eJournals PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL 28/4

PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
pm
2941-0878
2941-0886
UVK Verlag Tübingen
101
2017
284 GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.

Wie „langsames Denken“ ein Projekt beschleunigt

101
2017
Frank Habermann
Karen Schmidt
„Langsames Denken in Projekten” ist ein Ansatz, um gute Projektentscheidungen zu treffen. Die eingesetzten Techniken zielen auf die Gewinnung möglichst breiter und geteilter Informationen. In diesem Zusammenhang verwendet langsames Denken „Musterbrecher”, die dabei helfen, Denkfallen und Wahrnehmungsverzerrungen zu überwinden. Durch unaufgeregte Informationsanalyse werden kräftezehrende Konflikte und unproduktive Diskussionen vermieden. So dauert langsames Denken nicht lange, sondern spart sogar Zeit. Besonders wirkungsvoll ist langsames Denken in interdisziplinären Projektgruppen. Der Ansatz kann im Traditionellen wie Agilen genutzt werden und ist mit einer Vielzahl von PM-Instrumenten kombinierbar (z. B. Project Canvas, RACI, Stakekolder Map).
pm2840042
42 WISSEN projektManagementaktuell | AUSGABE 4.2017 Erfahrene Projektmanager kennen das, Menschen aus verschiedenen Unternehmensbereichen versuchen, sich über einen Projektgegenstand zu verständigen: Da fließen professionelle Sichtweisen ebenso ein wie persönliche Interessen, manches bleibt unausgesprochen, vieles wird überhört und noch mehr geht im Missverständnis der Fach- und Expertensprachen unter. Diese Situation ist anstrengend und zeitraubend. Besonders kritisch ist sie immer dann, wenn richtungsweisende Entscheidungen unter hohem Ergebnisdruck getroffen werden müssen. „Langsames Denken in Projekten“ strebt an, dabei zu helfen. Die folgenden Abschnitte bieten hierzu eine praktische Anleitung und ein Anwendungsbeispiel. Projekt ist, wenn schnelles Denken an Grenzen stößt Unser Denken folgt bestimmten Mustern, geprägt von unserer Herkunft, Sozialisation, Bildung und Erfahrung. Der so gewonnene Standpunkt leitet maßgeblich unsere Wahrnehmung. Und dabei bewerten wir in einem fort, in Bruchteilen von Sekunden, ohne aktives Hinterfragen und kritischen Diskurs. Der Volksmund nennt dieses unbewusste Schlussfolgern „Intuition“. Daniel Kahneman, Psychologe und Nobelpreisträger für Wirtschaft, nennt es „schnelles Denken“ [1]. Schnelles Denken ist das „unbewusste Schlussfolgern“, das „Entscheiden aus dem Bauch“. Laut Kahneman ist es unser Standardmodus, unser dauerhafter Betriebszustand des Denkens [1, S. 33]. Es ist wichtig, dass wir dies zunächst festhalten: Schnelles Denken ist weder schlecht noch gut - es ist einfach das, was wir immer und üblicherweise tun! Kahneman beschreibt schnelles Denken als das unbewusste Erschaffen von subjektiv stimmigen Geschichten auf der Basis von sehr wenigen Daten und Fakten. Kahneman hat nachgewiesen, dass Menschen dazu tendieren, sich in ihre erste „subjektiv stimmige Geschichte“ sehr schnell zu verlieben. Wenn wir eine Geschichte gefunden haben, die in sich stimmig erscheint, dann wollen wir an diese Version der Wahrheit glauben, wir verteidigen sie unbewusst und suchen nach Bestätigung. Und das tun wir selbst dann, wenn diese Interpretation auf sehr wenigen Fakten basiert und - noch erstaunlicher - selbst dann, wenn wir wissen, dass unsere Version der Wahrheit auf sehr wenigen Fakten basiert [1, S. 42 ff.]. Schnelles Denken ist die kognitive Ursache für das, was March und Simon als „selektive Wahrnehmung“ [2, S. 172 ff.] und Scharmer als „Downloading“ von Informationen bezeichnen [3, S. 119 ff.]. Sobald wir erste Daten erhalten haben, die für uns ein stimmiges Bild generieren, behindert dies den weiteren Prozess der Datensammlung. Unser Gehirn bricht an dieser Stelle einfach das aktive Zuhören, das nüchterne Beobachten, das mühsame Sammeln von Fakten ab - es ist zufrieden mit dem, was es hat, und lässt sich davon lenken. Schnelles und intuitives Denken hat viele Vorteile. Warum weiter Daten sammeln und analysieren, wenn die Wahrheit bereits auf der Basis von sehr wenigen Daten geschlussfolgert werden kann? In einem bestens bekannten Umfeld (Routine/ Alltag) führt schnelles Denken zu guten Entscheidungen. Zudem ist es effizient und schont unsere Ressourcen. Nicht umsonst ist schnelles Denken unser natürlicher Betriebsmodus. Anspruchsvolle Projekte jedoch - und nur um solche soll es im Folgenden gehen - sind meist das Gegenteil von Routine und Alltag! Im Rahmen der Open Source-Initiative „Over the Fence“ (www.overthefence.com.de) wurden über 2.000 Menschen aus mehr als 70 Ländern befragt, was für sie das Wesen eines Projekts ausmacht. „Unbekanntheit“ und „Neuartigkeit“ waren die am häufigsten genannten Merkmale [4]. Projektarbeit ist für die meisten Menschen gleichbedeutend damit, etwas Neuartiges zu erschaffen - etwas, das von ihrem täglichen Arbeitsgegenstand abweicht. Und Projektarbeit bedeutet für die meisten mit Menschen zu arbeiten, mit denen sie normalerweise nicht zusammenarbeiten - in Rollen jenseits bekannter Strukturen und geübter Abläufe. Gute Projektentscheidungen treffen Wie „langsames Denken“ ein Projekt beschleunigt Autoren: Frank Habermann, Karen Schmidt >> Für eilige Leser „Langsames Denken in Projekten“ ist ein Ansatz, um gute Projektentscheidungen zu treffen. Die eingesetzten Techniken zielen auf die Gewinnung möglichst breiter und geteilter Informationen. In diesem Zusammenhang verwendet langsames Denken „Musterbrecher“, die dabei helfen, Denkfallen und Wahrnehmungsverzerrungen zu überwinden. Durch unaufgeregte Informationsanalyse werden kräftezehrende Konflikte und unproduktive Diskussionen vermieden. So dauert langsames Denken nicht lange, sondern spart sogar Zeit. Besonders wirkungsvoll ist langsames Denken in interdisziplinären Projektgruppen. Der Ansatz kann im Traditionellen wie Agilen genutzt werden und ist mit einer Vielzahl von PM-Instrumenten kombinierbar (z. B. Project Canvas, RACI, Stakekolder Map). WISSEN 43 projektManagementaktuell | AUSGABE 4.2017 Vermutlich hat es irgendwo auf der Welt schon ein anderes Projekt dieser Art gegeben. Doch das Wissen um „alle Projekte einer bestimmten Art“ ist kaum operationalisierbar. Sinnvollerweise muss die Neuartigkeit eines Projekts daher subjektiv - aus der Sicht der im Projekt beteiligten Akteure - beurteilt werden. Das Ausmaß der Neuartigkeit eines Projekts ergibt sich durch die Projektakteure, für die einer oder mehrere der folgenden Faktoren neuartig sind: • Ergebnis: Ein Projekt erstellt ein Produkt oder einen Service, welche nicht Teil der üblichen Geschäftsabläufe und der normalen Arbeitsorganisation sind. • Umfeld: Ein Projekt wird in einem unbekannten sozialen, kulturellen, technischen oder geografischen Umfeld durchgeführt. • Größe: Ein Projekt sprengt in seiner Dimension - in punkto Zeit oder Budget - alles, was bisher durchgeführt wurde. • Kunde: Ein Projekt hat einen andersartigen Auftraggeber und/ oder Empfänger der Projektleistung als vergleichbare Projekte. • Team: Ein Projekt bedeutet für den betreffenden Akteur eine neuartige Rolle oder bringt eine insgesamt unbekannte Gruppenkonstellation mit sich, etwa hinsichtlich der beteiligten Experten aus verschiedenen Disziplinen. Und so vermessen Sie die Neuartigkeit Ihres Projekts: Versammeln Sie die maßgeblichen Projektakteure in einem Raum. Bitten Sie jeden Akteur auf einem Stück Papier die Faktoren Ergebnis, Umfeld, Größe, Kunde, Team aufzulisten. Erläutern Sie kurz die Bedeutung der Faktoren und den Zweck der Übung. Bitten Sie anschließend die Akteure, für jeden Faktor die folgende Frage zu beantworten: „Habe ich schon einmal an einem vergleichbaren Projekt mitgewirkt? “ Die Antworten sollen auf dem Zettel notiert werden. Bitten Sie die Akteure, die Übung für sich alleine durchzuführen - im Stillen und ohne Diskussion. Auf diese Art vermeiden Sie unerwünschte Lenkung und Gruppeneffekte. Geben Sie drei Minuten Zeit. Bitten Sie die Akteure anschließend, ihre Antworten vorzustellen. Anhand der Erläuterungen wird sehr schnell ersichtlich, was die Akteure über das Projekt bereits wissen und inwiefern es für sie neuartig ist. Fassen Sie die Ergebnisse zusammen, z. B. an einem Whiteboard. Sie erhalten dann eine Tabelle mit dem in Abbildung 1 dargestellten Aussehen. Die Abbildung veranschaulicht beispielhaft das beobachten und Daten sammeln. „Ich weiß es nicht“ verkörpert das kritische Hinterfragen von einfachen Lösungen und wohlklingenden Best Practices. „Ich weiß es nicht“ ist Ausdruck von Wissensdurst und Neugierde. „Ich weiß es nicht“ als Grundhaltung zu leben, erfordert Mut. Dies gilt insbesondere in einem Umfeld, in dem „Ich muss es wissen“ das vorherrschende Selbstbild ist. Die Einstellung „Ich muss es wissen“ fördert schnelles und intuitives Denken. Schon wenige Informationen genügen, um Entscheidungen zu manifestieren. Der Rest ist selektive Wahrnehmung. Wer „Ich muss es wissen“ als Grundhaltung lebt, handelt immer effizient - nicht unbedingt jedoch effektiv. „Ich weiß es nicht“ ist auch die Grundhaltung von Designern. Produktdesigner beispielsweise stellen keine Vermutungen an, was Kunden möchten. Stattdessen befragen sie diese, beobachten ausdauernd und scheuen sich auch nicht vor Überraschungen. Designer wollen einen Sachverhalt wahrhaft verstehen und eine bestmögliche Gestaltungsform finden. „Ich weiß es nicht“ ist das, was Boland und Collopy als „Design-Attitüde“ bezeichnen [6]. In ihrem Artikel „Design Matters for Management“ formulieren sie die These, dass die Welt eine bessere wäre, wenn mehr Manager eine „Design-Attitüde“ einnehmen würden. Die Aufmerksamkeit, die „Design Thinking“ derzeit u. a. im Projektmanagement genießt, macht diesbezüglich Hoffnung. Denn: Der größte Feind erfolgreicher Projekte ist nicht Unwissen, sondern die Illusion von Wissen. Vor einem Projekt: Vermessen Sie die Neuartigkeit Schnelles Denken funktioniert nur in bestens bekanntem Terrain. Ob Sie in einem Projekt schnell denken dürfen oder langsam denken müssen, entscheidet also die Bekanntheit beziehungsweise Neuartigkeit Ihres Projekts. Die Grundhaltung „Ich weiß es nicht“ sollte zuerst dazu führen, dass Sie herausfinden, wie bekannt oder unbekannt Ihr Projekt tatsächlich ist. Denn selbst, wenn ein Projekt für Sie als erfahrenen Projektleiter möglicherweise als Routine und Alltag erscheint, mag das noch lange nicht für den Rest der im Projekt involvierten Personen gelten. Sie wissen es eben nicht und deshalb sollten Sie es herausfinden. Die gute Nachricht lautet: dies dauert nur 15 Minuten. Die wenigsten Projekte sind tatsächlich neuartig. Herausfordernde Projekte sind somit für die meisten Menschen das Gegenteil des Vertrauten und Bekannten. Vertrautheit und Routine braucht schnelles Denken um verlässlich zu funktionieren. Im Unbekannten und Neuartigen führt schnelles Denken nahezu sicher zu Wahrnehmungsverzerrungen [5, S. 295 ff.]. Deshalb müssen wir in herausfordernden Projekten lernen, langsam zu denken. Eine Anleitung für langsames Denken in Projekten Langsames Denken ist kontra-intuitiv - es ist nicht das, was wir üblicherweise tun. Daher braucht es für langsames Denken eine bewusste Veränderung. Diese Veränderung bedeutet für jeden Projektmanager - und an diese Personengruppe sind die folgenden Abschnitte adressiert - zu allererst eine Arbeit an sich selbst. Diese Arbeit betrifft vier Ebenen: • Allgemein: Eine geeignete Grundhaltung • Vor einem Projekt: Die Vermessung der Neuartigkeit • Vor einem Meeting: Die Reflexion der eigenen Annahmen • In einem Meeting: Das gezielte brechen bekannter Muster In den folgenden Abschnitten werden diese vier Aspekte erörtert. Allgemein: „Ich weiß es nicht“ als Grundhaltung Es ist allzu menschlich, Dinge wissen zu wollen. Es fühlt sich für die meisten Menschen nicht gut an, etwas nicht zu wissen. Einen Zustand von Unwissenheit wollen wir möglichst rasch überwinden. Unwissenheit bedeutet Unsicherheit. Und zuzugeben, dass wir etwas nicht wissen und nicht sicher sind, wie etwas ausgeht, haben wir häufig verlernt. Zumindest vor anderen - manchmal sogar vor uns selbst. Die Gründe dafür sind mannigfaltig. Die Art, wie zahlreiche Bonus- und Karrieresysteme funktionieren, ist sicher einer davon. Denn Karriere machen häufig Personen, welche glaubhaft versichern, Dinge zu wissen. Doch Unwissenheit ist die natürliche Ausgangssituation in herausfordernden Projekten. „Ich weiß es nicht“ ist die Grundhaltung von allen Forschenden. Wer „Ich weiß es nicht“ denkt, wird weitere Fragen stellen, aufmerksam 44 WISSEN projektManagementaktuell | AUSGABE 4.2017 Abb. 1: Vermessung der Neuartigkeit eines Projekts (aus Sicht der Projektakteure) unser intuitives Verständnis durch selektive Wahrnehmung unbewusst zementieren, sollen Vorverständnis und Vorkenntnis gezielt als vorläufige Zustände eingestuft werden, welche es zu überwinden gilt. Am besten erfolgt dies explizit und schriftlich. Beispielsweise kann man kurz notieren, was man über eine Herausforderung „weiß“ (Spalte 1) und daneben, auf welchen Quellen/ Fakten dies gründet (Spalte 2). In der Regel zeigt dies sehr rasch, auf welch tönernen Füßen unser vermeintliches Wissen steht und warum es sich lohnt, weiter zu forschen. Wenn ein Projekt als neuartig vermessen wurde, dann sollten Sie als Projektmanager „langsames Denken im Projekt“ fördern. Dieses langsame Denken beginnt bei Ihnen selbst! Es erfordert Offenheit und Geduld. Die Prämisse der Offenheit und Geduld beinhaltet beispielsweise, dass Sie Planung und Organisation so lange zurückstellen, bis Sie mit den wesentlichen Projektakteuren gemeinsam gedacht haben (siehe folgenden Abschnitt). Unterdrücken Sie im Vorfeld dieser gemeinsamen Begegnung Ihren professionellen Impuls, Dinge vorzudenken und mögliche Lösungswege aufzuzeigen. Selbst wenn Sie hierbei aus bester Absicht und Selbstverpflichtung handeln („Ich muss es wissen“), so manifestie- Projekt eines Mineralölkonzerns zur Einführung eines Logistikportals (Personennamen geändert). Obwohl es einiges an Bekanntem gibt, bringt das Projekt doch Menschen zusammen, die in ihrem Arbeitsalltag „so“ nicht zusammenarbeiten. Das „so“ drückt die Neuartigkeit der Herausforderung aus. Wegen des „so“ braucht es langsames Denken im Projekt. Vor einem Meeting: Reflektieren Sie Ihre Annahmen Der Ausgangspunkt für langsames Denken ist Selbstreflexion. Gegen unser schnelles Denken - unseren natürlichen Betriebszustand - können wir uns nicht wehren. Im Vorfeld eines Projekts oder eines Meetings haben wir ganz natürlicherweise unsere berufs- und erfahrungsbedingten Antworten und Bewertungen im Kopf. Wichtig ist, dass wir uns klarmachen, wie unsere intuitiven Antworten und Bewertungen aussehen. Das Sich-Klarmachen der eigenen Annahmen reicht jedoch nicht aus. Die zweite notwendige Voraussetzung für langsames Denken besteht darin, dass wir unsere im Vorfeld identifizierten Annahmen bewusst als „Vorverständnis“ und „Vorkenntnis“ einstufen. Im Unterschied zu schnellem Denken, bei dem wir ren Sie doch nur Ihre ersten Bewertungen und schränken damit Ihre eigene Offenheit und die aller anderen Akteure wesentlich ein. Als Faustregel gilt: Je mehr Kraft und Zeit wir in einen Plan, ein Konzept, eine Präsentation oder ähnliches investieren, desto weniger offen sind wir für Veränderungen der „vorgedachten“ Inhalte. In einem Meeting: Brechen Sie bekannte Muster Je heterogener und interdisziplinärer eine Projektgruppe, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir von einem nicht geteilten (Vor-)Verständnis und einer nicht geteilten (Vor-)Kenntnis ausgehen können. Sicher haben Sie schon den Satz gehört: „Wir müssen aufpassen, dass kein Missverständnis entsteht.“ In interdisziplinären Projektmeetings ist die übliche Ausgangssituation jedoch nicht grundlegendes Verständnis, das sich eventuell falsch entwickelt. Die Ausgangssituation ist vielmehr ein bestehendes Missverständnis oder besser ein „Aneinander-Vorbei- Verständnis“. Ein Missverständnis muss sich nicht erst entwickeln; es ist der natürliche Zustand in einem interdisziplinären Meeting. Was wir entwickeln müssen, ist Verständnis! „Wir“ ist hierbei das Schlüsselwort. Daniel Kahneman hat dargelegt, dass der einzelne Mensch - jeder von uns - weitgehend blind gegenüber eigenen Wahrnehmungsverzerrungen ist. Demgegenüber hat er die These formuliert, dass eine heterogene Gruppe von Menschen das Potenzial hat, schnelles Denken besser zu erkennen und unerwünschte Effekte so zu verringern [1, S. 303 ff.]. An dieser Stelle setzen die Methoden des langsamen Denkens in Projekten an. Sie zielen immer auf einen interaktiven, mehrstufigen Dialog. Das Vorgehen umfasst die drei Phasen (A) Divergentes Denken, (B) Perspektivwechsel, (C) Konvergentes Denken (Abb. 2). Diese drei Phasen sind vergleichbar mit dem Aufbau von kreativen Denkprozessen [7, S. 10] beziehungsweise partizipativen Entscheidungsprozessen [8, S. 20]. Langsames Denken in Projekten ist aber nicht darauf beschränkt. Ein Projektmanager kann den Methodenkoffer des langsamen Denkens immer dann nutzen, wenn es wichtig ist, dass eine Projektentscheidung von allen Akteuren getragen wird. Dabei muss die Entscheidung nicht innerhalb der Gruppe getroffen werden. Die Entscheidung sollte aber auf den von der Gruppe geteilten Informationen basieren. Wie Sie langsames Denken am besten in einem WISSEN 45 projektManagementaktuell | AUSGABE 4.2017 Befragten ein - hier der Auftraggeber. Die Person, welche zuvörderst erreicht werden soll, nimmt die Rolle des Schreibenden ein - hier die Projektleiterin. Die Rolle des Fragenden kann jede Person übernehmen, auch eine unbeteiligte. Im Beispiel übernahmen die beiden Mitglieder des Projektteams das Fragen. Hierzu erhielten diese die zum Project Canvas gehörenden Fragenkarten. Das Kartenset umfasst 30 Fragen, die zur Spezifikation jedes Projekts benutzt werden können. Um keine Antworten vorwegzunehmen (Grundsatz 1), handelt es sich um offene Fragen. Die Fragen werden nacheinander gestellt, beginnend mit dem „Zweck“ des Projekts. Der Befragte beantwortet die Fragen möglichst präzise. Der Schreibende hört aufmerksam zu, notiert das Gehörte auf Haftnotizen und positioniert diese auf dem Project Canvas. Um eine Ablenkung des Antwortenden und eine Abstimmung von Antworten zu vermeiden (Grundsatz 2), wurde der Project Canvas so positioniert, dass der Auftraggeber die Notizen der Projektleiterin nicht sehen konnte. Um eine hohe Informationsqualität zu erreichen, soll der Befragte sich ausschließlich auf seine Antworten konzentrieren, ohne Berücksichtigung der Tatsache, wie diese aufgenommen werden. Daher gibt es in dieser Phase auch keinerlei Rückfragen oder Diskussionen (Grundsatz 3). Die Phase ist abgeschlossen, wenn alle Fragen gestellt und alle Antworten notiert sind. Abbildung 3 veranschaulicht die Aufteilung der Rollen im „Thinkers Trio“. Phase 1: Divergentes Denken In dieser Phase wird angestrebt, eine breitgefächerte Basis an Informationen zu sammeln. Es sollen Informationen von allen maßgeblichen Disziplinen und Ebenen erhoben werden. Die Informationen dürfen in dieser Phase durchaus im Widerspruch stehen und sie tun dies üblicherweise auch. Letztlich bringen Sie als Projektmanager in dieser Phase die tatsächlich bestehende Informationsvielfalt ans Tageslicht, bevor Sie Ihnen zu einem späteren Zeitpunkt auf die Füße fällt. Die erste Phase will diverse Annahmen, Kenntnisse und Verständnisse der Projektakteure in ihrer Vielfalt transparent machen. Denn als Projektmanager können Sie nur Akzeptanz schaffen, wenn zuvor die Diskrepanz verstanden wurde. Deshalb gelten in Phase 1 drei wichtige Grundsätze: 1. keine Vorwegnahme von Antworten, 2. keine Abstimmung von Antworten und 3. keine Diskussion. Praxisbeispiel: Hauptziel des Meetings war die Klärung des Projektverständnisses zwischen Auftraggeber und Projektleiterin. Außer diesen beiden Personen nahmen an dem Meeting zwei weitere Mitglieder des Projektteams teil: je eine Person aus IT- und Fachabteilung. Insgesamt also vier Personen. Zur Informationserhebung wurde das Dialogformat „Thinkers Trio“ genutzt. Es umfasst drei Rollen: Fragender, Befragter (= Antwortender) und Schreibender (Abb. 3). Die Person, deren Wissen es zu erheben gilt, nimmt die Rolle des Meeting organisieren, ist abhängig von der konkreten Zielsetzung Ihres Meetings und den entsprechend eingesetzten PM-Techniken (siehe „Ein praktisches Anwendungsbeispiel“). Grundsätzlich können Sie jede PM-Technik schnell oder langsam denkend einsetzen. In dem Buch „Project Design“ [9] wird beispielsweise beschrieben, wie so bekannte PM-Techniken wie RACI oder Stakeholder Maps im Unterschied zu den bekannten Vorgehensweisen langsam denkend eingesetzt werden können. Abbildung 2 veranschaulicht das Basismodell des Vorgehens. Im Folgenden wird dieses Vorgehen sowohl in seinen Grundsätzen als auch anhand eines Projektbeispiels erörtert. Ein praktisches Anwendungsbeispiel Das Beispiel betrifft ein Meeting zur Definition eines Projekts. Bei dem Projekt handelt es sich um die Einführung des bereits erwähnten „Logistikportals“. In den vorangegangenen Monaten gab es über ein halbes Dutzend Treffen zwischen den designierten Projektmitgliedern. Es wurden Excellisten mit Anforderungen ausgetauscht und es herrschte geschäftiger E-Mail- Verkehr. Trotzdem bestanden auf Seiten der involvierten Parteien - operativ wie strategisch, fachlich wie technisch - unterschiedliche Auffassungen, was das Projekt tatsächlich ist und was es erreichen soll. Daher wurde eine neue Herangehensweise beschlossen. Mittels des „Project Canvas“ [4] sollte das Projekt gemeinsam definiert werden. Abb. 2: Die drei Phasen von „langsamem Denken in einem Projekt“ (in Anlehnung an [8, S. 20]) 46 WISSEN projektManagementaktuell | AUSGABE 4.2017 unter anderem an, dass sie noch nicht verstanden habe, wer denn tatsächlich der „Empfänger“ der Projektleistung sei. Sie wolle noch ergänzen, dass es auch „interne Zielgruppen“ des Logistikportals gäbe. Der Auftraggeber hatte in seinen Antworten zuvor ausschließlich das „Netzwerk externer Händler“ als Adressaten des Projekts genannt. Während der Ausführungen der Projektleiterin hörten die anderen Teilnehmenden des Workshops - insbesondere der zuvor befragte Auftraggeber - schweigend zu. Nachdem die Projektleiterin mit ihren Ausführungen geschlossen hatte, wurden die Rollen nochmals getauscht. Hierbei konnte der Auftraggeber anmerken, dass er das Argument der Projektleiterin bezüglich der internen Zielgruppen verstanden habe und teile. Durch den abermaligen Perspektivwechsel wurde also ein wichtiges „Ausgangsmissverständnis“ aufgedeckt und ein einvernehmliches Verständnis der Projektkunden erreicht. Dies ist nur ein Beispiel für mehrere anfängliche Lücken im gegenseitigen Verständnis, die in der zweiten Phase identifiziert werden konnten. Phase 3: Konvergentes Denken Ein Perspektivwechsel fördert nicht nur neue Informationen (Divergenz), er schafft auch ein gewisses Maß an Einsichten und gegenseitigem Verständnis (Konvergenz). In Phase 2 erfolgt dies noch implizit und etwas verwaschen. In Phase 3 wollen wir Konvergenz auf den Punkt bringen und explizit dokumentieren. Die Phase des Perspektivwechsels ist vermutlich die schwierigste im gesamten Prozess des langsamen Denkens. Erfahrungsgemäß fällt es Führungskräften und auch Consultants besonders schwer, das so oft geübte Muster des „Ich muss es wissen“ zu überwinden. Stark ist der Drang zu gradlinigen Schlüssen und unbequem ist es, sich mit der Vielfalt von Wahrnehmungen zu beschäftigen. Genau dies ist aber eines der Erfolgsprinzipien. Praxisbeispiel: Nachdem alle Antworten notiert waren, erläuterte die Projektleiterin ihre Notizen anhand des Project Canvas. Sie wendete dabei konsequent das oben beschriebene Gesprächsmuster an. Hierbei bemerkte die Projektleiterin Phase 2: Perspektivwechsel Jeder professionelle Austausch benötigt eine Schnittmenge an Informationen. Haben zwei Menschen unterschiedliche Perspektiven und abhängig von ihrem Standpunkt völlig überschneidungsfreie Informationen, so führt dies unweigerlich zu einem unlösbaren Konflikt. So lange sich keiner der beiden Akteure (gedanklich) bewegt, ist keine Verständigung möglich. Bei einem Perspektivwechsel ändern wir daher bewusst die Rollen innerhalb des Kommunikationsprozesses. Eine Person, welche zuvor befragt wurde, wird nun zum Informationsempfänger. Eine Person, welche zuvor Informationen empfangen hat, wird zum Informationssender. Der Informationssender folgt dabei dem Gesprächsmuster: 1. „Ich habe verstanden, …“ 2. „Mir ist noch unklar, …“ 3. „Ich möchte ergänzen, …“ Dieses Gesprächsmuster dient dazu, einerseits den Perspektivwechsel zu verdeutlichen und andererseits die Aussagen des Antwortenden in Phase 1 nicht anzugreifen oder anzuzweifeln. Das Gesprächsmuster hilft, die Existenz unterschiedlicher Perspektiven zu erkennen und wertzuschätzen. In der zweiten Phase gelten die gleichen Grundsätze wie in der ersten Phase, insbesondere keine Abstimmung und keine Diskussion! Der Perspektivwechsel kann und sollte mehrmals wiederholt werden. Abbildung 4 veranschaulicht die zweite Phase des Dialogprozesses. Abb. 3: Dialogformat „Thinkers Trio“ (Phase 1) Abb. 4: Dialogformat „Thinkers Trio“ (Phase 2) WISSEN 47 projektManagementaktuell | AUSGABE 4.2017 Autoren Prof. Dr. Frank Habermann ist Professor für Betriebswirtschaft an der HWR Berlin und Co-Initiator der Projektgemeinschaft „Over The Fence“. Nach seiner Promotion am Institut für Wirtschaftsinformatik im Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz war er Gastprofessor an der Michael Smurfit Business School in Irland sowie Mitglied der Geschäftsleitung der IMC AG. Als Berater und Manager war Frank Habermann für mehr als 50 Projekte in über 20 Ländern verantwortlich. Sein jüngstes Buch „Project Design - Thinking Tools for Visually Shaping New Ventures“ erweitert den Ansatz des „Project Canvas“ um 25 innovative Denkwerkzeuge für das Projektmanagement. Karen Schmidt ist Beraterin, Autorin des Buches „Project Design - Thinking Tools for Visually Shaping New Ventures“ und Co-Initiatorin der Projektgemeinschaft „Over the Fence“. Sie unterstützt Menschen in Projekten und C-Level Executives große Herausforderungen zu meistern. In den letzten 20 Jahren hat sie über 40 komplexe Projekte aus unterschiedlichen Management- und Beratungsrollen heraus geführt oder begleitet. Ihre Expertise verbindet Organisationsentwicklung, Projektdesign, Projektkommunikation sowie Führungs- und Zusammenarbeitskultur. Ihre Mission ist es, Menschen dabei zu unterstützen, mit Courage, Vertrauen und Kreativität gemeinsam Großes zu bewegen. Anschrift: Over the Fence, Winsstraße 65, 10405 Berlin, Tel.: 030/ 20 64-83 68, E-Mail: Karen@overthefence.com.de Fazit Menschen neigen zu „schnellem Denken“. Dies birgt das Risiko von unerwünschten Effekten, insbesondere in anspruchsvollen Projekten. Daher sollten wir lernen, „langsam zu denken“. Wie dies in der Praxis geschehen kann, beschreibt dieser Artikel. Freie Downloads des Project Canvas und weiterer Werkzeuge zum langsamen Denken sowie eine „Werkstatt für langsames Denken in Projekten“ bietet die Open Source-Initiative „Over the Fence“ (http: / / overthefence.com.de). Ferner kann dort das „Manifest für langsames Denken in Projekten“ unterzeichnet werden.  Literatur [1] Kahneman, D.: Schnelles Denken, Langsames Denken. 7. Auflage, München 2014 [2] March, J./ Simon, H.: Organizations. 2. Auflage, Cambridge 1958 [3] Scharmer, O.: Theory U. Leading from the Future as it Emerges. San Francisco 2009 [4] Habermann, F.: Der Project Canvas - Projekte interdisziplinär definieren. In: projekt Management aktuell, 27, 1, 2016, S. 36-42 [5] McAfee, A.: The Future of Decision Making: Less Intuition, More Evidence. In: Harvard Business Review, Januar 2010, https: / / hbr. org/ 2010/ 01/ the-future-of-decision-making [6] Boland, R./ Collopy, F.: Design Matters in Management. In: Boland, R./ Collopy, F. (Hrsg.): Managing as Designing. Stanford 2004, S. 3-18 [7] Gray, D. et al.: Gamestorming - A Playbook for Innovators, Rulebreakers, and Changemakers. Sebastopol 2010 [8] Kaner, S. et al.: Facilitator’s Guide to Participatory Decision-Making. Hoboken 2014 [9] Habermann, F./ Schmidt, K.: Project Design - Visual Tools for Shaping New Ventures. Berlin 2017 Schlagwörter Agilität, Design Thinking, Entscheidungsfindung, Interdisziplinäre Zusammenarbeit, Project Canvas, Projektdefinition Kompetenzelemente der ICB 4.0 3.01 Design Hierzu heben wir die Regeln der vorherigen beiden Phasen auf. Nun streben wir nach gegenseitiger Abstimmung. Eine konstruktive Diskussion ist erlaubt und gewünscht. Konstruktiv bedeutet an dieser Stelle, dass wir Eingrenzung und Einvernehmen anstreben. Konfrontation und Rechtfertigung möchten wir indessen so weit wie möglich vermeiden. Als universelle Technik hilft hierbei die Verwendung des Gesprächsformats „Ja, und ...“. Im Unterschied zum üblichen „Ja, aber ...“ baut „Ja, und ...“ auf den Argumenten anderer Personen auf. Es wirkt konstruktiv und gestaltend. Und das ist es schließlich, was wir mit einem Projekt anstreben. Die Phase der Konvergenz ist die vermutlich einfachste im gesamten Vorgehen. Zum einen ist das Zusammenführen von Informationen und das Herbeiführen von Entscheidungen genau das, was Manager und Führungskräfte am meisten geübt haben - es ist ihr traditionelles Handwerk. Zum anderen ist diese letzte Stufe die natürliche Fortsetzung der beiden vorherigen. Als solche profitiert sie von der „Magie der Konversation“, die sich regelmäßig durch den Rhythmus des Vorgehens einstellt. Denn langsames Denken führt ab einem gewissen Punkt überraschend schnell zu Ergebnissen. Aus dem explorativen Vorgehen der ersten beiden Phasen bildet sich Erkenntnis; zuweilen dann, wenn sie gar nicht erwartet wird. Praxisbeispiel: Die vier Teilnehmenden „durften“ nach den streng reglementierten ersten beiden Phasen nun wieder in gewohntem Arbeitsstil den Project Canvas fertigstellen. Der Unterschied zu einem direkten „freien“ Bearbeiten des Project Canvas bestand darin, dass durch das mit dem Thinkers Trio erzwungene langsame Denken jetzt allen Seiten die verschiedenen Perspektiven bereits bekannt waren. Alle notwendigen Informationen über das Projekt waren im Raum - und dies ohne negative Emotionen oder aufgeregte Diskussionen. Entsprechend „unaufgeregt“ und „auf Augenhöhe“ verlief auch das weitere Meeting. Die Teilnehmenden traten gemeinsam vor den Project Canvas und modifizierten, strukturierten und komplettierten die dortigen Informationen, bis das Ergebnis für alle Beteiligten „gut genug“ war. Diese Erstellung des finalen Project Canvas erfolgte in kurzer Zeit, in weniger als 45 Minuten. Die Akteure sprachen diesen unerwarteten raschen Fortschritt auch aktiv an. So meinte der Auftraggeber, dass „jetzt wirklich ein Durchbruch erreicht“ wurde und die Projektleiterin stellte fest, dass wir „noch nie so einen produktiven Workshop hatten“.