eJournals PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL 24/5

PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
pm
2941-0878
2941-0886
UVK Verlag Tübingen
121
2013
245 GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.

Komplex ist nicht kompliziert

121
2013
Jens Köhler
Die Kolumne „Ehrlich und Priesberg“ möchte mit unterhaltsamen Dialogen rund um das Thema „Mensch – Kommunikation, Verhalten, Entscheidungen“ Denkanstöße für den PM-Alltag geben.
pm2450055
projekt MA N A G E M E N T aktuell 5/ 2013 l 55 P riesberg und Ehrlich begeben sich auf Dienstreise. Ihre Tickets müssen sie vor Abfahrt am Fahrkartenautomaten ausdrucken. Priesberg drückt lange auf dem Bildschirm des Automaten herum und endlich kommt auch sein Ticket. „Mensch, so viele Menüs! Das ist doch ganz schön komplex, oder nicht? “ „Kompliziert - nicht komplex“, widerspricht Ehrlich. „Ja, genau das habe ich doch eben versucht zu erläutern“, entgegnet Priesberg genervt. Jetzt ist auch Ehrlich in einem angeregten Zustand: „Komplex meint etwas völlig anderes als kompliziert. Es ist in etwa so wie mit ‚effektiv‘ und ‚effizient‘ - beide Begriffe werden häufig synonym verwendet, sind aber völlig unterschiedlich. Wenn etwas komplex ist, dann handelt es sich erstens um etwas Zusammengesetztes und zweitens um etwas, dessen Komponenten untereinander in Wechselwirkung stehen. Unser Gehirn ist komplex: Es besteht aus einzelnen Neuronen, die auf einfache Weise funktionieren, aber hochgradig vernetzt sind. Niemand kann die Funktionsweise einer derartigen Vernetzung im Detail verstehen und das Verhalten eines Menschen vorhersehen. Hier gehört auch der Begriff ,Emergenz‘ hin: Wenn aus der Vernetzung von Teilsystemen etwas völlig Neues entsteht, dann spricht man von Emergenz, eine Eigenschaft komplexer Systeme.“ „Also ist das Bewusstsein ein emergenter Zustand der Vernetzung unserer Neuronen im Gehirn“, fasst Priesberg zusammen. „Ja, das kann man so sagen“, antwortet Ehrlich und fährt fort: „Jetzt zurück zur Menüführung deines Fahrkartenautomaten. Die ist kompliziert und nicht komplex. Du musstest lediglich eine Anzahl an Menüs durcharbeiten, die Bedienung dieser Funktionen kann jede Person durch Logik im Detail erfassen. Du wusstest auch, was der Automat als Nächstes macht, wenn du einen Schritt abgeschlossen hast.“ Priesberg beruhigt sich wieder. „Also ist auch das Lösen einer Rechenaufgabe kompliziert und nicht komplex, da ich das Problem in Gänze erfassen und lösen kann.“ „Ja, genau so ist es“, bestätigt Ehrlich, „um ein komplexes System zu beschreiben und zu verstehen, müssen andere Regeln als der Reduktionismus angewandt werden.“ „Als da wären? “, fordert Priesberg heraus. Ehrlich holt tief Luft: „Ich muss Muster und eine Skala finden, auf der sich das System beschreiben lässt. Beispielsweise kann ich das Temperament eines Menschen dadurch beschreiben, indem ich ihn oder sie einen Persönlichkeitstest machen lasse; es macht aber wenig Sinn, wenn ich versuche, das Temperament aus der neuronalen Vernetzung des Gehirns zu erfassen. Ich muss akzeptieren, dass sich das Verhalten komplexer Systeme nicht deterministisch vorhersagen lässt, wie beispielsweise beim Wetter: Durch die hohe Kopplung der einzelnen Teilsysteme wie Feuchtigkeit, Luftdruck, Strömung, Sonneneinstrahlung etc. haben Vorhersagen nur eine Gültigkeit von wenigen Tagen. Zusammengefasst: Ich weiß niemals, was ein komplexes System im Detail macht, auch wenn ich noch so intelligent bin.“ „Das habe ich jetzt verstanden. Meine nächste Frage ist dann natürlich: Sind Projekte ebenfalls komplex und, falls ja, wie kann ich damit umgehen? “, fragt Priesberg. Die beiden sehen endlich den Zug einfahren, leider aber in umgekehrter Wagenreihenfolge. Sie nehmen die Beine in die Hand, um zum hinteren Zugteil zu rennen, wo sich ihre Plätze befinden. „Um deine Frage zu beantworten …“, hechelt Ehrlich, „klar gibt es komplexe Projekte. Das sind die Projekte mit vielen Einflussgrößen und gegenseitigen Abhängigkeiten, bei denen sich beispielsweise ein Problem in der Schnittstelle benachbarter Teilprojekte auf das gesamte Projekt auswirken kann. Hier gilt auch: Versuche Handlungsmuster und Rahmenbedingungen zu finden, um ein komplexes Projekt nachzuvollziehen. Ein Beispiel ist die Typologie von Menschen und Organisationen: Wenn ich mich also mit meinem Temperament gegen die Organisationskultur stelle, dann wird es knirschen. So kann man potenzielle Konflikte frühzeitig aufdecken und entgegenwirken.“ Ehrlich und Priesberg setzen sich, mittlerweile nassgeschwitzt, auf ihre Plätze im Zug. „Also bedeutet komplex einfach, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile“, resümiert Priesberg. „Ja, so ist es: Komplex ist eben nicht kompliziert“, grinst Ehrlich und wundert sich nicht, als der Zug in die umgekehrte Richtung losfährt. ■ Autor Dr. Jens Köhler ist bei der BASF SE beschäftigt. Sein Spezialgebiet ist die Erforschung der Effizienz- und Effektivitätssteigerung von Projektteams durch die gezielte Steuerung über Soft Skills und Kommunikationsprozessen. Anschrift BASF SE, D-67056 Ludwigshafen, Jens.Koehler@basf.com Projektgeschichten und Fallstudien Kolumne „Ehrlich und Priesberg“ Komplex ist nicht kompliziert Die Kolumne möchte mit unterhaltsamen Dialogen rund um das Thema „Mensch - Kommunikation, Verhalten, Entscheidung“ Denkanstöße für den PM-Alltag geben. Jens Köhler PM_5-2013_1-72: Inhalt 06.11.2013 14: 29 Uhr Seite 55