PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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Gesellschaft für ProjektmanagementDrei-Punkt-Schätzung - Für und Wider
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P R O J E K T M A N A G E M E N T 3 / 2 0 0 0 44 D ie Aufs ätze „Die Drei-Punkt- Schätzmethode zur Kalkulation des Projektaufwands“ von Peggy Gartner und „Statistische Grundlagen der Bereichsschätzung von Zeiten“ von Werner Simon geben mir Anlass zu 16 Thesen über einige praktische und theoretische Aspekte. Im Vordergrund stehen die Probleme der praktischen Anwendung. 1. Im Projektmanagement spielen zufällige Einflüsse naturgemäß (! ) eine große Rolle. Die Erfahrungen aus den Anfängen des professionellen Projektmanagements liefen eindeutig darauf hinaus, dass der Aufwand für die Ermittlung brauchbarer Wahrscheinlichkeitswerte zu hoch ist - dass man stattdessen lieber mehr Sorgfalt auf Planung und Controlling legen soll. Diese Einschätzung ist möglicherweise angesichts der heutigen Möglichkeiten hinfällig. 2. Die Arbeit von Gartner bedeutet die Übertragung des „klassischen“ PERT-Ansatzes (s. u.! ), der ja ausschließlich für Zeitgrößen entwickelt wurde, auf Aufwandsgrößen. Dieser bemerkenswerte Schritt kann auch praktische Bedeutung erlangen. 3. Gartner verwendet praktisch dieselben Voraussetzungen hinsichtlich Unabhängigkeit der Zufallsgrößen, Wahl bestimmter Verteilungsparameter, Interpretationsproblemen usw., wie sie für das PERT- Modell gelten. Damit sind auch die- Drei-Punkt- Sch ä tzung - Für und Wider Zu Heft 4/ 1999, S. 33 ff., und Heft 1/ 2000, S. 39 ff. die vermittelt der Beitrag von Simon in keiner Weise. Nicht die unglücklichen Satzfehler - vor allem der fehlende oder falsche Bezug zum Projektmanagement soll hier erörtert werden. 7. Zunächst ein Blick in die Historie. In den 60er Jahren erschien eine Reihe tiefgründiger Analysen zu PERT, insbesondere von Clark, van Slyke, McCrimmon/ Ryavec, von Guerard und Todt [1, 6, 3, 2, 7]. In der Dissertation „Über den objektiven Charakter des Zufalls und seine Berücksichtigung in der Zeitplanung - eine Studie zum System PERT- TIME“ entwickelte Schallehn [5] ● ein beliebig genaues Näherungsverfahren zur Maximumsbildung mit Berücksichtigung der stochastischen Abhängigkeiten und ● die Erkenntnis, dass dieses Verfahren aus Datenmangel (leider, leider! ) nicht praktikabel ist. Ein Mitarbeiter von Prof. Schelle hat in seiner Dissertation zur Schätzung von Lebenszykluskosten Ähnliches erörtert und ist zum gleichen Ergebnis gekommen. Da sich diese Erkenntnis allgemein durchgesetzt hatte, gibt es zu vielen untersuchten Fragen keine aktuelleren Arbeiten. 8. Zum Verhältnis der Begriffe „relative Häufigkeit“ zu „Wahrscheinlichkeit“: ● Beide sind so definiert, dass sie nur reelle Werte im Bereich 0 … 1 annehmen können; selben Bedenklichkeiten zu berücksichtigen. Um zwei Beispiele zu nennen: Die von PERT vorausgesetzte Unabhängigkeit der Zufallsgrößen trifft praktisch nie zu, und die Maximumsbildung ist sogar schlicht falsch. Trotzdem kommen alle uns bekannten Untersuchungen zu dem Schluss, dass diese Fehler vernachlä ssigbar klein sind (praktisch etwa 1 … 4 %, in konstruierten Beispielen bis 12 %) gegenüber den Unsicherheiten der Schätzwerte und gegenüber den Interpretationsspielräumen. 4. Zur Arbeit von Gartner wäre lediglich zu ergänzen, dass in der Praxis Unternehmen bekannt sind, in denen das Budget prinzipiell 15 % unter den kalkulierten Kosten festgelegt wird, bei anderen dagegen 10 % über den kalkulierten Kosten. Offensichtlich liegt der Unterschied in der unterschiedlichen Bewertung der Kalkulationsgenauigkeit und der Steuerungspotenziale durch die Entscheidungsträger. 5. Vermutlich ist die Drei-Punkt- Schätzung praxisreif, wenn sie in Zusammenhang mit dem Nachforderungsmanagement organisatorisch eingebettet wird. 6. Man kann auch ohne Kenntnis der theoretischen Grundlagen und des darin enthaltenen Konfliktpotenzials ganz gut leben. Besser wäre natürlich eine klare Vorstellung darüber, aber 45 P M - D I A L O G D E R L E S E R ● Häufigkeit meint Beobachtungen der Vergangenheit, Wahrscheinlichkeit meint Zukunft; ● Wahrscheinlichkeiten für die Zukunft kann man aus Häufigkeiten ableiten, wenn 1. substanziell der beobachtete Prozess in die Zukunft weitergeführt wird und 2. die Beobachtung „reprä sentativ“ für diesen Prozess ist. Bemerkung: Das Problem ist nur, dass es im PM kaum reprä sentative Stichproben gibt. Deshalb sind Schätzwerte, die nach „bestem Wissen“ angenommen und im Bewusstsein ihrer Unsicherheit verwendet werden, durchaus praktikabel. 9. Zum Verhältnis der Begriffe „Erwartungswert“ zu „Vorgabewert“: Aus verschiedenen Bereichen gibt es Erfahrungen, dass Vorgaben für Termine (auch Fahrplanzeiten! ) und für Budgets praktisch kaum unterschritten werden, aber häufig überschritten werden. Dieses so genannte „Fahrplansyndrom“ verbietet geradezu, einen Mittelwert aus Beobachtungen zum Vorgabewert zu erklären - damit würde das Prozessergebnis systematisch (! ) verschlechtert. 10. Zum Begriff des „Maximums zweier Zufallsgrößen“: Im Netzplan werden Zeitwerte addiert - dafür liefert der Zentrale Grenzwertsatz die beruhigende Aussage, dass das Ergebnis unter den üblichen Voraussetzungen normalverteilt ist. Gauß sei Dank ist sogar dies von den Verteilungsformen der Einzelgrößen unabhängig. Gelegentlich ist im Netzplan auch das Maximum zweier Größen zu bilden - dies läuft dem Symmetrietrend des Zentralen Grenzwertsatzes jedoch völlig entgegen. Anschaulich gesprochen: Der jeweils kleinere Wert ist bedeutungslos, der größere wird weiterverwendet. Dies führt zwangsläufig zu „linkssteilen“, nach rechts flachen Verteilungen! Wenn die Verteilungsfunktionen F(x) bekannt sind und wenn die Zufallsgrößen stochastisch unabhängig sind, dann gilt für das Z = max(X,Y) einfach F z = F x · F y (beachtlich! ). 11. Zum Begriff der „stochastischen Abhängigkeit“ von Zufallsgrößen: Zufallsgrößen heißen „stochastisch abhängig“, wenn sich aus einer Realisierung der einen Zufallsgröße auf die Realisierung der anderen schließen lä sst. Typische Beispiele im Projektmanagement sind: Hat sich ein Bauvorgang durch schlechtes Wetter verzögert, so werden sich auch andere gleichzeitig laufende verzögern. Oder: Wurde das Budget eines Programmierauftrages infolge schlechter Organisation überzogen, so werden auch andere Aufträge aus dieser Abteilung solche Probleme haben. Im Gegensatz zur kausalen Abhängigkeit sind hier also gemeinsame Bedingungen urs ächlich. Im Netzplan sind die Termine zweier Vorgänge, die gemeinsame Vorgänger haben, stochastisch (mehr oder weniger) abhängig. Haben die Vorgänge unterschiedliche Vorgänger(ketten), so können sie stochastisch unabhängig sein. Wie diese Beispiele zeigen, gibt es im Projektmanagement eine unendliche Vielfalt stochastischer Abhängigkeiten. Bisher gab es keine Chance, diese auch nur einigermaßen treffend zu berücksichtigen. 12. Zu den Wahrscheinlichkeitsverteilungen: Vorgänge sind komplexe Gebilde, über deren innere Struktur per definitionem (wenn wir die DIN-Begriffsnorm für Projekte ernst nehmen) keine allgemein gültige Aussage und keine logisch begründbare Verteilungsform vorliegt. Auch der PERT-Ansatz E = (a + 4m + b)/ 6 und S = (b - a)/ 6 ist rein praktisch begründet! Die Betaverteilung liefert freundlicherweise bei einer bestimmten Parameterkombination diese Formeln und damit den Nachweis, dass damit eine Wahrscheinlichkeitsverteilung definierbar ist - mehr nicht! Das wird vor allem durch den Anwendungshinweis aus allen PERT- Lehrbüchern untermauert, dass „a in 100 Fällen nur einmal unterschritten“ und „b in 100 Fällen nur einmal überschritten“ werden solle. Immerhin bemerkenswert, dass damitdie AbgeschlossenheitderBetafunktion als praktisch nicht ganz zutreffend deklariert ist und dass offenbar niemand daran denkt, 100 vergleichbare „Fälle“ auswerten zu können. Der Ansatz von Golenko scheint sehr hilfreich, da er mit zwei Schätzungen gegenüber den drei von PERT auskommt. Mathematisch ist das korrekt. Praktisch ist aber gerade der „wahrscheinlichste“ Wert am ehesten fassbar - deshalb erhält er bei PERT das Gewicht „4“! Ihn wegzulassen und dafür die Extremschätzungen mit 3 : 2 zu bewerten kann man nur ganz ausgefuchsten Spezialisten empfehlen - also eigentlich gar nicht! Diese Überlegung ist übrigens auch das einzige Argument gegen die Dreiecksverteilung: Das Gewicht „1“ für den häufigsten Wert ist aus praktischen Erwägungen einfach zu klein. P R O J E K T M A N A G E M E N T 3 / 2 0 0 0 46 Die logarithmische Normalverteilung ist übrigens unter dem Gesichtspunkt für Vorgangsdauern sehr plausibel, da die Streuung ja selbst in der Größenordnung der Dauer liegt und eine Dauer kleiner als null ausgeschlossen ist. Es ist jedoch keine praktikable Form bekannt. 13. Das einzige Problem, das Praktiker subjektiv mit PERT haben, beginnt genau dort, wo Simon aufhört: Wie bestimmt man denn nun „F“? Immerhin muss man dafür ein Tabellenbuch oder eine Näherungslösung bei der Hand haben. Kurz und bündig findet man dies z. B. in [4] mit einem praktischen Beispiel. 14. Das größere Problem haben die Praktiker objektiv mit PERT, meist ohne sich dessen bewusst zu werden. Was bedeutet es denn, wenn die Einhaltungswahrscheinlichkeit eines Zieltermins mit 25 % oder mit 65 % berechnet wurde? Zunächst muss wohl daran erinnert werden: „Program Review and Evaluation Technique“ bedeutet eine „Technik zur Überschau und Bewertung von Programmen“ - also für hoch komplexe, aus vielen Projekten bestehende Vorhaben. Die ursprüngliche Intention der Entwickler war also eine Entscheidung, ob ein „Program“ mit der vorliegenden Prozessstruktur in die Planung gehen sollte. Höchst bemerkenswert ist, dass in der US Navy bereits ein Wert von 25 % als „normales Risiko“ akzeptiert wurde. Dabei spielt zweifellos eine entscheidende Rolle, dass man mit der Kenntnis des kritischen Weges ein wertvolles Hilfsmittel für eine effektive Steuerung zur Verfügung hatte. Ein Mindestwert von 65 % war wenige Jahre später in einer Richtlinie des sowjetischen Bauministeriums für die Planung von Großvorhaben festgelegt worden. Diese Spanne zwischen 25 und 65 % lä sst viel Raum für Überlegungen zwischen Vorentscheidung und Planung, zwischen „Planwirtschaft“ und Marktwirtschaft usw. 15. Einige Anmerkungen zu Einzelaussagen von Simon: ● Die „Bemerkung“ in der ersten Spalte auf S. 40 ist falsch, denn per Definition ist diese Fläche = 1. ● Die von Simon angeführte, aber nicht benannte Verteilungsfunktion F(x) ist für die Maximumsbildung relevant. ● Auch unter Berücksichtigung der Druckfehler scheint mir bei Simon der Weg von der Beta-Verteilung zu den PERT-Formeln nicht nachvollziehbar. ● Dass a, m und b in der ersten Spalte auf Seite 41 doppelt aufgeführt werden, aber die eigentliche Problematik nicht erwähnt wird (vgl. Pkt. 12), ist ärgerlich. ● Abschnitt 2.4 ist falsch. Denn erstens gilt ja gerade die Grunderkenntnis, dass man die optimistischen Werte nicht aufaddieren darf, ebenso wenig die pessimistischen. Und zweitens sind die spätesten Zeitpunkte nun jedenfalls etwas anderes als die addierten pessimistischen Werte. ● Ohne Quellennachweis ist ein solcher Aufsatz nicht akzeptabel. Der interessierte Leser wird in jedem Falle mehr Substanz brauchen. 16. Sicher war es gut, die Wahrscheinlichkeitssicht wieder einmal ins Blickfeld des Projektmanagements zu rücken. Das eigentliche Problem ist nach wie vor, dass die Wahrscheinlichkeitsaussagen stark interpretationsbedürftig sind. Wie soll das der Praktiker im Stress des Tagesgeschäfts bewältigen? Herrn Prof. Schelle danke ich für einige wertvolle Hinweise und bitte um Verständnis, dass ich nicht alles von mir Angemahnte gleich selbst geliefert habe. Ich bin auch nach wie vor der Meinung, dass eine praktische Anwendung bis auf weiteres nicht zur Diskussion steht. Irrtum vorbehalten! Doz. Dr.-Ing. habil. Wolfgang Schallehn Pestalozzistraße 1/ 803 D-04107 Leipzig Tel.: 03 41/ 9 60 90 20 E-Mail: schallehn@t-online.de ■ Literatur [1] Clark, Ch. E.: The greatest of a finite set of random variables. Opns. Res. Baltimore 9 (1961), S. 145-162 [2] von Guerard, H. W.: Analytical Treatment of Time- Correlation in Network Analysis. IN- TERNET-Kongress Wien 1967 [3] McCrimmon, K. R./ Ryavec, C. A.: An analytical Study of the PERT A ssumptions. Opns. Res. Baltimore 12 (1964), S. 16-37 [4] Schallehn, W.: Stochastisches Netzplanmodell (System PERT). In: Ledderboge u. a.: Bautechnologische Aufgabensammlung. 2. Auflage, VEB Verlag für Bauwesen, Berlin 1967, S. 81-86 [5] Schallehn, W.: Über den objektiven Charakter des Zufalls und seine Berücksichtigung in der Zeitplanung - eine Studie zum System PERT-TIME. Dissertation Hochschule für Bauwesen Leipzig 1970 [6] van Slyke: Monte- Carlo-Methods and the PERT-Problem. Opns. Res. Baltimore 11 (1963), S. 839 [7] Todt, H.-J.: An Alternative for PERT for the Determination of Project Risks. INTERNET- Kongress Wien 1967