche Erfolgsrezepte haben sich bewährt? Um dieser Frage nachzugehen, wurden 20 Hochschuldozenten in einer Studie interviewt. Im Ergebnis zeigen sich drei Faktoren als wesentlich: Erstens, die Haltung des Dozenten im Sinne eines agilen Mindsets-- nur mit Mut, Experimentierfreude, Neugier und Fehlertoleranz lässt sich die Online-Lehre etablieren. Zweitens ist die Auswahl der Technik essenziell. Drittens gilt es, durch wirksame Methoden trotz der physischen Distanz eine soziale Beziehung aufzubauen. Weiteres Fazit: Die Online-Lehre bietet vor allem Chancen für die Verzahnung mit der Wirtschaft, um Studierenden Einblicke in die Projektwelt der Praxis zu vermitteln. Schlagwörter | Online-Lehre, Digitalisierung, Blended Learning, Digitale Lehre, Blended Online, Projektmanagement- Lehre, Didaktik 1 Einleitung „Und dann plötzlich die Challenge: Vorlesung aus dem kleinen Sendesaal at Home! “ Im Sommersemester 2020 wurden Dozenten an Hochschulen vor die Aufgabe gestellt, ihr Lehrkonzept in kürzester Zeit auf ein digitales Format zu übertragen. Während manche schon mit gemischten Formaten (Blended Learning) experimentiert hatten, standen andere davor, ihr Lehrkonzept komplett zu überdenken. Welche Erfahrungen haben Dozenten des Projektmanagements in dieser Zeit gemacht und welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus für die Zukunft der Projektmanagement-Lehre ableiten? Dieser Frage sind die Autoren in der hier vorgestellten Studie von November 2020- - März 2021 nachgegangen. In strukturierten, ca. einstündigen Interviews sprachen sie mit zwanzig Dozenten in Deutschland und der Schweiz, die in der Arbeitsgruppe der GPM Projektmanagement an Hochschulen engagiert sind. Die Interviews wurden aufgezeichnet, transkribiert und qualitativ ausgewertet. Die wesentlichen Themen der Interviews umfassten inhaltliche und didaktische Anpassungen der Lehre, den Aufbau des Online-Kurses mit seinen digitalen und didaktischen Elementen, die Zufriedenheit der Studierenden, Prüfungsformen, Tipps und Erfolgsfaktoren. Die Teilnahme an den Interviews war freiwillig, damit sind die Aussagen nicht repräsentativ. Zur Reduzierung subjektiver Einflüsse bei der Befragung erfolgte eine Aufteilung der Interviews auf alle vier Autoren mit einem abschließenden Abgleich der gewonnenen Erkenntnisse. Die interviewten Dozenten sind schwerpunktmäßig hauptamtlich lehrende Professoren, die Projektmanagement in Bachelor- und Master-Studiengängen unterrichten. Fast alle Interviewpartner mussten von einer überwiegenden Präsenzlehre zum Sommersemester 2020 auf die vollständige Online-Lehre wechseln. Im Unterschied zur Präsenzlehre, bei der sich Dozenten und Studierende an einem Ort befinden, stellt die Online-Lehre, bei der dieser Austausch ausschließlich digital gestützt erfolgt, erweiterte Anforderungen. Gilly Salmon [1] diskutierte in ihrem Modell das nötige Zusammenspiel von technischem Support und E-Moderation, um das digital gestützte Lernen über fünf Stufen mit jeweils erhöhter Interaktivität zu begleiten. Bei diesem Modell wird deutlich, dass zwischen Zugang und Wissenserwerb die Stufe der Sozialisation in der Gruppe ein wesentliches Element ist. 2 Corona als „Frischzellenkur“ für die Lehre? „Ich habe immer nur gedacht, müsste ich mal, aber jetzt musste ich einfach.“ Mit Offenheit hat sich ein Großteil der Interviewpartner der Herausforderung der Umstellung auf ein ausschließlich digitales Lehr-Lern-Angebot gestellt, wie eine Wissen Chancen der Online-Lehre für Projektmanagement an Hochschulen DOI 10.24053/ PM-2021-0054 32. Jahrgang · 03/ 2021 Wissen | Chancen der Online-Lehre für Projektmanagement an Hochschulen 65 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0054 Dozentin sagte, sie „erlebe es wie eine Frischzellenkur“ . Die Situation hat Dozenten selbst in die Rolle des Lernenden versetzt, „sich zu trauen, jeden Tag wieder etwas Neues auszuprobieren, auch mit der Gefahr, dass man sich total blamiert“. Diese Experimentierfreude hat vielfältige Lehr-Lern-Szenarien hervorgebracht. Insgesamt ist ein agilerer Ansatz in der Lehrplanung zu beobachten, der auf häufigerem Feedback zwischen Studierenden und Dozenten während des Semesters basiert. Regelmäßiges Feedback, Reflexion der Gruppenarbeit oder Retrospektiven am Ende einer Lehr-Lerneinheit verbunden mit der Möglichkeit Wünsche zu äußern, führte zu einem kontinuierlichen Verbesserungsprozess in der Lehrveranstaltung und festigte zudem das gegenseitige Vertrauen. Dabei wurde die besondere Anstrengung der Dozenten von den Studierenden auch wertgeschätzt. Die Rolle des Dozenten scheint sich insgesamt verändert zu haben. Neben der Expertise im Fachgebiet und in der Didaktik erlangen technische Fähigkeiten im Umgang mit Software für Lehr-Lern-Szenarien, Medienproduktion und rechtliche Kenntnisse ebenso Bedeutung, wie das Coaching der Studierenden in der digitalen Lern-Umgebung, die Anregung der digitalen Interaktion und die Förderung der Netiquette sowie die Moderation von Feedback-Prozessen. Diese Rolle vereint sowohl den technischen Support als auch die E-Moderation, wie von Gilly Salmon für das Lernen im digitalen Raum beschrieben [1]. Dass diese Umstellung herausfordernd war, bestätigen die analysierten Interviews, insbesondere durch folgende Problematiken: • aufwendigere Vorbereitung u. a. durch Aufbereitung im Lernmanagementsystem (LMS), Entwicklung von Alternativen für Technikausfall (der „Plan B“); • größere wahrgenommene Distanz durch verringerten sozialen Kontakt zwischen Lehrenden und Lernenden aber auch zwischen den Lernenden untereinander (Anonymität, kein Sichtkontakt, die sogenannte „schwarze Wand“ ausgeschalteter Kameras); • technische Hürden (Ausstattung Hochschule und Studierende); • veränderter Fokus (Angst vor Mitschnitten, zunehmende Abstumpfung und Konsumhaltung der Studierenden); • Einschränkungen für Lehr-Lern-Elemente, die haptische oder physische Aktion erfordern; • Unsicherheit bei den Themen Datenschutz und Software- Auswahl; • zum Teil mangelnder Austausch unter Kollegen der eigenen Hochschule. Durch das Experimentieren und den damit verbundenen positiven Erfahrungen im Semester zeigen die interviewten Dozenten jedoch eine überwiegend positive Einstellung zur Online-Lehre. Genannte Vorteile der Online Lehre waren insbesondere: • Erprobung der virtuellen Team- und Projektarbeit als Vorbereitung für die Berufspraxis; • zunehmende Strukturierung, Material- und Methodenvielfalt; • Nutzung alternativer Formen der Zusammenarbeit z. B. Unterstützung durch digitale Whiteboards, die auch von Studierenden sehr positiv gesehen wurden; • verringerte Reisezeiten. Die zunehmende Material- und Methodenvielfalt sowie die flexible Anpassung durch intensives Feedback hat auch in der reinen Online-Lehre zu einem Fokus auf Blended Learning geführt. Dabei wird Blended Learning nicht im klassischen Sinn als Mix von Präsenz- und Digital-Unterricht gesehen, sondern fokussiert das zeitbasierte Verständnis mit der zentralen Ausrichtung auf asynchrone und synchrone Lehr-Lern-Elemente [2]. Damit konzentriert sich das Lehr-Design auf die Abfolge von Elementen, die der Studierende zeitversetzt (asynchron) bzw. zeitgleich mit dem Dozenten (synchron) bearbeitet. Für die Unterscheidung vom klassischen Verständnis von Blended Learning sprechen wir im Folgenden von Blended Online. 3 Lehr-Lern-Design: Der Mix aus Didaktik, Software und Zeit Im Vergleich zu reinen Präsenzvorlesungen haben die meisten Interviewpartner inhaltliche und didaktische Veränderungen am Lehr- und Lern-Design vorgenommen. Inhaltlich wurden in vielen Fällen schwierig umzusetzende Elemente (wie z. B. Planspiele und haptische Übungen) reduziert bzw. ersetzt. Im Rahmen der didaktischen Änderungen wurden insbesondere asynchrone Elemente entwickelt und eingesetzt. In vielen Fällen gab es eine asynchrone Vorbereitungsphase meist zur Theorievermittlung durch Videos (Dozentenvideos oder be- Abbildung 1: Beispielhafte Gestaltung einer Blended Online Lehr-Lern-Einheit Wissen | Chancen der Online-Lehre für Projektmanagement an Hochschulen 66 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0054 reits bestehende Videos), Übungen oder Readings (Artikel, Texte, Bücher). Die synchrone Vorlesungszeit wurde nicht nur für Input der Dozierenden, sondern auch für die Vertiefung und Anwendung des Wissens in Break-Out-Sessions und Online-Übungen genutzt. Diese Herangehensweise entspricht dem Invertedbzw. Flipped-Classroom-Konzept, bei dem sich Lernende in einer asynchronen Phase mit dem Lehrstoff auseinandersetzen, bevor dieser in einer synchronen Phase interaktiv mit dem Dozenten vertieft wird [3]. Durch die Umstellung auf die Online-Lehre hat dieses Konzept einen deutlich größeren Stellenwert erhalten. Abbildung 1 zeigt die Möglichkeiten und Alternativen von asynchronen und synchronen Lehr- und Lernelementen (Blended Online Matrix). Im Folgenden wird der Einsatz der verschiedenen Elemente durch entsprechende Software beschrieben. „Das Tool [Software] ist immer nur ein Mittel zum Zweck.“ Das Lehr-Lern-Design wird durch verschiedene Software Programme unterstützt. Drei Systemtypen haben sich dabei als essenziell herausgestellt, um asynchrone und synchrone Lern-Elemente im Blended Online Ansatz umzusetzen: • LMS • Videokonferenz-Software • Digitale Whiteboards Punktuell werden diese um weitere Anwendungen ergänzt. Den Einsatz und die Verteilung der eingesetzten Software zeigt Abbildung 2. Das LMS Moodle ist für die Interviewpartner mit Abstand das meistgenutzte System. LMS werden mit unterschiedlichem Funktionsumfang eingesetzt. Das Nutzungsspektrum variiert von der Weitergabe asynchron nutzbarer digitaler Informationen (z. B. Skripte, Readings, Projektmanagement- Vorlagen, Eigen- und Fremdvideos) über die Bereitstellung von Links zu Cloud-Anwendungen, digitaler Testfragen für die Lernerfolgskontrolle, asynchrone Kommunikation / Interaktion zwischen Lehrkraft und Studierenden (z. B. Selbsteinschätzung mit Peer-Feedback, Umfragen) bis hin zur Durchführung von Online-Prüfungen. Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass die Teilnehmer der Studie die Auswahl digitaler Lernelemente im LMS an dem Erfahrungswissen der Studierenden, den Lernzielen und dem Lehr-Lern-Design ausrichten. Im Bereich der Videokonferenzsysteme werden an den Hochschulen der Interviewpartner bisher vorwiegend Zoom und Webex genutzt. Alle in den Interviews genannten Videokonferenzsysteme bieten den technischen, synchronen Aktionsraum zwischen Dozenten und Studierenden. Die synchrone virtuelle Zusammenarbeit aller Akteure findet in einem Hauptraum (Plenum) oder in parallelen Arbeitsräumen (Breakout room) für Kleingruppen statt. Integrierte Funktionen der Konferenzsysteme wie Chat und Umfragen sind weitere wichtige Funktionen zur Ad-hoc-Interaktion bei Fragen aus dem Plenum bzw. Gruppenraum, dem zeitgleichen Informationsaustausch, („chat storming“) wie z. B. Nennung von Story Points beim gemeinsamen Schätzen, oder sie dienen der gezielten Stimmungsabfrage, um die Studierenden zu aktivieren. Funktional „einfache“, intuitiv nutzbare Software für eine synchrone Zusammenarbeit sind integrierte Whiteboards in Konferenzsystemen (z. B. Teams, Zoom, Webex) oder Online- „Pin-Wände“ wie Padlet bzw. Trello. Insbesondere Trello wird bevorzugt zur einfachen Aufgabenplanung und -verfolgung im Team u. a. bei agilen Projektvorgehensweisen eingesetzt. Die funktional mächtigeren Whiteboard-Software-Werkzeuge, bspw. Mural, Miro oder Conceptboard, unterstützen die synchrone wie auch asynchrone Zusammenarbeit und ermöglichen kollektives Lernen im virtuellen Raum. Diese Software- Werkzeuge fördern den Lerntransfer integrativer Methoden von Projektmanagement-Prozessen wie z. B. das Stakeholder Management oder die gemeinsame Erstellung einer sequenziellen Projektplanung für ein Praxisprojekt. Die Ergebnisse der Befragung verdeutlichen die vielfältige Nutzung von Whiteboards und den darin enthaltenen Vorlagen von Werk- Abbildung 2: Einsatz von Software in der digitalen Lehre Wissen | Chancen der Online-Lehre für Projektmanagement an Hochschulen 67 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0054 zeugen und Methoden für das Projektmanagement. Nachfolgend sind einige Beispiele aufgeführt: • Brainstorming mittels Mindmapping-Methode; • Ideenpriorisierung mittels „Dot-Voting“ (Punktevergabe); • Erarbeitung des Projektsteckbriefs anhand eines Projekt Canvas; • Erarbeitung des Business Case mittels Business Model Canvas; • Erstellung einer sequentiellen PM-Planung einschließlich Gantt-Chart; • Nutzung für agile Praktiken wie Story Mapping, Retrospektiven, Kanban-Taskboard, Planning Poker. Vergleichbar zum Präsenzunterricht wird zur synchronen wie auch asynchronen Bearbeitung von Projektmanagement-Aufgaben etablierte Projektmanagement-Software eingesetzt, wie z. B. MS Project oder Project Libre (siehe weitere Systeme und Auswahlkriterien [3]). Spezifische Excel-Vorlagen dienen beispielsweise der Risiko-Analyse oder im Projektcontrolling dem Soll-Ist-Vergleich bzw. der Meilenstein-Trendanalyse. In einem Fall kam eine individuell entwickelte WebApp zur Kapitalbarwertermittlung von Projektalternativen zum Einsatz. Für die synchrone wie auch asynchrone Lernerfolgskontrolle setzen einige Befragte Software-Werkzeuge für Wissenstests und Quiz, z. B. am Ende einer Lehr-Lern-Einheit, ein. Für Wissenstests werden Funktionen des LMS, häufiger jedoch die Software Mentimeter und in einigen Fällen die spielerisch geprägte Anwendung Kahoot genutzt. Umfragen werden synchron oder asynchron durchgeführt, um z. B. die Bedürfnisse und Erwartungshaltungen der Teilnehmer abzufragen, Feedback zu erhalten oder ein Stimmungsbild einzuholen. Auch hierfür wird u. a. Mentimeter genutzt. Die Befragten empfehlen vier Punkte für den erfolgreichen Einsatz von digitalen Lehr-Lern-Elementen: • die sorgfältige Auswahl der Software; • Transparenz des Lehr-Lern-Designs für die Studierenden; • eigene Begeisterung für die einzusetzende Software; • Partizipation der Studierenden bei der Software-Auswahl für Individual- und Gruppenaufgaben. Die Interviewpartner betonen, dass ein erfolgreicher Einsatz von Software für digitale Lernelemente wesentlich von einem einfachen Anmeldeprozess, einer sicheren und stabilen Performance sowie einer hohen Benutzerfreundlichkeit abhängt. Insgesamt gilt bei der Auswahl der Software-Werkzeuge: „Weniger ist mehr“ . Das Lehr-Lern-Design, d. h. die Lernstrategie und der inhaltliche „rote Faden“ der digitalen Lernelemente im Projektmanagement-Kurs muss für die Studierenden transparent und nachvollziehbar sein. Insbesondere bei asynchronen Online-Lehr-Lern-Einheiten sind klare transparente Anweisungen zu Aufgaben, Erwartungen, Rollen, Lieferterminen, dem Ergebnisformat und der Gruppenzuordnung erfolgsrelevant. Der Dozent sollte die ausgewählte Software mit all ihren Funktionen sehr gut kennen und diese dementsprechend nutzen können. Ebenso ist bei der Nutzung kollaborativer Whiteboards erfolgsentscheidend, dass die Studierenden frühzeitig mit der Bedienung vertraut werden und dementsprechend Unterstützung angeboten bekommen. Durch Mitbestimmung der Studierenden bei Auswahl geeigneter Software-Werkzeuge für die Umsetzung von Arbeitsaufträgen wird ihre Motivation gefördert. Äußern Studierende bei Retrospektiven am Ende einer Lehr-Lern-Einheit Wünsche, wird die Motivation intensiviert, wenn die Lehrkraft einen Wunsch aufgreift und diesen bei der Folgeveranstaltung umsetzt. 4 Magisches Dreieck der digitalen Lehre Auf Basis der Interviews konnten folgende drei zentrale Erfolgsfaktoren für den Einsatz digitaler Lernelemente identifiziert werden-- das magische Dreieck der digitalen Lehre: 1. Agiles Mindset Um in der digitalen Lehre erfolgreich zu sein, braucht es vor allem eine experimentierfreudige und mutige Einstellung, d. h. mutig zu sein, neue digitale Lernelemente auszuprobieren, Erfahrungen in der Anwendung und Umsetzung zu sammeln und dabei regelmäßig Feedback von den Studierenden einzuholen und basierend auf den Feedbackergebnissen dann entsprechende Anpassungen vorzunehmen. Ferner ist es wichtig, eine dazu passende Fehlerkultur bzw. -toleranz zu entwickeln und sich klarzumachen, dass es am Anfang nicht gleich perfekt sein muss. Viele der Lehrenden haben sich damit an dem agilen Mindset mit der zentralen Kernidee „inspect & adapt“ orientiert, d. h. ausprobieren, beobachten, was funktioniert und was nicht so gut funktioniert und anschließend entsprechen- Abbildung 3: TOP-3 Erfolgsfaktoren Wissen | Chancen der Online-Lehre für Projektmanagement an Hochschulen 68 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0054 de Anpassungen vornehmen. Zusätzlich fördert das agile Prinzip der Transparenz über den Lehr-Lern-Prozess den Lernerfolg. 2. Technik Einig waren sich die Befragten, dass es von elementarer Bedeutung ist, zunächst die technischen Voraussetzungen zu schaffen. Dazu gehören ein gutes Mikrofon und eine Kamera, der kompetente Umgang mit dem LMS und dem Videokonferenz-System sowie eine sinnvolle Software- Auswahl zur Förderung der Interaktion mit den Studierenden. Die Interviewten empfehlen dabei am Anfang eine Fokussierung auf wenige digitale Tools. 3. Soziale Beziehungen Auch im „digitalen Raum“ ist es wichtig, für eine angenehme Atmosphäre zu sorgen, denn die Studierenden müssen sich wohlfühlen, sonst funktioniert Lernen nicht. Dabei müssen die persönlichen Beziehungen zwischen dem Lehrenden und den Lernenden gefördert werden, denn die empfundene Distanz in der Online-Lehre ist größer als im Vergleich zur Präsenzlehre. Vertrauensbildende Maßnahmen sind daher essenziell, beispielsweise sich nicht nur als Dozent, sondern als Mensch authentisch vorzustellen. Ferner gewinnt die Interaktion aufgrund der größeren Distanz noch mehr an Bedeutung. Das Arbeiten mit digitalen Lernelementen ist dann besonders erfolgreich, wenn es gelingt die Studierenden aktiv in die Lehre einzubinden. Abbildung 3 zeigt die aus den Interviews resultierenden TOP- 3 Erfolgsfaktoren zur Online-Lehre. Aus den Antworten der Interviewpartner zeigte sich ferner, dass der Erfahrungsaustausch und die Vernetzung mit Kollegen für die erfolgreiche Umsetzung von digitaler Lehre weitere Erfolgsfaktoren darstellen. 5 Chancen der Online-Lehre Die Digitalisierung der Lehre bietet viele Chancen, Experimentierfreude vorausgesetzt. Durch den Einsatz digitaler Elemente und deren Rhythmisierung über den Lernprozess übernimmt der Dozent die zusätzliche Rolle des Lern-Coaches. Durch die agilen Prinzipien wie Feedback, kontinuierliche Verbesserung und Transparenz wird die Lehre zielgruppenspezifischer. Die Vielzahl an digitalen, didaktischen Bausteinen ermöglicht eine individualisierte Lehre, die unterschiedliche Lerntypen und Wissensstände berücksichtigt. Ferner schafft die digital umgesetzte Lehre Flexibilität für Studierende und Dozenten. Durch den Einsatz asynchroner Elemente im Sinne des Blended Learning verbleibt mehr Zeit für die Anwendung des Wissens in den synchronen Lehreinheiten. Damit erhöht sich die Qualität der Lehre. Zu diesem Punkt ist anzumerken, dass die GPM Fachgruppe Projektmanagement an Hochschulen seit März 2020 eine noch größere Dynamik erfahren hat [5]. Dieser intensive Austausch hat viele Dozenten unterstützt, die Herausforderung der abrupten Umstellung auf die digitale Lehre zu meistern. Dieser Austausch wird auch weiter von Bedeutung sein, da die Erwartungen der Studierenden an die Qualität der Online-Lehre in der Zukunft steigen und eine ständige Anpassung erfordern. Als besondere Chance hat die Vernetzung der Lehre zu Akteuren außerhalb der Hochschule einen deutlichen Schub durch die digitale Lehre erhalten. „Das Einbinden von Gastreferenten ist so viel einfacher und darüber können wir einen Dörte Bräunche Dörte Bräunche studierte Betriebswirtschaft an der Universität Köln und absolvierte ein Executive MBA an der Universität St. Gallen. Seit 2013 ist sie selbständige Beraterin, Dozentin und Trainerin für Projektmanagement. Zuvor war sie über zwanzig Jahre in projektleitenden Funktionen bei mittelständischen, internationalen Unternehmen tätig. Sie ist Senior Projektmanagerin (Level B). Bräunche Projects, Hohenstaufenring 48 - 54, 50 674 Köln E-Mail: DB@braeunche.com Prof. Dr. André Dechange Prof. Dr. André Dechange arbeitete nach seinem Studium der Elektrotechnik und Wirtschaftswissenschaft zwanzig Jahre in der Industrie und Beratung im Bereich Projektmanagement, bevor er 2012 als Professor für Projektmanagement an die Fachhochschule Dortmund berufen wurde. Fachhochschule Dortmund Fachbereich Wirtschaft Emil-Figge-Straße 44 44 139 Dortmund E-Mail: andre.dechange@fh-dortmund.de großen Mehrwert generieren.“ V on der Einbindung einzelner Gastvorträge bis hin zur praktischen Umsetzung studentischer Projekte mit Unternehmen sind die Erfahrungen durchweg vielversprechend, wie auch durch Wehnes und Höschl umfassend dargelegt [5]. Die Einbindung externer Gastdozenten hat sich digital als deutlich einfacher gezeigt, ein Element, das auch bei grundsätzlicher Rückkehr zur Präsenzlehre im Onlineformat beibehalten werden soll. Durch weniger Zeitaufwand lassen sich ohne regionale Begrenzung passende Experten gewinnen, mit kurzen Beiträgen mehrmals in die Vorlesung einbinden oder gar zu digitalen Podiumsdiskussionen zusammenschalten. „Eine Kombination ist am besten.“ In der Befragung hat sich gezeigt, dass sowohl der persönliche Austausch am selben Lernort als auch die digitale Lehre jeweils Vorteile bieten. Diese gebündelt und im Einklang miteinander zu verstetigen wird für die Zukunft im Mittelpunkt stehen. Die Entscheidung für digitale oder analoge, synchrone oder asynchrone Lehr- Lern-Elemente sollte dafür an den jeweiligen Lernzielen ausgerichtet werden. Die veränderlichen digitalen Möglichkeiten für die Lehre aber auch zu erwartende steigende Ansprüche der Studierenden werden für Dozenten auch in Zukunft zeitgleich Chance und Herausforderung sein, oder mit den Worten einer Interviewpartnerin: „Am Anfang war ich unsicher, jetzt nicht mehr, jetzt bin ich kühn.“ Die Vernetzung mit Kollegen aber auch die vielseitige Kooperation mit Experten Wissen | Chancen der Online-Lehre für Projektmanagement an Hochschulen 69 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0054 aus der Projektmanagement-Praxis dürften hierfür besonders hilfreich sein. Deshalb die herzliche Einladung der Autoren an Sie: Seien Sie Gast unserer Vorlesungen, teilen Sie Ihre Erfahrungen mit Studierenden und begeistern Sie sie damit für ein berufliches Engagement im Projektmanagement. Wir danken unseren Interviewpartnern für ihre Zeit und Offenheit, mit der sie diese Studie ermöglicht haben. Einige ausgewählte, anonyme Zitate finden Sie im vorliegenden Text, der die Vielseitigkeit und Tiefe der Erfahrungen der interviewten Dozenten nur in Auszügen und zusammenfassend wiedergeben kann. Literatur [1] Salmon, Gilly: E-moderating: The Key to Teaching and Learning Online, 2nd ed. Taylor & Francis, London 2004. [2] Norberg, Anders / Dziuban, Chuck / Moskal, Patsy D.: Time-Based Blended Learning Model. On the Horizon, 19(3), 2011, S. 207-216. [3] Balve, Patrick / Albert, Matthias / Dechange, André: Einsatz von Projektmanagement-Software in der Hochschullehre, PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL, 01 / 2021, S. 59 -64. [4] Bishop, Jacob Lowell / Verleger, Matthew A.: The flipped classroom: A survey of the research, ASEE Annual Conference and Exposition, Conference Proceedings, 2013. [5] Wehnes, Harald / Höschl, Michael: Studentische Projekte mit Auftraggebern aus Wirtschaft und Verwaltung virtuell umgesetzt, PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL, 01 / 2021, S. 11 -18. Eingangsabbildung: © iStock.com / Drazen_ Prof. Dr. Claudia Förster Prof. Dr. Claudia Förster ist seit 2008 Professorin für Projektmanagement und Wirtschaftsinformatik an der Technischen Hochschule Rosenheim in der Fakultät für Informatik. Nach ihrem Informatik-Studium an der TU München war sie vierzehn Jahre in verschiedensten Rollen in Forschungs- und IT-Projekten tätig. Technische Hochschule Rosenheim Fakultät Informatik Hochschulstraße 1 83 024 Rosenheim E-Mail: claudia.foerster@th-rosenheim.de Susanne Marx Susanne Marx ist seit 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lehrbeauftragte der Hochschule Stralsund. Zuvor war sie fünfzehn Jahre in Projekten im Tourismus sowie der Nahrungsmittel- und Konsumgüterbranche tätig. An der Universität Limerick (Irland) studierte sie Projekt- und Programm-Management (M.Sc.). Hochschule Stralsund Fakultät für Wirtschaft Zur Schwedenschanze 15 18 435 Stralsund E-Mail: susanne.marx@hochschule-stralsund.de Anzeige BEA | SCHEURER | HESSELMANN Projektmanagement Der Klassiker endlich neu aufgelegt. uvk.de 70 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0055 Buchbesprechung Projektmanagement und temporäres Organisieren Braun, T.; Sydow J. Edition Management Stuttgart 2018, ISBN 978-3-17-03259-1 Kohlhammer Verlag Stuttgart, 205 Seiten, Preis 36,00 Heinz Schelle Projektmanagementlehrbücher, die an Universitäten geschrieben wurden, sind immer noch ziemlich selten. Ein wesentlicher Grund ist, dass die Disziplin, wie Untersuchungen zeigen, dort immer noch im Gegensatz zu Fachhochschulen relativ wenig gelehrt wird. Warum das so ist? Ich weiß es nicht, ich habe lediglich Vermutungen. Nun liegt wieder ein Universitätsprodukt vor, das man auch das ganz andere PM-Lehrbuch nennen könnte. Die meisten auf dem Markt angebotenen Lehrbücher enthalten nämlich in der Hauptsache normative Handlungsempfehlungen. Man könnte sie auch etwas despektierlich Rezeptsammlungen nennen. Damit stehen sie, ohne dass das den Verfassern vielleicht immer ganz bewusst ist, in der Nachfolge der Handbücher und Standards, die zu Beginn der Entwicklung unserer Disziplin in der Hauptsache von der NASA und dem Department of Defense der USA herausgegeben wurden. Es waren Handreichungen für den Projektmanager und andere Rollenträger im Projekt. Ihre Verfasser wollten in erster Linie keine wissenschaftlichen Werke schreiben. Eine wissenschaftliche Überprüfung der Empfehlungen, wie man sie etwa im Rahmen der Empirischen Betriebswirtschaftslehre vornimmt, findet eher selten statt, eine Kritik, die vor allem Gemünden schon vor einiger Zeit vorbrachte. Natürlich bringen die Autoren auch diesen Stoff im vorliegenden Lehrbuch, so etwa die klassischen Themen Projektstrukturplan, Netzplantechnik, Projektorganisation, Projektauswahl, Multiprojektmanagement, Stakeholderanalyse und Management von Großprojekten. Sie eröffnen aber auch einen zweiten, für Studierende allerdings sehr anspruchsvollen Themenkreis. Sie wollen erkunden, wie Projekte tatsächlich ablaufen, wie sie scheitern und welche Rolle der Mensch (das „Soziale“) in ihnen spielt. Sie wählen, anders ausgedrückt, eine seit den 90er Jahren zunehmende Auseinandersetzung mit projektbezogenen Themen innerhalb der Management- und Organisationstheorie sowie der Innovationsforschung und der Organizational Behavior Forschung. Mit den Worten von Sydow und Braun: „Projekte-… (werden) auch der breiteren sozialwissenschaftlichen Forschung als Untersuchungsobjekt zugänglich(er) gemacht.“ Den Einstieg in eine intensivere Projektmanagementforschung erleichtern die Verfasser dabei durch eine ungewöhnlich umfangreiche Literaturzusammenstellung, die im Wesentlichen Veröffentlichungen aus dem angelsächsischen Sprachraum enthält. Ein selbstkritischer Blick auf diese Sammlung zeigt, dass die dort enthaltenen Ergebnisse bisher in deutschsprachigen Ländern auch nicht annähernd nutzbar gemacht wurden. Somit kann das Buch der beiden Autoren nicht nur als Lehrbuch für Studenten verstanden werden, sondern auch als Versuch, für die Forschung den Blick auf das Erkenntnisobjekt „Projekte“ zu weiten. Insofern kann das Werk als Schatzkammer betrachtet werden, deren Inhalt hilft, neue Fragestellungen zu bearbeiten und unser Wissen über Projekte zu vermehren. Ausgehend vom temporären Charakter, also der zeitlichen Begrenzung, behandeln die Autoren auch noch andere Formen des temporären Organisierens wie • befristetes Beschäftigungsverhältnis, • Leihbzw. Zeitarbeit, • Interimsmanagement, • Dienst- und Werksverträge und • Entrepreneurship zusammen, von Sydow und Braun auch charakterisiert mit den Worten „Von der temporären Struktur zum temporären Akteur“. Insgesamt eine sehr erfreuliche und anspruchsvolle Neuerscheinung, die vielleicht auch mithilft, Projektmanagement in Forschung und Lehre an Universitäten heimischer zu machen. Rezensionen Projektmanagement und temporäres Organisieren DOI 10.24053/ PM-2021-0055 32. Jahrgang · 03/ 2021 Zur Verfügung gestellt von W. Kohlhammer GmbH Kolumne | Nicht mit den Falschen verbünden 71 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0056 Dr. Jens Köhler Dr. Jens Köhler, BASF SE, fokussiert sich auf die Digitalisierung in Forschung und Entwicklung. Sein Spezialgebiet ist die Regulation sozialer Komplexität zur Effizienz- und Effektivitätssteigerung von Projektteams. Anschrift: BASF SE, RB / IC, 67 056 Ludwigshafen eMail: Jens.Koehler@basf.com Kolumne Nicht mit den Falschen verbünden Jens Köhler Priesberg stürmt in das Büro von Ehrlich: „Ich komme gerade von einem aufregenden Workshop mit unseren Digitalisierern. Sie versprechen eine neue Strukturierung unserer Logistikdaten und Prozesse. Diese Technologie ist neu und erst in ein paar Jahren einsetzbar, macht aber einen vielversprechenden Eindruck.“ Ehrlich, der auf seinem Bürostuhl sitzt und aufmerksam zuhört, antwortet trocken: „Wie gut sind denn eure aktuellen Probleme gelöst? Funktioniert alles? Werden eure Prozesse unterstützt? Sind alle Materialdaten in ihrem Kontext vorhanden? “ Priesberg überlegt: „Wenn du so fragst, dann haben wir noch viel Handarbeit zu machen. Sicher, es funktioniert nicht alles, aber dafür haben wir doch die Zukunftstechnologie.“ Ehrlich wird ein wenig misstrauisch und fragt: „Was sind denn deine nächsten Schritte? “ Priesberg entgegnet entspannt: „Och, ich werde die neue Technologie den Kollegen meiner Abteilung schon nahebringen und schmackhaft machen.“ Ehrlich schüttelt den Kopf: „Du? Du bist doch gar kein Experte dafür und wirbst einfach so? “ Priesberg antwortet: „Um ehrlich zu sein, ich habe sogar schon damit angefangen. Wir haben eine weite Strecke vor uns, das merke ich bereits jetzt schon. Aber ich hoffe ganz fest, dass mir die Kollegen folgen werden.“ Ehrlich fragt weiter: „Was passiert im Falle eines Scheiterns? “ Priesberg entgegnet schnell: „Ein Scheitern wird und darf es nicht geben.“ Ehrlich fasst zusammen: „Also hast du den Digitalisierern gerade einen Blankoscheck ausgestellt. Alles was schiefgeht, fällt dann auf dich zurück.“ Priesberg kommt langsam ins Grübeln: „Naja, es ist schon eine große Verantwortung-…“ Ehrlich unterbricht: „Das meine ich nicht, das ist eine Floskel. Ich meine was ganz anderes: Fühlen sich die Digitalisierer durch dieses Setting an die Verpflichtung gebunden, rechtzeitig zu liefern, oder hast du ihnen mit dem Blankoscheck gar mehr Freiheit, sprich Spiel und Spaß eingeräumt? “ Priesberg ist ernüchtert: Du kannst einem aber alles verderben. Es macht so viel Spaß, mit den Digitalisierern zu sprechen und sie sind so enthusiastisch- … davon könnten sich meine Kollegen eine Scheibe abschneiden.“ „Ich fasse das mal zusammen“, entgegnet Ehrlich und fährt fort: „Ich prophezeie dir zwei Dinge: Erstens, die aktuellen dringenden Probleme werden nicht gelöst werden und ihr benötigt weiter Handarbeit, und zweitens die neue Technologie wird nicht an den Start gehen. Im Gegenteil: Es geht in die Verlängerung der alten Technologie.“ Priesberg ist jetzt auf dem Boden der Tatsachen angekommen. „Schade, ich hatte gehofft, auch etwas Neues zu lernen und dies in unsere Abteilung hineintragen zu können. Woraus besteht denn jetzt mein Wertbeitrag? “ Ehrlich antwortet trocken: „Aus der Formulierung und dem Hochhalten eurer Anforderungen. Und an der Definition und Anwendung eines Gate-Keeper-Prozesses.“ Priesberg fasst es mit anderen Worten zusammen: „Also soll ich den Digitalisierern darlegen, was sie zu leisten haben und dies anhand von festen Kriterien überprüfen? “ „Genau das“, erwidert Ehrlich. „Und halte dich aus Fachdiskussionen heraus. Löse nicht deren Probleme, sondern stimuliere Lösungen zu euren Problemen. Lasse sie in eurer Sprache sprechen. Dann versteht es eure Abteilung. Nur so schaffst du Wert. Und genau das ist auch dein Wertbeitrag.“ Priesberg wundert sich: „Du hast ja eben gar nichts von Organisationen und Komplexität und all diesen Dingen erzählt. Hast du die Lust daran verloren? “ Ehrlich lacht: „Ganz im Gegenteil. Aber ich habe deine Sprache verwendet. So sind wir schneller zum Punkt gekommen. Aber wenn du es auch auf Komplexisch hören möchtest, bitte sehr: „Dein erstes Setting vergrößert zwar den Lösungsraum der Digitalisierer, mindert aber deren Bereitschaft, sich für eine Lösung zu entscheiden. Und die vielen unvollständigen Lösungen trägst du in deine Abteilung und erzeugst dort nur Ablehnung, da keine Lösung zünden und es nicht vorangehen wird. Die soziale Komplexität wird erhöht und euer Lösungsraum wird klein oder verschwindet sogar. Man beschäftigt sich am Ende nur noch mit sich.“ Priesberg hat es verstanden: „Dadurch, dass ich die Digitalisierer quasi aussperre und lediglich auf die Erfüllung äußerlicher Kriterien bestehe, helfe ich ihnen, sich auf eine Lösung zu fokussieren. Alles wird klar. Die neue Technologie wird reif und kann angewendet werden.“ Ehrlich schließt ab: „Manchmal ist es doch gut, ‚wir‘ und ‚die‘ zu sagen. Aber nur, wenn es zum Wohle aller ist. Mit einer klaren Aufgabentrennung kann jeder seinen Job besser machen.“ Eingangsabbildung: © iStock.com/ / CombackImages Kolumne Nicht mit den Falschen verbünden DOI 10.24053/ PM-2021-0056 32. Jahrgang · 03/ 2021 Aus den DACH-Verbänden | Neues aus der IPMA 72 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0057 Prof. Dr. Yvonne Schoper ist Professorin an der HTW Berlin mit dem Schwerpunkt Internationales Projektmanagement, Präsidialrätin der GPM und Vizepräsidentin in der IPMA für den Bereich Membership und Young Crew. Ihre Forschungsinteressen sind die Projektifizierung der Wirtschaft und der Einfluss der Kultur auf das Projektmanagement. eMail: yvonne.schoper@HTW-Berlin.de ORCID: 0000-0002-7731 - 5081 Aus den DACH-Verbänden | IPMA intern Neues aus der IPMA Auf dem Weg zu Project Professionals: Das neue IPMA Continuing Professional Development (CPD) System Seit mehreren Jahren zeichnet sich ab, dass sich Projektmanagement zu einem eigenständigen Berufsbild entwickelt. Die IPMA legt mit dem neuen CPD System den Grundstein dafür, Projektmanagement zu einem international anerkannten, vollwertigen Berufsstand weiterzuentwickeln. Was ist ein Beruf? Ein Beruf ist eine systematisch erlernte, spezialisierte, mit Qualifikationsnachweis versehene, dauerhaft und gegen Entgelt ausgeübte Betätigung eines Menschen. Nach Artikel 12 GG hat jeder Mensch in Deutschland das Recht, einen Beruf frei wählen zu können. Eine berufliche Tätigkeit kann in einem Angestelltenverhältnis oder als selbstständige Tätigkeit ausgeübt werden. Was ist eine Profession? Der englische Begriff „Profession“ kann mit Berufsstand, „Metier“ oder Profession übersetzt werden. Eine Person mit Zugehörigkeit zu einem Berufsstand (engl.: ein „Professional“) wie z. B. Arzt, Anwältin, Architekt oder Wirtschaftsprüferin wird als kompetente ExpertIn angesehen, der / die sich durch Fachwissen, Integrität, Einhalten ethischer Standards und Vertrauenswürdigkeit auszeichnet. Die jeweilige Qualifikation ist Voraussetzung, um in diesen Berufen tätig zu sein. Die Definition einer Profession beinhaltet auch, dass ein Ethikkodex das Verhalten der Mitglieder dieser Profession regelt. Ethikkodizes sind Wertegrundlagen für die spezifische Profession. Die Aufgabe eines Ethikkodex liegt darin, den Mitgliedern Orientierung in Konfliktsituationen zu geben. Sie stellen das Selbstbild und Qualitätsverständnis der Arbeit dar und werden durch Fachverbände festgeschrieben, diskutiert und öffentlich gemacht. Was ist ein Project Professional? Ein Project Professional ist eine Fachkraft, die für Kompetenz, Integrität, das Einhalten der ethischen Standards und Vertrauenswürdigkeit bei der Erbringung von Projektergebnissen steht und Mitglied eines nationalen Fachverbands für Projektmanagement ist. Ein Project Professional verfügt über eine aktuelle Projektmanagement-Qualifikation und handelt in Übereinstimmung mit den Verhaltens- und Ethik-Kodizes des nationalen Projektmanagement-Verbands. Ein Project Professional aktualisiert kontinuierlich sein / ihr fachspezifisches Wissen, Fähigkeiten und Kompetenzen im Projektmanagement, um das eigene Leistungsniveau weiterzuentwickeln. Was bedeutet CPD? CPD steht für Continuing Professional Development (CPD) und steht für die Lernaktivitäten, die eine Fachkraft durchführt, um ihre Kompetenzen weiterzuentwickeln. Durch CPD wird ein System geschaffen, das die kontinuierliche Weiterentwicklung im Projektmanagement unterstützt und einen Rahmen schafft, um Kompetenzen zu reflektieren, zu aktualisieren und zu vervollständigen. CPD kombiniert verschiedene Ansätze des Lernens, wie z. B. Trainings, Konferenzen (z. B. IPMA Weltkongress und PM Forum) und Regionalgruppenveranstaltungen, E-Learning-Programme, Best-Practice-Techniken und Ideenaustausch (z. B. in den Fachgruppen der GPM und den IPMA SIGs), die auf das Individuum ausgerichtet sind, um sich zu verbessern und eine effektive berufliche Entwicklung zu begleiten. Warum ist CPD von Bedeutung? CPD im Allgemeinen ist nicht nur wesentlich für die Weiterentwicklung eines Individuums, sondern auch für die Entwicklung der Organisationen, in denen Fachkräfte arbeiten. Das System der CPD ist international anerkannt und ein wesentlicher Bestandteil der Berufspraxis. Die IPMA akkreditiert ihre lokalen Mitgliederverbände über das IPMA Registration & Training System (IPMA REG), um Aus- und Weiterbildungskurse und -programme im Projekt-, Programm- und Portfoliomanagement zu registrieren. Inhalte des IPMA CPD Systems für zertifizierte Project Professionals Das IPMA CPD System erwartet von IPMA zertifizierten Project Professionals die folgenden Kriterien: • mind. 35 Stunden Projekt-, programm- oder portfoliobezogene jährliche Weiterbildung, • mind. eine Weiterbildungsaktivität innerhalb von zwölf Monaten, dokumentiert durch entsprechenden Nachweis, • Darstellung, wie das Gelernte in der Praxis angewendet wird. Kontinuierliche Weiterbildung wird von allen Berufstätigen erwartet und ist insbesondere im Bereich des Projektmanagements unerlässlich, um ein Project Professional zu werden. Die Geschwindigkeit der Veränderungen nimmt täglich zu. Weiterbildung ist daher wichtiger denn je. CPD legt die Basis für die Qualitätssicherung von Project Professionals. Unsere Projektergebnisse legen den Grundstein dafür, wie wir als einzelne Project Professionals und unser Berufsstand als Ganzes in der Öffentlichkeit bewertet werden. Aus den DACH-Verbänden Neues aus der IPMA DOI 10.24053/ PM-2021-0057 32. Jahrgang · 03/ 2021 73 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0058 Aus den DACH-Verbänden | GPM intern Neustart der Fachgruppe „Normen und Standards im Projektmanagement“ Norman Heydenreich, Bevollmächtigter Normen und Standards Am 26. 04. 2021 fand das virtuelle Neugründungstreffen der Fachgruppe „Normen und Standards im Projektmanagement“ statt. Zunächst wurden Mission, Aufgaben und Themen der Fachgruppe diskutiert und verabschiedet und das Leitungsteam der Fachgruppe gewählt. Drei Arbeitsgruppen wurden gegründet und deren Leitungen benannt. Als aktuelles strategisches Thema der internationalen Normung wurde die Bedeutung eines internationalen Projektmanagementsystemstandards (PMSS) als organisatorisches Unterstützungssystem und Projektführungsinstrument für Auftraggeber, Führungskräfte und Projektsponsoren diskutiert. Nach der Besetzung der neuen ehrenamtlichen Funktion eines „Bevollmächtigten Normen und Standards“ der GPM 2020 und der Wahl neuer Obleute des DIN-Arbeitsauschusses „Projektmanagement“ im Januar 2021 sind nun alle Voraussetzungen für einen effektiven Neustart der GPM in dem wichtigen Handlungsfeld der Normen und Standards gegeben. Die Entwicklung und Verbreitung von Projektmanagement-Standards ist eine der wesentlichen gemeinnützigen Satzungsaufgaben der GPM. Sie schafft zugleich die Grundlage für weitere ihrer Satzungsaufgaben: Qualitätsverbesserung des Projektmanagements, Erstellung von Leitlinien für die Aus- und Weiterbildung, Prüfung und Verbesserung des Projektmanagement-Niveaus mittels Kompetenzbeurteilungen und Zertifizierung. Die IPMA-Kompetenzstandards ICB, OCB und PEB gehören zum Markenkern der GPM. Projektmanagement-Standards haben somit strategische Bedeutung für die GPM. Die GPM spielte bei der Entwicklung der 2009 veröffentlichten nationalen Projektmanagement-Normen durch ihre Fachgruppe Normung und durch eine starke Vertretung im Rahmen des DIN-Arbeitsausschusses „Projektmanagement“ eine führende Rolle. In den letzten 10 Jahren hat jedoch die internationale Projektmanagement-Normung eine größere Bedeutung erlangt, in der die USA mit ihrem Project Management Institut PMI eine dominierende Rolle spielen, während das Engagement Deutschlands, aber auch der IPMA (International Project Management Association) zurückging. Internationale Projektmanagement-Normen berühren auch wirtschaftspolitische Interessen Deutschlands, insbesondere seiner Projektwirtschaft. Aber auch das Gelingen öffentlicher Projekte sowie die Bewältigung der großen gesellschaftlichen Herausforderungen: Klimakrise, Pandemie sowie der digitalen Transformation brauchen standardisierte Governanceprinzipien und Führungsinstrumente für eine internationale Zusammenarbeit in Projekten und Programmen. Daher hat das Präsidium der GPM 2020 beschlossen, die neue ehrenamtliche Funktion eines „Bevollmächtigten Normen und Standards“ zu besetzen. Dessen Aufgaben sind insbesondere: Monitoring der internationalen Projektmanagementnormung, Kommunikation und Kooperation mit dem DIN (Deutsches Institut für Normung), dem CEN (Europäisches Komitee für Normung) sowie der ISO (International Standards Organisation), Abstimmung mit der IPMA sowie Entwicklung von Strukturen zur Meinungsbildung in strategischen Fragen der Normen und Standards. Eine weitere wichtige Aufgabe ist die Gewinnung von Vertretern bedeutender Unternehmen, Verwaltungen und Verbände für die Mitarbeit im DIN-Arbeitsausschuss „Projektmanagement“. Im Januar 2021 wurde der neue GPM-Bevollmächtigte zum Obmann des DIN-Arbeitskreises „Projektmanagement“ und Vertreter Deutschlands im ISO-Komitee TC258 gewählt. Nationale Normen sind unter Leitung des DIN erarbeitete Standards. Internationale Normen werden in den internationalen Normungsorganisationen ISO und IEC (Internationales Elektrotechnisches Komitee) sowie der ITU (Internationale Fernmeldeunion) erarbeitet. Sie schaffen eine gemeinsame Sprache zwischen Handelspartnern weltweit und fördern den freien und fairen Welthandel. Das Deutsche Institut für Normung e. V. (DIN) vertritt die deutschen Interessen auf ISO- Ebene durch die Entsendung von deutschen Experten entsprechend dem nationalen Delegationsprinzip. Mit dem TC258 wurde ein eigenes ISO-Komitee für Projektmanagement-Normen geschaffen-- wesentliche internationale Normen wurden verabschiedet; neue Normierungsprojekte (z. B. zu agilem Projektmanagement) werden zurzeit auf den Weg gebracht. Durch Umfrage unter den 26 Mitgliedsländern des TC258 wurden 2020 als fünf wichtigste Themen für die Weiterentwicklung der PM-Normen ermittelt: Agiles Projektmanagement, Projektmanagementsystemstandards (PMSS), Portfolio Strategie, Organisationale Kompetenzen und Project Management Office (PMO). Eine wichtige Aufgabe ist die Angleichung der nationalen und der internationalen Normen, als wechselseitiger Lernprozess unter Berücksichtigung der Entwicklungen auf europäischer Ebene (insbesondere des von der EU-Kommission entwickelten europäischen Standards Aus den DACH-Verbänden GPM intern DOI 10.24053/ PM-2021-0058 32. Jahrgang · 03/ 2021 Aus den DACH-Verbänden | GPM intern 74 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0058 PM²). Hier steht kurzfristig auch die Weiterentwicklung der nationalen Projektmanagement-Normenreihe 699xx an. In Ergänzung der nationalen und internationalen PM-Normen können GPM-Standards im Rahmen von Fachgruppen entwickelt werden. GPM Standards ergänzen oder konkretisieren die Normen in Hinblick auf branchenspezifische Anforderungen, spezifische Anwendungskontexte oder Umsetzungsverfahren (Handlungsanweisungen, Richtlinien). Sie adressieren Bedarfe der Mitglieder und Stakeholder der GPM und werden in enger Partnerschaft mit diesen entwickelt. Dazu ist eine Bestandsaufnahme der normungs- und / oder standardisierungsrelevanten Inhalte geplant sowie ein Gesamtkonzept für GPM-Standards, das deren Marktrelevanz, Qualität und Konformität zu den übergeordneten Normen sicherstellt. Als Schwerpunktthemen der Fachgruppe wurden festgelegt: • Fachliche Begleitung der nationalen und internationalen Normung, • strategische Themen der internationalen Normung, • Marktbedarf / neue Themen für PM-Normen und -Standards, • Entwicklung und Verbreitung von GPM-Standards, • Bestandsaufnahme der nationalen und internationalen Normen und Standards. In das Leitungsteam der Fachgruppe wurden gewählt: Ina Gamp, Nino Grau und Norman Heydenreich. Es wurden drei Arbeitsgruppen gegründet und AG-Leitungen benannt: AG1: Agiles Projektmanagement (Koordination: Ina Gamp), AG2: Überarbeitung der nationalen Normenreihe (Koordination: Manfred Nolle), AG3: Gesamtkonzept für GPM-Standards (Koordination: Nino Grau). Die AGs organisieren sich individuell und treffen sich bevorzugt online (s. MS Teams). Die Fachgruppe trifft sich ca. 4x jährlich zum AG-übergreifenden Austausch (möglichst in Präsenz). Das nächste Treffen soll in ca. zwei Monaten online stattfinden. Als aktuelles strategisches Thema der internationalen Normung wurde die Bedeutung eines Projektmanagementsystemstandards (PMSS) diskutiert. Gesellschaftlich notwendige Veränderungen wie z. B. die Bewältigung der Klimakrise, die Verbesserung von Gesundheit und Sicherheit, die digitale Transformation, aber auch das Vorantreiben verbesserter Produkt- oder Servicequalität und betrieblicher Effizienz werden durch Projekte umgesetzt. Allerdings ist die Erfolgsquote von Projekten und deren Effektivität bei der Umsetzung strategischer Ziele immer noch zu gering. Daher müssen nicht nur die individuellen Projektkompetenzen, sondern auch die organisationalen Projektumgebungen (Projektmanagementsysteme) als Projektführungsinstrumente weiterentwickelt werden. Auftraggeber, Führungskräfte und Projektsponsoren benötigen ein organisatorisches Unterstützungssystem: einen Managementsystemstandard für Projekte, Programme und Portfolios und die damit verbundene Governance (kurz: Project Management System Standard oder PMSS). Dieser spezifiziert Anforderungen und gibt Anleitungen zur Anwendung für die Einrichtung, Entwicklung, Umsetzung, Bewertung, Aufrechterhaltung und kontinuierliche Verbesserung eines effektiven und reaktionsfähigen Managementsystems für Projekte, Programme und Portfolios von Projekten und Programmen sowie die damit verbundene Governance im Kontext einer Organisation. Er hilft der Organisation, Projekte, Programme oder Portfolios bei der Verfolgung ihrer Ziele verantwortungsvoll zu führen und die Verpflichtungen gegenüber den Stakeholdern und deren Erwartungen zu erfüllen. Die neue Fachgruppe fühlt sich den gemeinnützigen Zielen der GPM verpflichtet und versteht sich als Raum für einen vertrauensvollen, lösungsorientierten und an nachhaltigen Verbesserungen orientierten Dialog von Auftraggebern und Projektleitern aus Wirtschaft, Staat und Gesellschaft sowie Wissenschaftlern und Beratern. Sie wird die Ergebnisse dieses Dialogs in die Normierung (DIN / CEN/ ISO) sowie in das Aktionsprogramm „Mit Projekten Deutschlands Zukunft gestalten“ einbringen sowie in Publikationen und Veranstaltungen vorstellen. Weitere Mitglieder sind herzlich willkommen und können sich gerne bei der Fachgruppenleitung melden (https: / / www.gpm-ipma.de / know_how / fachgruppen / themenfokussierende_fachgruppen / normen_und_standards.html). Nationale Interessenvertretung Internationel Normung & Standardisierung (© DIN) 75 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0059 Aus den DACH-Verbänden | pma intern Neuorientierung oder Rückbesinnung? pma-- Projekt Management Austria-- veranstaltet unter dem Titel „Back to the roots? Projektmanagement: bewährt. aktuell.erfolgreich“ den diesjährigen pma focus am 21. Oktober 2021, heuer als hybriden Event. Der Ruf nach einer Neuorientierung des Projektmanagements ist vielerorts zu hören. Dabei wird oft vergessen, was das Projektmanagement zeitlos macht, welche dauerhaften Schätze es uns gerade in unberechenbaren, technologiebestimmten Zeiten zur Verfügung stellen kann. Expert*innen unterschiedlichster Fachrichtungen werden mit einem neuen Blick auf klassische Kernkompetenzen des Projektmanagements eine Vielzahl von Ressourcen aufzeigen, die es Projektmanager*innen ermöglichen, auch in herausfordernden Kontexten weiterhin innovative Lösungen zu finden. Wir freuen uns auf den ehemaligen Skispringer und Olympiasieger Toni Innauer, der bereits zum zweiten Mal bei einem pma focus dabei ist. Den Blick in das post-digitale Zeitalter wirft Trend- und Zukunftsforscher Tristan Horx, der über Megatrends und das Projektmanagement der Zukunft sprechen wird. Psychologin Katy Pracher-Hilander wird das „Projekt Mensch“ anhand von Werten wie Vertrauen erläutern. Für den humorvollen Abschluss sorgt Kabarettist Thomas Maurer. Best Practice Vorträge und Projekt-Präsentationen namhafter Unternehmen runden das Programm ab. Erfahren Sie am pma focus 2021, warum PM-Kernkompetenzen wichtiger denn je sind und auch in Zukunft der ideale Nährboden für Erfolg und Wachstum sein werden. Informationen: pma.at / focus pma Mitglied vor den Vorhang Umweltbundesamt Spittelauer Lände 5, 1090 Wien www.umweltbundesamt.at Hauptgeschäftsgebiet Als Expert*innen-Institution für Umwelt in Österreich und einer der führenden Umweltberater in Europa steht das Umweltbundesamt für die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft. Die Expert*innen entwickeln Entscheidungsgrundlagen auf lokaler, regionaler, europäischer und internationaler Ebene. PM Aufgaben und Bedeutung Das Umweltbundesamt ist ein projekt- und prozessorientiertes Unternehmen und arbeitet auf Basis mehrerer international anerkannter Zertifizierungen und Projektmanagement Standards. In der Umsetzung der derzeit ca. 750 operativen nationalen und internationalen Aufträge hat professionelles Projektmanagement einen besonders hohen Stellenwert. Dies wird im Projekt- und Prozess Management Office (PPMO) zentral koordiniert und laufend weiterentwickelt. Aus den DACH-Verbänden Neuorientierung oder Rückbesinnung? DOI 10.24053/ PM-2021-0059 32. Jahrgang · 03/ 2021 Namhafte Vortragende beim diesjährigen pma focus. Projektmanagement - bewährt.aktuell.erfolgreich 21. Oktober 2021 #pmafocus21 2021 Anton Innauer Tristan Horx Thomas Maurer Katayun Pracher-Hilander Fotos: Ludwig Schedl, Ingo Pertramer, beigestellt 76 PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL · 32. Jahrgang · 03/ 2021 DOI 10.24053/ PM-2021-0060 Auf ein Wort mit -… Klaus Ohlwein, Vice President Engineering Tires bei der Continental AG in Hannover Von Martina Peuser Zur Person | Klaus Ohlwein ist Vice President Manufacturing Technology Engineering Tires bei der Continental Reifen Deutschland GmbH in Hannover. Er ist verantwortlich für die Entwicklung und den konzernweiten Rollout von Standards für das Engineering, Maschinen und Prozesse, die zusammen mit der Forschung & Entwicklung erarbeitet wurden. Prof. Dr. Martina Peuser ist Professorin für allgemeine BWL, insbesondere Organisation und Projektmanagement an der Leibniz Fachhochschule in Hannover. Als Inhaberin des „Institut für praxisnahe Mittelstandberatung” ist sie Expertin für kundenzentrierte, agile Organisationsstrukturen und begleitet Unternehmen dabei, ihre Strukturen mit dem Fokus auf Kunden flexibel anzupassen. In ihrer Kolumne gibt sie spannende Kurzeinblicke in Lebensläufe und Gedanken von im Projekt tätigen Personen. Wie sind Sie zum Projektmanagement gekommen? Ich begann 1995 als Industrial Engineer in der Agriculture and Industrial Tire Production bei der Continental AG. Kurz darauf moderierte ich als „Projektmanagement Facilitator“ die Kickoffs von Projekten. Falls Sie kein Projektmanager geworden wären-- was stattdessen? Bauingenieur. Ich komme familiär quasi aus dem Baubereich und fühle mich daher in der Produktion mit sichtbaren Erfolgen am wohlsten. Welches Projekt hat Sie besonders geprägt oder war für Sie besonders wichtig? Besonders in Erinnerung geblieben ist mir ein größeres erfolgreiches Projekt zur Verdopplung unserer Kapazität in der Slowakei, in dem ich als Leiter des zentralen Engineerings für den Bereich PKW-Reifen für die technische Erweiterung eines von der Continental übernommenen Werkes verantwortlich war. Die herzliche Gastfreundschaft erschuf schnell eine engere Verbundenheit mit den dort ansässigen Kollegen. Bis heute ist das familiäre Gefühl geblieben, wenn man ehemalige Projektmitglieder am Werk trifft. Gelten in Ihrem Bereich bestimmte Standards und Methoden? Es gibt Standards für jede Division wie bspw. Projektstart sowie Gates für die Qualitätssicherung. Die allgemeinen Rahmenvorgaben für Projekte werden je nach Projektart, d. h. Reifen- oder Maschinenprojekt, ausgefüllt. Was wäre Ihr Traumprojekt? Ein Projekt zum Thema Nachhaltigkeit, insbesondere zur Behebung der Wasser- und Luftverschmutzung, um die Natur aufrechtzuerhalten, läge mir sehr am Herzen. Was zeichnet Sie als Projektmanager besonders aus? Ich lasse dem Team viele Freiheiten. Falls jedoch notwendig, setze ich als Leitung den Fokus und lenke das Projekt. Was motiviert Sie, in Projekten zu arbeiten und Projekte zu leiten? Mich motiviert am meisten, dass man etwas gemeinsam in einem Team erreicht. Ich bin glücklich, wenn sich das Team über seinen Erfolg freut und glücklich ist. Welche Tipps haben Sie für den Projektmanagement-Nachwuchs? Grundlegend sind theoretische Kenntnisse wichtig. Organisationsgeschick zur Koordination und Kommunikationsfähigkeiten spielen eine zentrale Rolle, um auf das Team und einzelne Mitglieder einzugehen. Essenziell ist: Man muss mit Leuten arbeiten wollen. Welche Trends sehen Sie im Projektmanagement? Projektmanagement entwickelt sich weg von starrer Planbearbeitung und hin zu agileren Verfahren. Nicht nur Methoden, sondern auch die Denkweisen sind auf Schnelligkeit und Adaption auszurichten. Was geben Sie den Lesern mit auf den Weg geben? Haben Sie Spaß an dem, was Sie tun. Wenn man Spaß hat, dann ist die Wahrscheinlichkeit für Erfolg viel höher. Das ist DER entscheidende Faktor für den Projekterfolg. Reflektieren ist gut und notwendig, aber Vorwürfe helfen nicht. Rubrik xxx DOI 10.24053/ PM-2021-0060 32. Jahrgang · 03/ 2021 PM-ZERT Zertifizierungsstelle der GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V. Am Tullnaupark 15 I 90402 Nürnberg I pm-zert@gpm-ipma.de I www.pm-zert.de ONLINE-ZERTIFIZIERUNG FÜR IPMA LEVEL Zertifizierungsstelle PM-ZERT ® Mitglied der Seit Mitte 2020 ist es möglich über die PM-ZERT - die unabhängige Zertifizierungsstelle der GPM - die Prüfungen für die IPMA Level D, C und B webbasiert und damit ortsunabhängig über das Internet zu absolvieren. Somit können Sie Ihre Zertifizierungsprüfung bequem von zu Hause oder dem Arbeitsplatz aus absolvíeren. Sie wollen mehr zur Online-Zertifizierung und den Voraussetzungen dafür wissen? Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der PM-ZERT stehen Ihnen gerne zur Verfügung! Informieren Sie sich jetzt über Ihre Möglichkeiten! Kontakt: pm-zert@gpm-ipma.de www.pm-zert.de Hier mehr zu den webbasierten Zertifizerungen erfahren www.gpm-ipma.de > Zertifizierung Persönlich weiterentwickeln und beruflich weiterkommen mit unseren SHOTs und Expert*innen-Sparrings! Wir bieten Ihnen mit unseren 90-minütigen SHOTS (SHort Online Trainings) eine Learning-on-Demand Lösung mit der Sie schnell und flexibel Ihr Wissen auffrischen und Kompetenzen ausbauen. Sie stehen beruflich vor schwierigen Aufgaben und brauchen schnell einen Expert*innenrat? Auch hier helfen wir Ihnen weiter. In unseren Expert*innen-Sparrings profitieren Sie von jahrelanger Praxiserfahrung unserer Berater*innen. Wissens-SHOTs in kleinen Dosen Sie erhalten fundiertes Wissen aus erster Hand zur Verfügung gestellt.Ohne hohe Kosten mit wenig Zeitaufwand. Leichter zur Re-Zertifizierung Belohnen Sie Ihren Wissensdurst und rechnen Sie sich Ihre SHOT- Teilnahme für eine Re-Zertifizierung an. Praxiserprobt Profitieren Sie von jahrelanger Praxiserfahrung unserer Berater*innen. LEARNING ON DEMAND Schnell und flexibel Kompetenzen erweitern www.nextlevelconsulting.com Entdecken Sie unsere SHOTs und Expert*innen-Sparrings!