PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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UVK Verlag Tübingen
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2018
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GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.Ungewissheit in Projekten – neue Wege der Bewältigung
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Fritz Böhle
Eckhard Heidling
Astrid Kuhlmey
Judith Neumer
Projekte sind durch eine „doppelte Ungewissheit“ gekennzeichnet. Sie besagt, dass bei der Planung nicht vorhersehbare Ereignisse auftreten und zugleich bei der Bewältigung solcher Ereignisse auch Ungewissheit besteht. Um bei und mit dieser Ungewissheit Ziele zu erreichen und Probleme zu lösen, ist eine Erweiterung des planmäßig objektivierenden Handelns durch ein subjektivierendes Handeln notwendig. Am Beispiel der Improvisation im Jazz wird dies veranschaulicht und auf der Grundlage von empirischen Untersuchungen der Projektarbeit belegt. Abschließend wird auf Beratungsansätze verwiesen, durch die Kompetenzen für einen solchen Umgang mit Ungewissheit entwickelt werden können. Der Beitrag beruht auf eigenen Forschungen der Autoren sowie einer umfangreichen und disziplinübergreifenden Auswertung der wissenschaftlichen Diskussion zum Umgang mit Ungewissheit, die in einer Expertise für die GPM dokumentiert ist.
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04 UNGEWISSHEIT IN PROJEKTEN projektManagementaktuell | AUSGABE 1.2018 Management bezieht sich nach dem vorherrschenden Verständnis auf Planung, Steuerung und Kontrolle. Auch das Management von Projekten orientiert sich bisher hieran. In Projekten lässt sich Ungewissheit jedoch nicht beseitigen. Es ist dabei notwendig, mit Ungewissheit Ziele zu erreichen und Probleme zu lösen. Das planmäßig-objektivierende Handeln muss hierfür erweitert werden. Es geraten Kompetenzen und Handlungsweisen in den Blick, die bisher in Organisationen und Arbeit weitgehend ausgegrenzt werden. 1 Grenzen von Planung in Projekten Planung, Steuerung und Kontrolle sind nach dem vorherrschenden Verständnis grundlegende Prinzipien des Managements. Damit soll Ungewissheit weitmöglichst überwunden und beseitigt werden. Auch das Management von Projekten orientiert sich hieran. Unvorhersehbare Ereignisse im Projektverlauf werden meist auf eine unzureichende Projektplanung, individuelles Fehlverhalten oder auf „außergewöhnliche“ Ereignisse zurückgeführt. Ohne Zweifel ist ein Projektmanagement zur Planung, Steuerung und Kontrolle von Projekten notwendig. Bei der (Weiter-)Entwicklung hierfür geeigneter Methoden und Tools wurden in diesem Bereich vor allem durch Initiativen und Aktivitäten der GPM erhebliche Erfolge erzielt. Doch zugleich wird es immer dringlicher, Grenzen der Planung und Ungewissheit nicht mehr nur als Defizit, sondern als substanzielles Element von Projekten zu betrachten, die sich durch eine Optimierung der Planung nicht beseitigen lassen und die darüber hinaus neue Chancen eröffnen können. Vor allem im Rahmen von IT-Projekten wurden in den vergangenen Jahren agile Ansätze des Projektmanagements entwickelt. Sie werden nun auch auf das Management insgesamt angewendet [1]. Grundlegende Prinzipien des agilen Managements sind die Dezentralisierung von Entscheidungen und die Flexibilisierung der Planung. Damit geraten Grenzen der Planung und insbesondere die Rolle der Mitarbeitenden bei ihrer Bewältigung in den Blick. Bisher fehlt jedoch eine systematische Betrachtung der Ursachen von Ungewissheiten in Projekten und der Handlungsweisen, um „mit“ Ungewissheit erfolgreich Ziele zu erreichen und Probleme zu lösen. Auch von der GPM wurde, vor allem im Rahmen der D-A-CH-Forschungswerkstätten, die Auseinandersetzung mit Grenzen der Planung aufgegriffen. Oft werden Ursachen von Ungewissheiten vor allem im „Human Factor“ und in Projekten als „sozialem System“ gesehen. Technische Aspekte und Fragestellungen gelten hingegen als berechenbar und beherrschbar [2]. Dies ist jedoch ebenso ein Irrtum wie die Annahme, dass die Lösung von Problemen und die Erreichung von Zielen nur dann am besten gelingen, wenn die Projektleitung und die Mitarbeitenden ausschließlich planmäßig-rational handeln und wissenschaftsbasiertes Wissen nutzen. Auf Basis der Ergebnisse einer umfassenden Expertise für die GPM [3] wird dies im Folgenden begründet. Im Mittelpunkt steht dabei die Auseinandersetzung mit Ursachen von Ungewissheit und Handeln mit Ungewissheit. 2 „Unknown Unknowns“ und „doppelte“ Ungewissheit Untersuchungen im Bereich industrieller, weltweit angelegter Großprojekte zeigen, dass es vielfach zu Kosten- und Terminüberschreitungen kommt. Von 318 untersuchten Projekten verfehlten 65 Prozent die geplanten Projektziele. Festgestellt wurden eine Überziehung der Kosten um durchschnittlich 40 Prozent und zeitliche Verzögerungen im Projektverlauf um 28 Prozent. Die Fertigungsanlagen der schließlich beendeten Projekte erreichten im ersten Jahr ihrer Produktion nur durchschnittlich 60 Prozent der geplanten Ausbringungsmengen [4]. Projekte sind zeitlich befristet, sie verfolgen Ziele und finden unter Bedingungen statt, die variieren oder/ und gänzlich neuartig sind. Hierbei unterscheiden sich Projekte grundsätzlich vom vorherrschenden Verständnis von Organisationen, das von Kontinuität und Stabilität geprägt ist - Ungewissheit in Projekten - neue Wege der Bewältigung Autoren: Fritz Böhle, Eckhard Heidling, Astrid Kuhlmey, Judith Neumer >> Für eilige Leser Projekte sind durch eine „doppelte Ungewissheit“ gekennzeichnet. Sie besagt, dass bei der Planung nicht vorhersehbare Ereignisse auftreten und zugleich bei der Bewältigung solcher Ereignisse auch Ungewissheit besteht. Um bei und mit dieser Ungewissheit Ziele zu erreichen und Probleme zu lösen, ist eine Erweiterung des planmäßig objektivierenden Handelns durch ein subjektivierendes Handeln notwendig. Am Beispiel der Improvisation im Jazz wird dies veranschaulicht und auf der Grundlage von empirischen Untersuchungen der Projektarbeit belegt. Abschließend wird auf Beratungsansätze verwiesen, durch die Kompetenzen für einen solchen Umgang mit Ungewissheit entwickelt werden können. Der Beitrag beruht auf eigenen Forschungen der Autoren sowie einer umfangreichen und disziplinübergreifenden Auswertung der wissenschaftlichen Diskussion zum Umgang mit Ungewissheit, die in einer Expertise für die GPM dokumentiert ist. UNGEWISSHEIT IN PROJEKTEN 05 projektManagementaktuell | AUSGABE 1.2018 so wie dies das Modell der bürokratischen Organisation prototypisch repräsentiert. Die Herstellung von Sicherheit über die Definition und Stabilisierung von Zielen, Verfahren, Ressourcen, Verlauf, Anwendungs- und Umgebungsbedingungen stößt bei Projekten grundsätzlich auf weit größere Schwierigkeiten als bei stabilen und kontinuierlich verlaufenden Prozessen. Der Versuch, Ungewissheit in Projekten zu beseitigen, ist ein Unterfangen, das leicht einem Kampf gegen die Hydra gleicht, der nach jedem abgeschlagenen Kopf ein neuer an anderer Stelle nachwächst. Wichtig ist beim Blick auf Ungewissheit die Unterscheidung zwischen „Known Unknowns“ und „Unknown Unknowns“ [5]. Ersteres bezieht sich auf die Bearbeitung von Risiken und das Risikomanagement. Ziel ist, nicht vollständig vorhersehbare und kontrollierbare Ereignisse gleichwohl weitmöglichst zu beschreiben und die Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens zu berechnen. Auf dieser Grundlage erscheint es dann auch möglich, den Umgang mit Risiken zu planen und ein entsprechendes Risikomanagement zu entwickeln. Demgegenüber besteht bei „Unknown Unknowns“ Ungewissheit sowohl über die konkreten Erscheinungsformen als auch die jeweils situativen Bedingungen (Zeit, Ort, Umfang) ihres Auftretens. Risiken und das Risikomanagement lassen sich somit weitgehend dem klassischen Management mit Planung und Kontrolle zuordnen, wohingegen die „Unknown Unknowns“ die eigentliche Ungewissheit benennen und ein weitgehend „blinder Fleck“ im Projektmanagement sowie auch Management insgesamt sind. Nach vorliegenden Untersuchungen sind die am häufigsten auftretenden Ungewissheiten in Projekten nicht durch menschliche oder soziale Einflüsse verursacht, sondern technisch bedingt. Dies umfasst etwa veränderte Materialeigenschaften bei unterschiedlichen Umweltbedingungen. Weitere Quellen von Ungewissheit sind die immer stärker vernetzten organisatorischen Zusammenhänge bei der Herstellung von Produkten und Dienstleistungen. Ungewissheiten entstehen bei der Verzögerung der Lieferungen, Pannen im Netzwerk, Qualitätsmängeln und auch bei der unterschiedlichen „Deutung“ technischer Parameter im Rahmen unterschiedlicher professioneller wie auch nationaler Sichtweisen. Insgesamt bestehen Ungewissheiten in der Technik und dem Material, der Organisation, der Vernetzung, der Beziehung zu Kunden, der Umwelt und den beteiligten Akteuren. Solche Ungewissheiten treten nicht nur am Anfang bei der Initiierung und Definition von Projektzielen auf, sondern in sämtlichen Phasen der Projektabwicklung. Ein grundlegendes Merkmal der hier skizzierten Sicht auf „Unknown Unknowns“ ist der Charakter der „doppelten Ungewissheit“: Grenzen der Planung zeigen sich nicht allein dadurch, dass unerwartete Ereignisse auftreten, sie manifestieren sich auch in einer Ungewissheit bei der konkreten Bearbeitung solcher Ereignisse. Es fehlt an Wissen und Informationen oder/ und es muss unter Zeitdruck gehandelt werden, sodass keine ausführliche Analyse und Auswertung vorhandener Informationen möglich ist. 3 Erweiterung planmäßigrationalen Handelns Bisher ist insbesondere in der Arbeitswelt die Vorstellung leitend, dass für die Erreichung von Zielen und die Lösung von Problemen ein planmäßig-rationales Handeln notwendig und effektiv ist. Ein solches Handeln beruht darauf, dass „vor“ dem praktischen Handeln darüber entschieden wird, welche Ziele erreicht werden sollen und in welcher Weise dies realisiert wird. Vor dem praktischen Handlungsvollzug ist es dabei notwendig, möglichst umfassende Informationen über die jeweiligen Gegebenheiten, Ressourcen und Einflüsse zu haben. Auf dieser Grundlage ist Ungewissheit eine Gefährdung und Störung für erfolgreiches Handeln und führt zu Kontrollverlust und damit dem Verlust der notwendigen Sicherheit. Handlungsfähigkeit geht verloren, dies kann bis hin zu einem Zustand der Ohnmacht führen. Bereits in den 1950er-Jahren wurde jedoch in der betriebswirtschaftlichen Organisationslehre festgestellt, dass es in der Praxis oft nicht möglich ist, vor dem praktischen Handlungsvollzug umfassend die möglichen Ziele und Wege zu deren Erreichung zu eruieren und abzuwägen. Auf diesen Sachverhalt bezieht sich das Modell der „Bounded Rationality“ [6]. Dieses Konzept zielt in seinem Kern darauf ab, trotz unzureichender Information und unter Zeitdruck zu einer rationalen Entscheidung „vor“ dem praktischen Handlungsvollzug zu gelangen. So sollen individuell auftretende Informationsdefizite durch die Beteiligung mehrerer Akteure und der Organisation insgesamt weitgehend überwunden werden. Auch bei einem dezentralen Ansatz von Entscheidungen und Planung wird - mehr oder weniger stillschweigend - unterstellt, dass dabei die Mitarbeitenden nach dem Modell planmäßigrationalen Handelns vorgehen. Sofern aufgrund hohen Zeitdrucks und akuter Gefahren eine Analyse der Situation und rationale Entscheidungsfindung nicht mehr möglich sind, wird davon ausgegangen, dass nur durch eingeübte Routinen ein verlässliches Handeln garantiert wird [7]. Solche Routinen können sicherlich Handlungssicherheit gewährleisten, doch gerade in neuartigen und bisher noch nicht bekannten Situationen erweisen sie sich als zu starr und zu unflexibel. In der neueren Forschung finden sich demgegenüber unterschiedliche Ansätze, die bei neuartigen und unbekannten sowie unsicheren Situationen auf den Wert personaler Kompetenzen wie Achtsamkeit, Intuition oder auch Bauchgefühl verweisen [8]. Des Weiteren finden sich Forschungsansätze, in denen unsichere Situationen durch „situatives Handeln“ bewältigt werden, dem keine Planung vorausgeht [9]. Maßgeblich sind hier die Reaktion auf Umwelteinflüsse im praktischen Handlungsvollzug und ein entsprechend flexibles Handeln. Diese Forschungsansätze verweisen auf ein erweitertes Spektrum menschlicher Fähigkeiten und Möglichkeiten des Handelns. Sie werden mit dem Modell des subjektivierenden Handelns systematisch verbunden und weitergeführt [10]. Damit wird deutlich, dass ein situatives Handeln nur möglich ist, wenn eine besondere Wahrnehmung und Wahrnehmungsfähigkeit entwickelt werden. Des Weiteren wird damit das planmäßig-rationale bzw. objektivierende Handeln keineswegs ersetzt; es wird vielmehr durch das subjektivierende Handeln ergänzt und zugleich auf das eingeschränkt, wofür es sich in besonderer Weise eignet. Am Beispiel der Improvisation in der Musik lässt sich anschaulich demonstrieren, wie dies erfolgt und welche Besonderheiten das subjektivierende Handeln aufweist. 4 Improvisation durch objektivierendes und subjektivierendes Handeln Improvisation bezieht sich im allgemeinen Sprachgebrauch auf unerwartetes, unvorbereitetes und unvorhergesehenes Handeln. In der Arbeitswelt erfährt die Improvisation bisher keine besondere Wertschätzung - eher im Gegenteil: Improvisation wird gleichgesetzt mit Unprofessionalität und einem „Durchwursteln“: Man improvisiert oder muss improvisieren, weil man schlecht vorbereitet ist und/ oder handeln muss, 06 UNGEWISSHEIT IN PROJEKTEN projektManagementaktuell | AUSGABE 1.2018 obwohl es besser wäre, erst noch mehr Informationen zu beschaffen, zu reflektieren und dann zu entscheiden. Doch in der Musik, speziell im Jazz, genießt die Improvisation eine hohe Wertschätzung und gilt als besondere „Kunst“. Dabei entsteht für den Zuhörer oft der Eindruck, dass die Musiker bei der Improvisation rein intuitiv und „aus dem Bauch heraus“ spielen. Doch dies ist ein Irrtum. Die Improvisation beruht auf einem subtilen Zusammenspiel zwischen einem planmäßig-objektivierenden und einem subjektivierenden Handeln. 4.1 Objektivierendes Handeln - theoretische Grundlagen der Improvisation Die musikalische Improvisation ist im Unterschied zur Komposition nicht durch Noten festgelegt. Zugleich ist sie jedoch keineswegs völlig frei. Die Musiker orientieren sich bei der Improvisation entweder an der Melodie und umspielen sie, oder sie stützen sich auf das harmonische Gerüst eines Musikstücks. Letzteres ist für den Hörer nicht in gleicher Weise wie die Melodie wahrnehmbar und bildet gewissermaßen eine theoretische Grundlage des musikalischen Verlaufs. Im Unterschied zur Orientierung an der Melodie eröffnet die Orientierung am harmonischen Gerüst einen weit größeren Spielraum bei der Improvisation. Die Musiker sind hier bei der „Erfindung“ neuer „Tonfolgen“ nicht (mehr) durch die vorgegebene Melodie gebunden und müssen sich nur an den durch die Harmonie vorgegebenen „Tonraum“ halten. Sie brauchen hierfür jedoch Kenntnisse, wie sie beim Komponieren eines Musikstücks erforderlich sind. Praktisches Können erfordert solchermaßen theoretisches und objektivierbares Wissen. Die Harmonien sind durch die Komposition vorgegeben und sie sind in der Regel - ebenso wie die Melodie - durch Noten und Symbole aufgeschrieben bzw. notierbar. Des Weiteren lassen sich den Harmonien auch jeweils bestimmte Töne und Tonfolgen (Patterns) zuordnen, aus denen die Musiker auswählen können. Die Kenntnis der Harmonien und der musikalischen Struktur ist eine wichtige Grundlage des Improvisierens, hierdurch entsteht jedoch noch keine „Musik“. In Lehrbüchern zur musikalischen Improvisation werden zumeist nur die objektivierbaren Grundlagen der Improvisation dargestellt. Alles Weitere wird dem „Talent“ und der „Eignung“ der Musiker überlassen. Doch auch diese „andere“ Seite der Improvisation lässt sich genauer beschreiben. Es ist ein subjektivierendes Handeln, und das ist erlern- und trainierbar. 4.2 Subjektivierendes Handeln - besonderes Vorgehen und Wahrnehmen Das subjektivierende Handeln weist vier Merkmale auf, wodurch es sich gegenüber dem objektivierenden, planmäßigen Handeln unterscheidet. Bei der musikalischen Improvisation zeigt sich dies wie folgt (Abb. 1): • Explorativ-entdeckendes Vorgehen: Im Unterschied zu dem Grundsatz „erst denken/ planen, dann handeln“ ist es bei der musikalischen Improvisation notwendig, ohne vorhergehende Festlegung zu handeln und dies ohne Unterbrechungen weiterzuführen. Es muss daher jeweils im „Spiel“ entschieden werden, wie es weitergeht. Grundlegend hierfür ist eine Verbindung von Aktion und Reaktion, indem nicht nur Töne hervorgebracht werden, sondern es wird auch auf das Hervorgebrachte unmittelbar reagiert. Jeder Ton wird somit zu einem Impuls für die Weiterführung. Treffend antwortete hier bspw. der Musiker Miles Davis auf die Frage, ob es einen falschen Ton beim Improvisieren gibt: „Das hängt vom jeweils nächsten Ton ab.“ • Sinnliche Wahrnehmung und Gespür: Um auf Töne zu reagieren und sie als Impuls für das Weiterspielen wahrzunehmen, ist es nicht ausreichend, nur ihre Stellung im Tonsystem (z. B. ein Ton a mit einer bestimmten Frequenz) zu kennen. Es muss vielmehr auch die Klangfarbe eines Tons, die Phrasierung und die Rhythmisierung einer Tonfolge erfasst werden. Hierzu ist ein besonderes musikalisches Gespür erforderlich. Mit einem solchen musikalischen Gespür wird auch die immanente „Logik“ eines musikalischen Ablaufs erkannt und lässt sich weiterführen. • Reflection in action: Beim Improvisieren kann der musikalische Verlauf nicht unterbrochen und darüber reflektiert werden, was gespielt wurde und in welcher Weise dies weitergeführt werden soll. Zugleich si das Improvisieren aber keineswegs ein bewusstloses Tun oder beruht nur auf Gefühl und sinnlicher Wahrnehmung. Erforderlich sind vielmehr ein waches „Bei-der-Sache-Sein“ und ein das praktische Handeln begleitendes Denken. Damit verbinden sich auch assoziativ-bildhafte Vorstellungen. Des Weiteren entsteht oft der Eindruck - wie bspw. beim Klavierspiel -, dass nicht der Kopf, sondern die Hände und die Finger „denken“. Die Hände und die Finger agieren und reagieren, auch ohne dass dies voll bewusstseinsfähig erfasst und reguliert wird, wobei es sich jedoch nicht lediglich um routinierte und quasi mechanisch vollzogene Bewegungen handelt. Leitend ist vielmehr ein besonderes implizites Wissen. • Persönliche Beziehung: Bei der Improvisation muss man sich auf das musikalische Geschehen „einlassen“. Die Musiker und ihre Instrumente bilden eine Einheit und es erfolgt eine Kommunikation „ohne Worte“ - mit den anderen Musikern, mit dem eigenen Instrument und dem musikalischen Geschehen insgesamt. Abb. 1: Subjektivierendes Handeln assoziativ-bildhaftes Denken spürende Wahrnehmung Nähe/ Einheit/ persönliche Beziehung dialogisch-exploratives Vorgehen UNGEWISSHEIT IN PROJEKTEN 07 projektManagementaktuell | AUSGABE 1.2018 4.3 Subjektivierendes Handeln bei der Projektarbeit Wie sich am Beispiel der Musik zeigt, kann Handlungsfähigkeit nur durch das Zusammenspiel von objektivierendem und subjektivierendem Handeln bei Ungewissheit und Unvorhersehbarkeiten aufrechterhalten und entwickelt werden. Im Arbeitshandeln selbst entsteht eine neue Form der Sicherheit jenseits von Planung und Kontrolle. Für das Projektmanagement und die Projektarbeit heißt dies zum einen, Planung und Vorgaben nicht nur auf konkrete Abläufe und Vorgehensweisen zu richten, sondern primär auf grundlegende Rahmenbedingungen, Prinzipien und Methoden zu konzentrieren. So geht es bspw. bei der Definition von Zielen nicht primär um die präzise Festlegung eines Ergebnisses, sondern eher um die Benennung eines Problems, das gelöst werden soll, sowie die Entwicklung von Kriterien für einen erfolgreichen Abschluss. Zum anderen gilt es, innerhalb dieses vorgegebenen Rahmens das subjektivierende Handeln sowohl bei der Projektleitung als auch in der konkreten Projektarbeit zuzulassen und zu fördern. Wie empirische Untersuchungen zeigen, finden sich hierfür in der Praxis bereits vielfach Beispiele. Sie werden jedoch bisher überwiegend informell und nicht systematisch praktiziert. Zur Illustration nun einige Beispiele [11]. • Dialogisch-entdeckendes Vorgehen: Kennzeichnend für ein dialogisch-entdeckendes Vorgehen ist der kontextgebundene Einsatz formaler Instrumente, verknüpft mit einem subjektivierenden Vorgehen. „Man kann bestenfalls Meilensteine setzen, die vielen kleinen Nebenbedingungen sieht man einfach nicht voraus.“ Grundlegend ist ein intensiver Austausch zwischen allen Projektakteuren. Als Steuerungsinstrument scheint die Moderation solcher Prozesse gut geeignet. „Man muss Moderator spielen, um Freiräume im Projektablauf zu nutzen und zugleich die Vorgaben zu erfüllen.“ (Projektleiter, Messtechnik) • Spürend-empfindendes Wahrnehmen: Das bei einem solchen Vorgehen notwendige spürend-empfindende Wahrnehmen von Informationen wird deutlich in der Schilderung der Projektarbeit in Kundenunternehmen. Neben dem Einsatz von Checklisten und Datenerhebungen ist das Arbeitshandeln durch situative Einschätzungen geprägt, die sich auf Gefühle und die Aufnahme atmosphärischer Stimmungen stützen. „Jedes Unternehmen tickt anders. Das muss man sehen. Man muss das riechen, wie die Abläufe im Unternehmen sind.“ (Projektleiter, Maschinenbau) • Assoziativ-bildhaftes Denken: Begleitet wird dies durch ein assoziativ-bildhaftes Denken. Dabei löst häufig ein Ereignis im Projektablauf bestimmte Assoziationen und Vorstellungen aus. Projektleiter sprechen hier etwa davon, dass es notwendig ist, sich „ein Bild zu machen“ und „Entwicklungen vorherzusehen“. Dabei ist eine wichtige Kompetenz, die Auswirkungen aktueller Entscheidungen für den weiteren Projektverlauf abzuschätzen. Typisch sind Äußerungen wie „ich sehe das wie einen Film“ oder „ich spiele das nicht nur in Gedanken durch, sondern versetze mich in die Situation hinein“. (Projektleiter, Automobilzulieferung) • Besondere Nähe: Eine erfolgreiche Zusammenarbeit in Projekten ist von funktionierenden persönlichen Beziehungen der Teammitglieder abhängig, wobei das „gemeinsame Tun“ im Zentrum steht. Dies setzt kooperative und vertrauensbasierte Strukturen voraus, die das Projektmanagement durch situatives und gegenstandsbezogenes Handeln herstellt. In den Meetings geht es um konkrete Fragen zur aktuellen Projektsituation, „was wurde abgearbeitet zum Vortag, was für neue Probleme sind aufgetreten“. Der Projektleiter arbeitet ohne „bestimmtes Schema oder irgendeine Liste, wo man abhakt“. Vielmehr geht es darum, die jeweiligen Situationen „zu deichseln“ und gemeinsam Lösungen zu erarbeiten. (Projektleiter, Anlagenbau) Im Rahmen des vorherrschenden Projektmanagements erscheint das subjektivierende Handeln allzu leicht als unprofessionell und nicht als eine besondere professionelle Kompetenz. Demgegenüber gilt es jedoch, zukünftig das subjektivierende Handeln in gleicher Weise wie das objektivierende Handeln systematisch zu beachten und zu fördern. 5 Subjektivierendes Handeln entwickeln In Bildungseinrichtungen, Schulen, Seminaren und Trainings liegt bisher der Schwerpunkt auf der Entwicklung eines objektivierenden Handelns. Eine wesentliche Rolle spielen dabei die Vermittlung und der Erwerb systematischen Wissens. Das subjektivierende Handeln wird demgegenüber als eine besondere Kompetenz zur Erreichung von Zielen und zur Lösung von Problemen kaum beachtet. Hier ist dringend eine Um- und Neuorientierung notwendig. Wie gezeigt, weist das subjektivierende Handeln eine besondere Methodik und Systematik auf. Diese ist zu erkennen und bewusst zu machen. Die für das subjektivierende Handeln notwendigen Fähigkeiten sind zwar grundsätzlich vorhanden - ebenso wie bspw. die Fähigkeit, logisch zu denken -, sie müssen jedoch in gleicher Weise wie die Fähigkeiten zu objektivierendem Handeln systematisch gefördert und zu einer besonderen professionellen Kompetenz entwickelt werden: explorativ-entdeckendes Vorgehen, spürendempfindendes Wahrnehmen sowie assoziativbildhaftes Denken. Notwendig sind hierzu besondere handlungs- und erfahrungsbezogene Formen des Lernens sowie ein unmittelbarer Bezug zur Praxis [12]. In Beratungen zur Organisationsentwicklung in Unternehmen und zur Befähigung der Mitarbeitenden, Veränderungen erfolgreich zu bewältigen, wurden in den letzten Jahrzehnten verstärkt Konzepte und Methoden angewandt, die neben dem kognitiv-rationalen Denken noch weitere menschliche Fähigkeiten einbeziehen und hierauf einen besonderen Schwerpunkt legen. Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass sie über die verstandesmäßig geleiteten, kognitiv-rationalen Elemente hinausgehen und den Menschen ganzheitlicher - Körper, Geist, Gefühle - betrachten. Sie adressieren das für Handlungsfähigkeit notwendige Sicherheitsgefühl, an die Stelle eines „kontrollierbaren Vorgehensplan“ tritt das Thema der „individuellen Sicherheit“, wobei zwei Richtungen erkennbar sind: 1. Sicherheit durch Modellbildung - dieses Modell wird auf die Situation in der Ungewissheit angewendet; 2. Sicherheit von innen, aus sich selbst heraus - hier ist Achtsamkeit mit sich und anderen ein wesentlicher Aspekt. Solche Ansätze müssen zukünftig aufgegriffen und in der zuvor umrissenen Perspektive für das Projektmanagement und die Projektarbeit weiterentwickelt werden. Damit verbunden ist die Erkenntnis, dass es für den Umgang mit Ungewissheit keine kleine schnelle Toolbox gibt, sondern das erfahrungsbasierte subjektivierende Handeln einen ständigen Lernprozess erfordert. 6 Fazit Die vorgestellten Ergebnisse zeigen, dass das auf menschlichen Fähigkeiten beruhende sub- 08 UNGEWISSHEIT IN PROJEKTEN projektManagementaktuell | AUSGABE 1.2018 jektivierende Handeln notwendig ist, um Ziele zu erreichen und Probleme zu lösen. Dies ist gerade auch im Projektmanagement, in dem das Leitbild planmäßig-rationalen Handelns vorherrscht, der Fall. Insbesondere in ungewissen Situationen sind solche Fähigkeiten unverzichtbar und gewährleisten Handlungsfähigkeit. Damit verweist das Konzept des subjektivierenden Handelns darauf, dass intentionales Handeln auf dem Zusammenwirken von objektivierendem und subjektivierendem Handeln beruht. Schlagwörter Erfahrungswissen, Improvisation, Projektarbeit, subjektivierendes Handeln, Ungewissheit Kompetenzelemente der ICB 4.0 Perspective 5: Kultur und Werte; People 1: Selbstreflexion und Selbstmanagement; People 8: Vielseitigkeit; Practice 11: Chancen und Risiken Literatur [1] Harvard Business Manager 4/ 2017. Manager Magazin Verlagsgesellschaft, Hamburg 2017 [2] Kreiner, K.: The postmodern Epoch of Organization Theory. In: International Studies of Management & Organization 2/ 22, 1992, S. 37-52 [3] Böhle, F./ Heidling, E./ Neumer, J./ Kuhlmey, A./ Winnig, M./ Trobisch, N./ Kraft, D./ Denisow, K.: Umgang mit Ungewissheit in Projekten. Expertise für die Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement (GPM) e. V., Nürnberg 2016 [4] Merrow, E.: Industrial Megaprojects. John Wiley & Son, Hoboken 2011 [5] Winch, G. M./ Maytorena, E.: Managing Risk and Uncertainty on Projects. A Cognitive Approach. In: Morris, P. W. G./ Pinto, J. K./ Söderlund, J. (Hrsg.): The Oxford Handbook of Project Management. Oxford University Press, Oxford 2012, S. 345-364 [6] Simon, H. A.: Models of bounded rationality. MIT Press, Cambridge, London 1982 [7] Dietrich, R.: Communication in High Risk Environments. Helmut Buske Verlag, Hamburg 2003 [8] Weick, K./ Sutcliffe, K.: Managing the Unexpected. Jossey Bass, San Francisco 2001 [9] Suchman, L.: Plans and situated actions: The Problem of Human-Machine Communication. Cambridge University Press, New York 1987 [10] Böhle, F. (Hrsg.): Arbeit als subjektivierendes Handeln. Handlungsfähigkeit bei Unwägbarkeiten und Ungewissheit. Springer VS, Wiesbaden 2017 [11] Böhle, F./ Heidling, E./ Schoper, Y.: A new orientation to deal with uncertainty in projects. In: International Journal of Project Management, 34, 7, 2016, S. 1384-1392 [12] Bauer, H. G./ Munz, C.: Erfahrungsgeleitetes Handeln lernen - Prinzipien erfahrungsgeleiteten Lernens. In: Böhle, F./ Pfeiffer, S./ Sevsay-Tegethoff, N. (Hrsg.): Bewältigung des Unplanbaren. Westdeutscher Verlag, Opladen 2004, S. 55-76 Autoren Prof. Dr. rer. pol. Fritz Böhle; Studium der Soziologie mit Psychologie und Volkswirtschaftslehre, LMU München; Lehre und Forschung an der Universität Augsburg und ISF München; Forschungsschwerpunkte: Entwicklung von Arbeit und Organisation, Erfahrungswissen und subjektivierendes Handeln Anschrift: Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e. V. - ISF München, Jakob-Klar- Straße 9, 80796 München, Tel.: 0 89/ 27 29 21-0, E-Mail: Fritz.Böhle@isf-muenchen.de Dr. rer. pol. Eckhard Heidling; Studium der Politischen Wissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Soziologie, FU Berlin; Forschungstätigkeit im ISF München seit 1989; Forschungsschwerpunkte: international verteilte Arbeit, Projektarbeit, Qualifikation, Kompetenzentwicklung Anschrift: Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e. V. - ISF München, Jakob-Klar- Straße 9, 80796 München, Tel.: 0 89/ 27 29 21-0, E-Mail: Eckhard.Heidling@isf-muenchen. de Dipl. Inf/ TU Astrid Kuhlmey; Zusatzausbildungen in Projektmanagement, systemischer Beratung, Mediation; nach 35 Jahren im Linien- und Projektmanagement von Konzernen nun selbstständig und Eigentümerin einer Beratungsfirma zu Themen des Change- und Projektmanagements Anschrift: Hindenburgdamm 102 b, 12203 Berlin, Tel.: 0 30/ 74 07 17 17, E-Mail: kontakt@sicher-durch-veraenderung.de Dipl.-Soz. Judith Neumer; Studium der Soziologie, Sozialpsychologie und Politikwissenschaft, LMU München; Lehrtätigkeit an der LMU München 2007-2009, Forschungstätigkeit am ISF München seit 2009; Forschungsschwerpunkte: Erfahrungswissen und subjektivierendes Handeln, Entscheidungshandeln unter Unsicherheit Anschrift: Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e. V. - ISF München, Jakob-Klar- Straße 9, 80796 München, Tel.: 0 89/ 27 29 21-0, E-Mail: Judith.Neumer@isf-muenchen.de Corporate Quality Akademie Projektmanagement Einführungslehrgang per Fernlehre: www.cqa.de PM-Normen + Methoden info@cqa.de www.cqa.de 029161 908951 Anzeige