PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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UVK Verlag Tübingen
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2004
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GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.„Große Projekte zähmen“
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2004
Heinz Schelle
Grün, O.: Taming Giant Projects. Management of Multi-Organizations Projects. Springer-Verlag Berlin-Heidelberg-New York 2004, 271 S., ISBN 3-540-21440-2, Preis EUR 53,45
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36 WISSEN 37 Buchbesprechung „Große Projekte zähmen“ Grün, O.: Taming Giant Projects. Management of Multi-Organizations Projects. Springer-Verlag Berlin-Heidelberg-New York 2004, 271 S., ISBN 3-540-21440-2, Preis EUR 53,45 A ls ich hörte, dass Prof. Grün von der Wirtschaftsuniversität Wien ein Buch über das Management von Großprojekten geschrieben hat, habe ich mich sehr gefreut. Der erste Grund: Grün war Schüler von Eberhard Witte und ist, wie das Mitglied unseres Redaktionsbeirats, Prof. Gemünden, ein maßgeblicher Vertreter der Empirischen Betriebswirtschaftslehre. Diese Schule steht für methodisch saubere empirische Analysen, die in unserer Disziplin dringend notwendig sind. Der zweite Grund: In das Buch sind einige Untersuchungen eingeflossen, wie z. B. die Studien über das Skandalprojekt „Allgemeines Krankenhaus Wien“ und den Bau des Klinikums Großhadern in München, die mir zwar bekannt waren, die aber einer breiteren interessierten Öffentlichkeit bisher nur schwer zugänglich sind. Der dritte Grund: Der Verfasser bietet etwas, was in der Projektmanagement-Literatur höchst selten ist: Berichte über wenig erfolgreiche Großvorhaben. Leider ist nicht zu erwarten, dass Grün, der kaum Vorgänger hat, hier sehr viele Nachfolger finden wird. So dürfte es als nahezu sicher gelten, dass wir niemals eine saubere Analyse des Projekts „Toll Collect“ erhalten werden, obwohl wir alle daraus sehr viel mehr lernen könnten als aus der Hochglanzdarstellung erfolgreicher oder zumindest als erfolgreich geschilderter Projekte. Der Autor untersucht fünf Großprojekte - man könnte auch für die ersten zwei den Terminus Programme verwenden -, nämlich die Projekte für die Olympischen Sommerspiele in München 1972, die Vorhaben für die Olympischen Winterspiele in Lake Placid 1980, den Bau des schon erwähnten Allgemeinen Krankenhauses Wien sowie des Klinikums Großhadern und das Projekt GROWIAN (= Große Windenergie-Anlage). Da die Stichprobe sehr klein ist und somit Methoden der Statistik ausscheiden, bedient er sich der Textanalyse, d. h. des Studiums und der Auswertung der umfangreichen Projektakten. Hinzu kommen Interviews, um z. B. Auskünfte über die Funktionalität der Gebäude zu erhalten. Das Buch enthält neben einem einleitenden und vorbereitenden Abschnitt die Kapitel Analyse der Zielerfüllung, Untersuchung der Erfolgsfaktoren, die eingehende Darstellung der einzelnen Projekte bzw. Programme und Schlussfolgerungen für das Projektmanagement. Im Kapitel „Goal Achievement“ kommt Grün zu wichtigen Resultaten. So kann er u. a. zeigen, dass einerseits die technischen Ziele gegenüber dem Termin- und dem Kostenziel eindeutig faktische Priorität hatten und dass andererseits die kurzfristigen technischen Ziele die langfristigen Ziele dominierten. (Im Falle der Olympiaprojekte beziehen sich die langfristigen Ziele auf die spätere Nutzung der Gebäude und Anlagen.) Um die hohe Priorität der technischen Ziele zu senken, empfiehlt er einen gewissen Zeitdruck. Damit die langfristigen Ziele besser zur Geltung kommen, wird zu einer intensiven Partizipation der späteren Nutzer in frühen Phasen geraten. Bereits hier zeigt sich, dass der Verfasser den „technokratischen“ Instrumenten, insbesondere der Netzplantechnik, keine große Bedeutung beimisst. Er schreibt für die Olympischen Spiele in München (S. 36): „The project management had the choice of relying on the network analysis which would mean returning the Games to the International Olympic Committee or simply to ignore the analysis. The management decided for the latter, relied on simple Gantt charts and finished in time.“ Das ist aus meiner Sicht eine ungerechte Beurteilung des Instruments „Netzplantechnik“. Eine ganz ähnliche Erfahrung, wie sie im ersten Satz beschrieben wird, musste ich auch machen. Ich war damals an der Aufstellung des Netzplans beteiligt, der alle Aktivitäten der Firma Siemens für die Olympischen Spiele in München enthielt. Die erste Durchrechnung des Netzplans, der damals noch sehr mühsam mittels Lochkarten eingegeben werden musste, brachte eine herbe Enttäuschung. Der negative Puffer betrug viele Monate. Allerdings wies uns die eingehende Analyse des Netzplans dann aber auch den Weg, wie der vorgegebene Endtermin doch noch ohne heroische Anstrengungen zu halten ist. Mit der Balkendiagrammtechnik hätten wir das jedenfalls nicht geschafft. Im Kapitel „Erfolgsfaktoren“ konzentriert sich Grün auf vier wichtige Einflussgrößen, besser vielleicht Gruppen von Einflussfaktoren, nämlich die Formulierung und Änderung von Zielen, das „Basic Design“, wohl am besten mit „grundlegender technischer Entwurf“ übersetzt, das sozio-politische Umfeld, wozu u. a. die politischen Parteien, die Medien, Controlling-Instanzen und Umweltverbände gerechnet werden, und „Management Structure“ und „Management Capacity“. Unter diesem Stichwort werden u. a. die Organisationsstruktur, einschließlich der Integration der Auftraggeber, der Fachleute, der Berater und der Kontrolleure in das Projekt sowie die Auswahl des Projektmanagers und des Projektteams behandelt. Folgt man der Empfehlung des Autors zur Zielformulierung „to spend enough time on the initial goal formulation“, kann sich allerdings daraus ein gewisser Zielkonaktuell projekt M A N A G E M E NT 4/ 20 0 4 projekt M A N A G E M E NT 4/ 20 0 4 aktuell 36 WISSEN 37 flikt mit der Absicht ergeben, die große Dominanz der technischen Ziele zu reduzieren. Dies zeigt sich vor allem bei großen IT-Projekten. Bei den Ausführungen zum „Basic Design“ unterscheidet Grün vier Strategien, die er vor allem am Beispiel der Bauprojekte erläutert: Alles-oder-nichts-Strategie, Indian-File-Strategy, Überlappungsstrategie und Parallelstrategie. Die erste Strategie ist streng sequenziell. Fehler in der Ausführungsphase und Terminüberschreitungen verzögern den Beginn des Betriebs der gesamten Anlage. Bei der Indian-File-Strategie, mit der Risiken gering gehalten werden sollen, wird mit der Erstellung einer weiteren Anlagenkomponente erst begonnen, wenn Erfahrungen mit dem Betrieb eines vorher erstellten Anlagenteils gewonnen worden sind. Bei der Überlappungsstrategie werden Erstellung und Inbetriebnahme der verschiedenen Komponenten zeitlich überlappt. Damit wird erreicht, dass früher mit dem Betrieb einzelner Systemteile begonnen werden kann. Bei der Parallelstrategie (zumeist bei Projekten mit hohem Zeitdruck) geschehen Planung und Erstellung aller Komponenten zugleich. Beispiel: Mit dem Bau aller Olympiaanlagen wurde gleichzeitig begonnen. Der Autor stellt Vorteile und Nachteile aller vier Strategien gegenüber und erläutert sie an seinen Projektbeispielen. Die Alles-oder-nichts-Strategie wird mit dem Allgemeinen Krankenhaus Wien in Verbindung gebracht, die Überlappungsstrategie mit dem sehr viel erfolgreicheren Münchner Krankenhausprojekt. Es wäre sehr interessant, mit dem Grün’schen Schema einmal das schon erwähnte Projekt „Toll Collect“ zu untersuchen. Bei diesem Projekt wird den Verantwortlichen ja gerade vorgeworfen, die Alles-oder-nichts-Strategie gewählt zu haben. Die Ratschläge, die Grün für den Umgang mit dem sozio-politischen Umfeld gibt, sind nicht ganz neu, wie die Ausführungen zum Stakeholdermanagement in besseren Lehrbüchern zeigen. Vor dem Hintergrund der analysierten Großprojekte und zahlreicher Hinweise auf andere bedeutende Vorhaben gewinnen sie allerdings eine große Farbigkeit, Realitätsnähe und Aktualität. Als Organisationsform bevorzugt Grün die Projektgesellschaft. Besonders bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang seine Mahnung an Politiker: „It is strongly recommended … to establish a structure which avoids excessive involvement of project owners.“ Ein weiterer Ratschlag ist die Empfehlung, einen General Manager als Verantwortlichen zu wählen. Im Teil vier beschreibt Grün dann die fünf ausgewählten Großprojekte nochmals ausführlich. Wiederholungen lassen sich hier nicht ganz vermeiden. Als Gliederungsschema dienen ihm dabei die vorher definierten Zielkategorien und Erfolgsfaktoren von Projekten. In einem jeweils eigenen Gliederungspunkt arbeitet er die Interdependenzen von Erfolgsfaktoren und Zielerreichung heraus. Der wichtigste Teil ist wohl das Kapitel 5 (Conclusions), in dem Empfehlungen mit dem Ziel gegeben werden, zukünftige Projektkatastrophen zu vermeiden. So rät Grün hier, sehr früh, bevor schon irreversible Fakten geschaffen wurden, die ersten Programminitiativen kritisch zu hinterfragen. Die „Strategic-Assumptions-Surfacing- Technique“, die nicht erwähnt wird, wäre hier gut einsetzbar. Das Credo des Autors lautet: „A good MOE-Initiative (MOE = Multi-Organizations-Enterprise; d. Rezensent) should stand up to questioning whereas a poor (too risky) initiative should be killed.“ Eine Institution wie sie die katholische Kirche schon seit Jahrhunderten in der Form des Advocatus Diaboli bei Heiligsprechungsprozessen hat, wäre hier sicher von Vorteil. Der Autor ist freilich viel zu sehr Realist, als dass er nicht wüsste, dass sich der „Systematisierung des Zweifels“ und dem „Krieg der Pläne“ in aller Regel massive Interessen entgegenstellen. Ein weiterer Ratschlag ist, zu Beginn die verfügbare Projektmanagementkompetenz und -kapazität des Auftraggebers (project owner) sorgfältig zu überprüfen. Grün zeigt, dass z. B. der Magistrat der Stadt Wien in etwa der gleichen Zeit, in der das Krankenhaus geplant und gebaut wurde, auch für andere, bedeutende Vorhaben (z. B. UNO-City) verantwortlich war. Die wichtige Lehre, die nach den Erfahrungen des Rezensenten auch in großen Unternehmen bis heute noch nicht angekommen ist, lautet: „The lesson for the future is that project owners have only limited MOE management capacity which cannot be enlarged within a short period.“ Generell tritt der Verfasser im Interesse der Risikominimierung für das Minimax-Prinzip ein. Das bedeutet: Versuche, den maximalen Schaden aus einem Vorhaben zu minimieren. (Im Gegensatz dazu steht das Maximin-Prinzip: Maximiere den minimalen Nutzen! ) Sein Satz „nothing is more detrimental to technical progress than failures owing to excessive technical goals and technical monsters produced to meet these goals“ hört sich wie eine Kritik an dem schon mehrfach angeführten Toll-Collect-Projekt an. Im Detail nennt der Verfasser am Schluss nochmals vier Prinzipien, um das Risiko gering zu halten: Cut Time Principle. Erzeuge Zeitdruck, um vor allem das Ausufern von technischen Änderungen zu verhindern. Add Responsibility Principle. Will sagen: Der Grundsatz, dass sich Aufgaben, Verantwortung und Befugnisse decken sollten, gilt auch für große Vorhaben. Dieses Prinzip betont Grün deshalb so, weil bei den von ihm analysierten Projekten Personen und Gruppen starken Einfluss ausgeübt haben, ohne für ihre Empfehlungen die Verantwortung übernehmen zu müssen. Break down MOE’s Principle. Das bedeutet: Breche das gesamte Projekt in einzelne Komponenten auf. Vermeide die „Alles-oder-nichts-Strategie“! Question Optimism Principle. Dieses oben schon erwähnte Prinzip wird von Grün als Waffe gegen den in der Startphase meist vorherrschenden Überoptimismus und gegen die zu positiven Prognosen angesehen. Abschließende Bewertung: Der Rezensent ist sich der Tatsache bewusst, dass er dem Werk von Oskar Grün, das er Zeile für Zeile gelesen hat, vor allem wegen seiner Materialfülle und seines Gedankenreichtums nicht annähernd gerecht werden konnte. Allen, die mit größeren Projekten zu tun haben, wird deshalb dringend empfohlen, das Buch selbst sorgfältig zu lesen. Als Vater weiß ich natürlich auch, dass es sehr schwer ist, Erfahrungen an seine Nachkommen weiterzugeben und damit zu verhindern, dass jede Generation wieder nur aus eigenen Niederlagen und Fehlern lernt. Trotzdem gebe ich die Hoffnung nicht ganz auf, dass das Buch „Taming Giant Projects“ uns helfen kann, zahlreiche Fehler zu vermeiden und große Projekte zu zähmen. Heinz Schelle aktuell projekt M A N A G E M E NT 4/ 20 0 4 projekt M A N A G E M E NT 4/ 20 0 4 aktuell