PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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UVK Verlag Tübingen
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2005
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GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.Schätzklausur – Mit Expertenwissen eine realistische Projektkalkulation aufbauen
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2005
Max L. J. Wolf
Im Zuge der Projektplanung müssen die Arbeitszeiten und die Durchlaufzeiten der Arbeitspakete und der Produktkomponenten geschätzt werden. Eine Schätzung beruht auf Erfahrungswerten, die einerseits aus vergangenen Projekten gewonnen werden können, andererseits in Methoden und Verfahren eingearbeitet sind. Wenn die Erfahrung nicht vorliegt, ist es sinnvoll, sich entsprechende Experten an den Tisch zu holen, um mit den Fachleuten pro Arbeitspaket den Zeitaufwand (Mengengerüst) zu ermitteln. Eine solche Sitzung wird Experten- oder Schätzklausur genannt. Eine Schätzklausur bedarf einer intensiven Vorbereitung, sie soll durch einen Moderator geführt werden, und die Ergebnisse fließen in den Terminplan und in die Kalkulation des Projekts ein. Im Folgenden werden Methoden und Verfahrensweisen zur Experten- oder Schätzklausur vorgestellt. Dieser Artikel ist bereits in der Loseblattsammlung „Projekte erfolgreich managen“ erschienen [1] und wurde nun aktualisiert.
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31 Schätzklausur-MitExpertenwisseneinerealistische Projektkalkulationaufbauen MaxL.J.Wolf ImZugederProjektplanungmüssendieArbeitszeitenunddieDurchlaufzeitenderArbeitspaketeundderProduktkomponentengeschätztwerden.EineSchätzungberuhtaufErfahrungswerten,dieeinerseitsausvergangenenProjektengewonnenwerdenkönnen,andererseitsinMethodenundVerfahreneingearbeitetsind.WenndieErfahrungnichtvorliegt, istessinnvoll,sichentsprechendeExpertenandenTischzuholen,ummitdenFachleuten proArbeitspaketdenZeitaufwand(Mengengerüst)zuermitteln.EinesolcheSitzungwird Experten-oderSchätzklausurgenannt.EineSchätzklausurbedarfeinerintensivenVorbereitung,siesolldurcheinenModeratorgeführtwerden,unddieErgebnissefließeninden TerminplanundindieKalkulationdesProjektsein.ImFolgendenwerdenMethodenund VerfahrensweisenzurExperten-oderSchätzklausurvorgestellt.DieserArtikelistbereits inderLoseblattsammlung„Projekteerfolgreichmanagen“erschienen[1]undwurdenun aktualisiert. N achdem das Projektteam den Liefer- und Leistungsumfang (Projektergebnisstruktur), die Meilensteine und die Projektstruktur für sein Projekt aufgestellt hat, müssen die Arbeitspakete aus dem Projektstrukturplan zeitlich, kapazitäts- und kostenmäßig bewertet werden. Die zum Schätzen erforderliche Erfahrung hat das Projektteam möglicherweise aus vergangenen Projekten. Voraussetzung dazu ist, dass die Daten aus abgeschlossenen Projekten in einer Projektstruktur gesammelt werden. Die Projektstruktur aus solchen Projekten soll inhaltlich ähnlich dem zukünftigen Projekt sein. Erfahrungen aus früheren Vorhaben können nur dann vernünftig genutzt werden, wenn nicht Äpfel mit Birnen verglichen werden. In der Praxis scheitert die Dokumentation der Erfahrungswerte oft an den großen Unterschieden von Projekt zu Projekt. Es gibt allerdings verschiedene Firmen, die eine Erfahrungsdatenbank aufgebaut haben und trotzdem damit das Problem der Vergleichbarkeit von Projekten kaum lösen konnten. Nach wie vor müssen die gesammelten Erfahrungswerte stark subjektiv interpretiert werden. Dennoch können sie nach der Kalkulation der Arbeitspakete zu Plausibilitätskontrollen herangezogen werden. Das soeben beschriebene Vorgehen zeigt Abb. 1. Abb. 2 zeigt aus einem Software-Projekt (Anwendungsprogramm für Großrechner), wie viel Zeit prozentual ein Projektleiter für bestimmte Tätigkeiten verwendet. So werden zum Beispiel für die Projektplanung 25 %, für die Projektüberwachung 35 % und für die Koordinierung der Fachabteilungen 40 % aufgebracht. Diese Erkenntnis kann dazu verwendet werden, die Arbeitspakete des Projektleiters daraufhin zu prüfen, ob die neu ermittelten Aufwendungen mit den Erfahrungen kompatibel sind. Bisher ist der Weg „Erfahrungsauswertungen“ betrachtet worden. Liegen die Erfahrungen weder aus vergangenen Projekte noch aus Schätzungen vor, ist es erforderlich, die jeweiligen Arbeitspakete so weit zu verkleinern, dass sie zur Ermittlung des Aufwandes überschaubar und nachvollziehbar werden. Abb.1: GenerellesVorgehenzumSchätzeneinesArbeitspakets projekt M A N A G E M E NT 1/ 20 0 5 aktuell 32 WISSEN VorteilederSchätzklausur In der Praxis erreicht man mit der Expertenklausur eine Reihe von Vorteilen: ❏ Die durch die Experten ermittelten Aufwendungen sind tagesaktuell. ❏ Die Pläne wie Liefer- und Leistungsumfang und Projektstruktur werden durch die Experten kritisch unter die Lupe genommen. Dies trägt zur Klärung der Arbeitspakete bei und beseitigt bei den Beteiligten Missverständnisse, z. B. über den wirklichen Leistungsumfang und Zulieferungen, so dass ein gemeinsames Verständnis über die Arbeitspakete entsteht. Es ist wichtig, dass die Erkenntnisse der Experten über zugrunde liegende Annahmen schriftlich für jedes Arbeitspaket festgehalten werden. DerSchätzgegenstand Damit Termine und Kosten geplant werden können, werden die erforderliche Arbeitszeit pro Mitarbeiter und ihre Bewertung benötigt. Die Arbeitszeit, die ein Mitarbeiter pro Tag ohne Störung zum Bearbeiten des Arbeitspaketes benötigt, wird Aufwand genannt. Der Aufwand ist im Sinne der Kalkulation ein Produkt aus Arbeitszeit mal Mitarbeiter oder mal Anzahl der Mitarbeiter (Kapazität). Wenn dieser Aufwand mit einem firmenspezifischen Stundensatz bewertet wird, erhält man die Personalkosten. Neben den Personalkosten entstehen in einem Projekt so genannte Sachkosten wie zum Beispiel für Rechenzeiten, Geräte, Reisen, Material und Werkzeuge. Wenn ein Mitarbeiter auf Reisen geht, so fallen Reisezeiten (Personalkosten) und Reisekosten (Sachkosten) an (Abb. 3). Die ermittelten Personal- und Sachkosten fließen am Ende einer Projektplanung in eine Deckungsbeitragsrechnung ein. Die Kalkulation (Abb. 4) betrachtet verschiedene Kostenarten, die im herkömmlichen Sinne pro Baugruppe oder Komponente einer Anlage/ eines Produkts ermittelt werden. Im Wesentlichen handelt es sich um Material-, Fertigungs-, Forschungs-, Entwicklungs- oder Konstruktionskosten sowie Vertriebs- und Verwaltungsgemeinkosten. Wenn die Expertenklausur eingesetzt wird, dann müssen die Aufwendungen und Kosten pro Arbeitspaket ermittelt werden. Dies bedeutet, dass die Kosten der Arbeitspakete dokumentiert und zu einer Gesamtdeckungsbeitragsrechnung für das Projekt zusammengeführt werden. Dahinter steckt das Prinzip, immer die Kosten nach dem Verursacher zu schätzen und später auch zu ermitteln. Von pauschalen Zuschlägen im Gießkannenprinzip über das Projekt hinweg ist abzusehen. Abb.2: ErfahrungswertefürZeitbudgeteinesProjektleiters (Software-Projekt) Abb.3: Personal-undSachkosten Abb.4: KalkulationsschemaBaugruppen aktuell projekt M A N A G E M E NT 1/ 20 0 5 33 DieSchätzklausur Im Folgenden sollen Organisation, Spielregeln, Vorgehen, Voraussetzungen und Risikobetrachtung dargestellt werden. Organisation Mit der Vorbereitung der Expertenklausur steht und fällt der Erfolg bei der detaillierten Bewertung der Arbeitspakete. Experten in einer Firma sind in der Regel in die verschiedenen Projekte sehr stark eingebunden. Deshalb ist es sinnvoll, sie frühzeitig über den Termin der Expertenklausur zu informieren. Je nach Art der Arbeitspakete sind verschiedene Klausuren durchzuführen und die entsprechenden Experten einzuladen. Wird ein Projektstrukturplan für das Bauvorhaben Ampel als vereinfachtes Demonstrationsbeispiel betrachtet (Abb. 5), so könnten drei Expertenklausuren in Absprache des Moderators mit den Projektleitern durch- Abb.5: ProjektstrukturplanfürBauvorhaben„Ampel“ projekt M A N A G E M E NT 1/ 20 0 5 aktuell 34 WISSEN geführt werden: zum einen die Klausur für die Signalanlage und -steuerung, zum anderen eine Klausur für die Baumaßnahme und zum dritten eine Veranstaltung für Dienste, Management und übergreifende Aktivitäten. Den teilnehmenden Experten ist rechtzeitig der Projektstrukturplan mit Arbeitspaketbeschreibungen zur Vorbereitung zur Verfügung zu stellen. Für die Schätzklausur ist eine störungsfreie Atmosphäre zu schaffen. Im Durchschnitt werden nach vorliegenden Erfahrungen pro abzuschätzendes Arbeitspaket 10 bis 15 Minuten benötigt. Daraus ergibt sich die Zeit, die für die Schätzung des gesamten Projekts benötigt wird. DurchführungderSchätzklausur Moderator Der Moderator soll die Schätzklausur so organisieren, dass während der Klausur die Schätzwerte auf Flip- Charts oder in einem Kalkulationsprogramm erfasst werden können. Es muss sichergestellt sein, dass später nicht nachvollziehbar ist, welche Person welchen Schätzwert abgegeben hat. Es empfiehlt sich, am Ende der Klausur entsprechende Daten, die Rückschlüsse zulassen würden, zu vernichten. Damit soll verhindert werden, dass nach der Klausur Personen mit ihren Schätzwerten konfrontiert werden. Falls der Projektleiter darauf dringt, dass Arbeitspaketverantwortliche als Experten mitschätzen, ist darauf zu achten, dass diese nicht zu viel Reserven in die Arbeitspakete zur Sicherheit hineinschätzen. Der Moderator sollte vor Beginn der Expertenklausur auf einem Flip-Chart einen Standardtätigkeitsbogen (Abb. 6) mitbringen. Neben der eigentlichen Durchführung der Aufgabe werden Aktivitäten wie Übernahme der Aufgabe, Einarbeitung, Prüfung, Nacharbeiten, Abnahme, Koordination und Kommunikation sowie Schreibarbeiten und Reisezeiten mit geschätzt. Besonders zu Beginn der Schätzklausur ist dieser allgemeine Tätigkeitsrahmen abzuklären, damit alle Schätzer eine einheitliche Grundlage zum Ermitteln ihrer Schätzwerte haben. Spielregeln Zu Beginn der Expertenklausur sind die Regeln zum Schätzen zu verabreden und öffentlich auszuhängen. Wenn mehr als drei Personen schätzen, empfiehlt es sich, die Extremwerte zu streichen und aus den verbleibenden Werten den Mittelwert zu bilden. Eine Spielregel könnte auch sein, eine Diskussion unter den Experten zuzulassen, wenn beispielsweise die Abweichung von Einzelwerten vom Mittelwert mehr als 20 % beträgt. Damit soll herausgefunden werden, weshalb ein Fachmann sehr hoch oder ein anderer sehr niedrig geschätzt hat. Nach einer solchen Diskussion könnte die Schätzung auch wiederholt werden, um den Beteiligten die Möglichkeit zu geben, ihren zunächst genannten Wert zu revidieren. Ferner ist festzulegen, ob auf der Basis von Mitarbeiter-Tagen (MT) oder Mitarbeiter-Wochen (MW) kalkuliert wird. Bei größeren Projekten empfiehlt es sich, auf der Basis von Mitarbeiterwochen zu schätzen. Außerdem ist es hilfreich, konsequent nach 1,5 Stunden eine Pause einzulegen, um für jedes Arbeitspaket die gleiche Aufmerksamkeit und Konzentration zu erzielen. Vorgehen Nach dem Vorstellen der Tagesordnung und der Begrüßung der Experten wird anhand des Projektsteckbriefes das Projekt eingehend erläutert. Anschließend folgt, wie schon erwähnt, die Klärung der Schätzmethode und -regeln. Hier ist auf eine klare Kommunikation und Verabredung mit den Experten zu achten. Nun stellt der Moderator die Teile des Liefer- und Leistungsumfanges und der Projektstruktur vor, die Gegenstand dieser Schätzklausur sind. Das Schätzen erfolgt in zwei Schritten: Zunächst ruft der Moderator das jeweilige Arbeitspaket unter Nennung der Annahmen, des Ergebnisumfan- Abb.6: StandardtätigkeitenproArbeitspaket Abb.7: VorgehenbeiderSchätzklausur aktuell projekt M A N A G E M E NT 1/ 20 0 5 35 ges und der am Paket arbeitenden Personen auf. Gemeinsam legen die Experten mit dem Projektleiter den Ergebnisumfang fest. Dies kann bei einem Pflichtenheft die geschätzte Anzahl der zu schreibenden DIN-A4-Seiten, bei einem Software-Paket der prognostizierte Umfang des Source-Codes oder bei Grafiken die Anzahl der voraussichtlich zu erstellenden Zeichnungen sein. Ferner muss von den Schätzern entschieden werden, ob sie den Aufwand bezogen auf eine Person oder mehrere Personen ermitteln. Bei mehreren Personen fällt Kommunikationsaufwand an, der schon bei zwei Personen 10 bis 20 Prozent des Aufwands eines Arbeitspaketes betragen kann. Im zweiten Schritt schätzt jeder Experte unbeeinflusst von den anderen Teilnehmern den Aufwand pro Arbeitspaket. Jeder Schätzer schreibt seinen Aufwand auf eine Karte. Der Moderator ruft jeden Experten einzeln auf und notiert den Aufwand in ein Schätzformular (Abb. 8). Nachdem alle Werte ermittelt sind, werden zum Beispiel je nach Schätzregeln die Extremwerte weggestrichen und Abb.8: SchätzformularzurDokumentationderSchätzergebnisseproArbeitspaket Abb.9: BeispielfüreinenArbeitspaket-Auftrag projekt M A N A G E M E NT 1/ 20 0 5 aktuell 36 WISSEN es wird der Mittelwert gebildet. Bei größeren Abweichungen der genannten Aufwände pro Arbeitspaket erläutert jeder Experte, weshalb er zu seinem Wert gekommen ist. Bei dieser Diskussion werden häufig weitere Annahmen und offene Punkte aufgedeckt, die festzuhalten sind. Alternativ zu den Schätzformularen können auch die Arbeitspaket-Aufträge verwendet werden (Abb. 9). Der obere Teil des Arbeitspaket-Auftrages, wie Lieferungen/ Leistungen, Voraussetzungen und Abnahmebedingungen, wird vor der Expertenklausur erarbeitet. Der untere Teil wird während der Klausur von den Schätzern ermittelt. Sie ermitteln pro Arbeitspaket den Personalaufwand, den Materialaufwand und die Fremdbezüge. Wer später die Deckungsbeitragsrechnung durchführen muss, nimmt pro Arbeitspaket das Kalkulationsschema „Arbeitspaket“ (Abb. 10). Die Schätzklausur endet mit einer kurzen Zusammenfassung und der Versicherung an die Experten, ihnen am Ende des Projektes die IST-Werte pro Arbeitspaket zur Verfügung zu stellen. Dadurch werden die Experten motiviert, wiederzukommen und durch die Analyse der Abweichung ihre eigenen Erfahrungen zu stärken. Risikobetrachtung Die Expertenklausur kann um die Risikoanalyse erweitert werden (Abb. 11). Arbeitspaket für Arbeitspaket filtern die Schätzer die Risiken heraus. Diese werden dann nach Tragweite und Eintrittswahrscheinlichkeit bewertet. Zusätzlich schätzen die Experten die Kosten bei Eintritt des Risikos. Wird die Eintrittswahrscheinlichkeit mit den Kosten multipliziert, so können die Risikokosten für die jeweilige Wahrscheinlichkeit dargestellt werden. ■ Literatur [1]Wolf,M.L.J.: Expertenklausur-mitExpertenwisseneinerealistischeProjektkalkulationaufbauen.In: Schelle,H.; Reschke,H.; Schnopp,R.; Schub,A.: Projekteerfolgreichmanagen.Loseblattwerk,8.Aktualisierung,Kap.4.6.7,TÜV-Verlag,Köln1997 [2]Wolf,M.L.J.; Mlekusch,R.; Hab,G.: Projektmanagementlive.Instrumente,VerfahrenundKooperationenals GarantendesProjekterfolgs.5.,neubearbeiteteAuflage. Expert-Verlag,Renningen2004 Schlagwörter Arbeitspakete,Kostenschätzung,Projektdeckungsbeitragsrechnung,Risikoanalyse,Schätzklausur Autor MaxL.J.WolfistDiplom-Volkswirtund seit1990alsselbstständigerTrainerund BeraterfürUnternehmenundbeimVDI WissensforumzurStärkungderProjektmanagement-Kompetenzentätig.Erist LehrbeauftragteranderFachhochschule München,FachbereichWirtschaftsingenieurwesen,zumThemaProjektmanagement.SchwerpunkteseinerArbeitsindVermittlungvon MethodenvomStartbiszumEndekleinerundmittlererProjekte, UnterstützungbeiderKommunikationundKonfliktlösungin Teams,EinführungvonProjektmanagement-StandardsimMittelstand.Ihmistwichtig,dassdaserlernteWissenindiePraxis umgesetztwird.ErhatzahlreicheBeiträgevonderArbeitsmethodikbiszurProjektarbeitveröffentlicht,u.a.„Projektmanagementlive“(gemeinsammitR.MlekuschundG.Hab). Anschrift E-Mail: max.wolf@wolf-pmt.de Abb.11: SchemazurErmittlungderRisiken Abb.10: Kalkulationsschema„Arbeitspaket“ aktuell projekt M A N A G E M E NT 1/ 20 0 5