PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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UVK Verlag Tübingen
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GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.Über Prozess-Charts und Speisekarten
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Jens Köhler
Die Kolumne „Ehrlich und Priesberg“ möchte mit unterhaltsamen Dialogen rund um das Thema „Mensch – Kommunikation, Verhalten, Entscheidungen“ Denkanstöße für den PM-Alltag geben.
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Wissen 43 projektManagementaktuell | ausgabe 2.2016 Die Kolumne „Ehrlich und Priesberg“ möchte mit unterhaltsamen Dialogen rund um das Thema „Mensch - Kommunikation, Verhalten, Entscheidungen“ Denkanstöße für den PM-Alltag geben. Priesberg betritt ernüchtert das Büro von Ehrlich. „Ich habe da so einen Kollegen, den ich nicht richtig einordnen kann“, legt er los und fährt fort: „Ich weiß nicht, wie er arbeitet - aber immer dann, wenn er auftaucht, scheinen Probleme plötzlich gelöst zu werden. Er hält mich für kleinlich, da ich stets auf die strikte Einhaltung unserer einmal definierten Geschäftsprozesse achte.“ Ehrlich schaut seinen Kollegen genervt an und entgegnet: „Mich erinnert diese Prozessgläubigkeit jedes Mal an Personen, welche in einem Restaurant die Speisekarte mit der Speise verwechseln, also die Karte anstatt der Speise essen wollen.“ Er lehnt sich jetzt entspannt zurück und wartet auf die Reaktion seines Kollegen, die prompt erfolgt: „Was ist das denn nun wieder für ein Unsinn? Ich glaube kaum, dass es solche Personen gibt! “ „Doch, die gibt es. Übertragen auf unsere schöne neue Prozesswelt bedeutet das, zu glauben, dass ein Geschäftsprozess identisch ist mit dem Prozessplan. Aber im wahren Leben werden die Prozesse von allen Beteiligten durch individuelle Interpretation unterschiedlich ausgelegt, so wie ein Gericht aus der Speisekarte verschiedenartig zubereitet werden kann“, grinst Ehrlich. „Ja und? “, entgegnet Priesberg stur, „gerade deshalb muss man die Prozesse eben immer wieder schulen.“ „Oder einen Kollegen im Team haben, der sich bewusst um die Umsetzung eines Prozesses im täglichen Leben kümmert, so wie der Kollege, den du erwähnt hast“, fällt ihm Ehrlich ins Wort und fährt fort: „Dazu gehört insbesondere die Lösung von Konflikten aufgrund individueller Interpretationen. Das ist effizienter, als den Mitarbeitern ständig Prozesspläne einbläuen zu wollen wie Lateinvokabeln. Prozesse sind eben nur so gut, wie sie von Menschen tatsächlich gelebt werden.“ Priesberg reagiert gereizt: „Und woran erkenne ich so einen Vernetzer? Es bedarf hierfür doch bestimmter Qualifikationen? ! “ Ehrlich fährt unberührt fort: „Als Erstes bedarf es für diese Rolle Rückhalt vom Management. Dazu gehört die Erkenntnis, dass Prozesse immer anders gelebt werden, als sie aufgeschrieben wurden. Zweitens treten diese Personen meist von sich aus in Aktion, da sie sich mit dem gelebten Prozess und der inhaltlichen Thematik identifizieren und daher Probleme wahrnehmen, bevor diese anbrennen. Drittens, und vielleicht am wichtigsten, haben diese Personen ein intrinsisches Verständnis von Kommunikation und besitzen die Fähigkeit, zwischen Sach- und Metaebene wechseln zu können, was zu einer effizienten Umsetzungskompetenz führt.“ Priesberg unterbricht ihn kopfschüttelnd: „Wenn es so ist, wie du beschreibst, dann ist es schwer, diese Menschen zu identifizieren, da sie so schnell die Probleme lösen.“ Ehrlich, noch entspannt, entgegnet: „Hier ein reales Beispiel: Es sollten Datensätze von einem IT-System in ein anderes kopiert werden. Dabei gab es Datensätze von Kunden und solche, die aus Vorhersagen stammen, also simulierte Datensätze. Der IT-Kollege, der die Migration vornehmen sollte, hatte nur die Kundensätze im Fokus, da sie für ihn dem realen Leben entsprachen, der Anforderer aus dem Business kam aus der Marktentwicklung und hatte im Gegensatz dazu nur die simulierten Datensätze vor Augen. Beide Datensätze sind strukturell identisch, aber inhaltlich verschieden. Und was passierte? Erst kurz vor der Durchführung der Migration wurde festgestellt, dass beinahe die Kundendaten mit den simulierten Daten vertauscht worden wären. Auf dem Papier hat aber jeder den Prozess eingehalten.“ Priesberg unterbricht: „Lass mich raten: Kurz danach begann eine Kaskade an Beschuldigungen.“ „Ja, es wäre beinahe die Stunde der Prozess- Chart-Leser geworden. Die Geschichte hatte dennoch einen guten Ausgang: Einem Koordinator im Projekt ist dieser Widerspruch aufgefallen, nachdem er mit beiden Kollegen gesprochen hatte. Nach einer gewissen Zeit der Eskalation hat er das Problem gelöst und ein entsprechendes Bewusstsein bei allen Beteiligten geschaffen, auch dadurch, dass er bewusst nicht sofort eingriff, sondern erst, nachdem es eskaliert war“, betont Ehrlich. „Somit lässt sich also nicht alles Wissen in Prozess-Charts gießen, und es ist besser, wenn Vernetzer implizites Wissen vor Ort anwendbar machen - genauso wie Speisekarten nicht die Speise sind“, seufzt Priesberg, bevor ihn Ehrlich unterbricht: „Und wenn zu viele Vernetzer unterwegs sind, dann sollte man wiederum über die Vereinfachung der Prozesse nachdenken. Es ist ein endloser Kreislauf.“ Autor Dr. Jens Köhler ist bei der BASF SE beschäftigt. Sein Spezialgebiet ist die Erforschung der Effizienz- und Effektivitätssteigerung von Projektteams durch die gezielte Steuerung über Soft Skills und Kommunikationsprozesse. Anschrift: BASF SE, GB/ I, 67056 Ludwigshafen, E-Mail: Jens.Koehler@basf.com Projektgeschichten und Fallstudien Über Prozess-Charts und Speisekarten autor: Jens Köhler PM-aktuell_2-2016_Inhalt_01-72.indd 43 04.04.2016 5: 25: 21 Uhr