PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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UVK Verlag Tübingen
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GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.Simplexity – Strategien für das Projektmanagement
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2018
Michael Reiss
Die gängigen Formen der Handhabung von Komplexität liefern unausgewogene und punktuelle Resultate, die für das Projektmanagement wenig nützlich, mitunter sogar schädlich sind. Besser eignen sich Simplexity-Strategien als explizite Kombinationen von Vereinfachung und Anreicherung, weil sie der Ambivalenz von „guter“ und „schlechter“ Komplexität in nachvollziehbarer Manier Rechnung tragen. Sie versprechen zwar keine Erfolgsgarantie, stellen aber eine brauchbare Heuristik dar, um einen Fit zwischen Komplexitätsbedarf und Komplexitätspotenzial zu bewerkstelligen. Simplexity-Strategien unterstützen die komplexitätsfokussierte Optimierung mehrerer erfolgskritischer Betätigungsfelder des Projektmanagements. Das Spektrum umfasst die Dynamik, Standardisierung, Orientierung, Interaktionsmuster und Formatierung von Projekten und Aktivitäten des Projektmanagements.
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40 WISSEN projektManagementaktuell | AUSGABE 3.2018 Simplexity - Strategien für das Projektmanagement Autor: Michael Reiss Die verbreiteten Handhabungsformen von Komplexität beruhen auf Fehleinschätzungen von Wert und Wesen eines komplexitätsorientierten Projektmanagements. Abhilfe kann hier ein Simplexity-Ansatz schaffen, der eine Kongruenz von Komplexitätsbedarf und Komplexitätspotenzial durch die kombinierte Vereinfachung und Anreicherung von Komplexität bewerkstelligt. Auf diesem Weg gelingt es in mehreren Kerngebieten des Projektmanagements, die Schwachstellen der einseitigen und punktuellen Umgangsformen zu beheben. 1 Konfusion über Komplexität In keiner anderen Managementsparte gibt es in Sachen Komplexität eine ähnlich große Diskrepanz zwischen a) der Intensität der Beschäftigung mit Komplexität einerseits und b) der Konfusion bezüglich des Verständnisses von Komplexität sowie des Nutzens und der geeigneten Instrumente zur Handhabung von Komplexität andererseits wie im Projektmanagement (PM). Die intensive Beschäftigung mit „Komplexität“ als Mainstream-Thema schlägt sich in zahlreichen einschlägigen Blogs, Fachgruppen sowie Buch- und Zeitschriftenpublikationen nieder [1, 2, 3, 4]. Die Fokussierung auf Komplexität fängt bereits damit an, dass es sich bei jedem Projekt um eine komplexe Materie handelt. Dies zeigt sich nicht erst während der Projektarbeit, sondern schon bei der Definition von „Projekt“ anhand der Komplexitätsmerkmale „interdisziplinäre Sonderaufgabe“. Darüber hinaus wird zwischen mehr oder weniger komplexen Projekten unterschieden, was sich aus Bezeichnungen wie „large-scale“ (IPMA-Levels), „The International Centre for Eindimensionale Komplexitätsbegriffe kreisen zum einen um Größenmerkmale (z. B. Anzahl von Stakeholdern, Iterationen, Relationen, Konnektivität) [5]. Zum anderen wird Komplexität mit Ungewissheit gleichgesetzt, etwa mit Blick auf unsichere Mittel-Ziel-Zusammenhänge zwischen eingesetzter Manpower und Projektlaufzeit, für die uns nicht zuletzt das Gesetz von Brooke sensibilisiert hat. Vereinzelt kommen zweidimensionale Ansätze wie die Stacey-Matrix oder das Cynefin-Modell zur Anwendung, um zwischen mehr oder weniger komplexen Projektkonstellationen zu differenzieren. Eher zögernd werden drei- oder vierdimensionale Breitbandkonzepte rezipiert, etwa die VUCA-World mit ihren vier Dimensionen Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity oder die vier Vs der Big Data (Volume, Variety, Velocity, and Veracity) von IBM. Diese Ansätze verdienen jedoch nicht das Prädikat „ganzheitlich“, weil die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Dimensionen ungeklärt bleiben. Folglich werden Komplexitätsphänomene wie Hybridität, Ungewissheit, Diversity, Interdisziplinarität, Agilität sowie einige komplexitätsaffine Anti-Patterns (z. B. Paralyse durch Analyse) als separate Baustellen und nicht als Varianten von Komplexität behandelt. [6] 2 Wesen und Wert des komplexitätsfokussierten Projektmanagements Tatsächlich gibt es nicht „die“ Komplexität des Projektmanagements. Besser eignen sich differenzierte Komplexitätsarchitekturen [7], die a) mehrere „Blutgruppen“ von Komplexität (Dimensionen) sowie b) mehrere Domänen umfassen. Bei den Domänen geht es einerseits um die Komplexität des Managements von Projekten, >> Für eilige Leser Die gängigen Formen der Handhabung von Komplexität liefern unausgewogene und punktuelle Resultate, die für das Projektmanagement wenig nützlich, mitunter sogar schädlich sind. Besser eignen sich Simplexity-Strategien als explizite Kombinationen von Vereinfachung und Anreicherung, weil sie der Ambivalenz von „guter“ und „schlechter“ Komplexität in nachvollziehbarer Manier Rechnung tragen. Sie versprechen zwar keine Erfolgsgarantie, stellen aber eine brauchbare Heuristik dar, um einen Fit zwischen Komplexitätsbedarf und Komplexitätspotenzial zu bewerkstelligen. Simplexity-Strategien unterstützen die komplexitätsfokussierte Optimierung mehrerer erfolgskritischer Betätigungsfelder des Projektmanagements. Das Spektrum umfasst die Dynamik, Standardisierung, Orientierung, Interaktionsmuster und Formatierung von Projekten und Aktivitäten des Projektmanagements. Complex Project Management“ oder „Megaprojekte“ ablesen lässt. Spätestens hier setzt insofern eine Konfusion ein, als eindimensionale Komplexitätsauffassungen mit mehrdimensionalen Auffassungen konkurrieren. WISSEN 41 projektManagementaktuell | AUSGABE 3.2018 andererseits um die Komplexität von Projekten, beispielsweise um komplexe Projektmissionen (z. B. unklare und volatile Requirements), Projektressourcen (etwa Interdisziplinarität, unternehmensübergreifende Zusammensetzung von Projektteams, Mitgliederfluktuation) und Projektorganisation (z. B. Projektmatrixorganisation, arbeitsteilige Führung von Projekten). Bezüglich der dimensionalen Architektur von Komplexität setzt sich beispielsweise das 4V-Konzept aus Vielzahl (etwa Budgetvolumen, Multikonstellationen: Multi-Tasking, Multistakeholder, multifaktorielle Bedingtheit, Zweiliniensysteme), Vielfalt (z. B. zwischen den beiden Komponenten der Produkt-Funktion-Matrixorganisation), Vieldeutigkeit (z. B. in Gestalt von Missverständnissen und unpräzisen, nicht operationalen Begrifflichkeiten) und Veränderlichkeit zusammen, wie Abbildung 1 illustriert. [8] Der Verbund zwischen den vier Dimensionen folgt häufig dem Prinzip der Komplexitätsfortpflanzung: So zeichnen sich beispielsweise Megaprojekte (z. B. Infrastrukturprojekte) durch eine Vielzahl von Projektstakeholdern aus, die für die Projektfinanzierung eine Stakeholder-Vielfalt (z. B. Public-Private-Partnerschaften) erfordert, was eine Vieldeutigkeit bei der Ergebnisattribuierung auf die einzelnen Stakeholder sowie eine Veränderlichkeit nach sich zieht, die entweder gut prognostizierbar (z. B. bei Build-Operate- Transfer-Projekten) oder schlecht prognostizierbar (z. B. Projektabbruch) ausfallen kann. Auch die verbreiteten Ansätze zur Ermittlung des Stellenwerts eines komplexitätsorientierten Projektmanagements reflektieren die bestehende Konfusion in der Projektmanagement-Community [6]. Hier kommt es zu systematischen Unterbzw. Überschätzungen des Werts eines komplexitätsfokussierten Projektmanagements. Unterschätzt wird die Komplexitätsorientierung, wenn man mit der Formel „einfach = kostengünstig“ den Vorteil ausschließlich in einer Verschlankung sieht. Tatsächlich lassen sich durch ein komplexitätsbewusstes Vorgehen nicht nur die Kosten, sondern auch die Qualität (Kreativität, Kundenzufriedenheit) der Projektarbeit beeinflussen, etwa mit Hilfe einer komplexen Projekt-Governance. Überschätzt wird die Komplexitätsorientierung, wenn man nach dem Motto „Komplexität im Griff = Projekt im Griff“ die Komplexität als die erfolgskritische Determinante der Performance des Projektmanagements betrachtet. Tatsächlich entscheidet über Erfolg oder Misserfolg nicht die Komplexität allein, sondern stets die Kongruenz oder Inkongruenz von Komplexität(sbedarf) einerseits und den verfügbaren Kapazitäten und Kompetenzen zur Komplexitätsbewältigung andererseits. Auf dieser Logik basieren auch die IPMA-Levels. Kompetenzen treten beispielsweise als personelle Kompetenzen in Gestalt von Anpassungs- und Lernfähigkeit, Problemlösungskompetenz, Konflikttoleranz und Selbstorganisationspotenzial der involvierten Akteure auf. Das Kompetenzpotenzial ist nicht auf personelle und schon gar nicht auf individuelle Ressourcen beschränkt: Es umfasst vielmehr auch technische Ressourcen (z. B. Web-Infrastrukturen, PM- Software, mobile Endgeräte), organisatorische Regelsysteme (z. B. für Ausschreibungen von Projekten) sowie Personenmehrheiten, etwa PMOs und Lenkungsausschüsse. 3 Schwachstellen der Komplexitätshandhabung Die „Handhabung“ der Projektkomplexität firmiert beispielsweise unter „Navigating“, „Removing“, „Regulation“ oder „Taming“. Projektmanager betreiben in der Regel eine implizite Handhabung von Komplexität, sei es ein Vorgehen in kleinen Schritten, der Abbau kognitiver Dissonanzen oder die Ergänzung der Hard Factors durch Soft Factors. Die expliziten Umgangsformen, bei denen also Komplexitätsmerkmale Abb. 1: Komplexitätsdimensionen des Projektmanagements VIELZAHL VIELDEUTIGKEIT VIELFALT • GRÖSSE • VOLUMEN • REICHWEITE • HÄUFIGKEIT • SCALE • DICHTE • LAUFZEIT • MULTI- KONSTELLATIONEN • … • DIVERSITÄT • HETEROGENITÄT • INTERDISZIPLINARITÄT • SCOPE • HETEROGENITY • MULTIPLEXITÄT • ANTAGONISMEN • KONFLIKTE • PLURALISMUS • HYBRIDE • … • AMBIGUITÄT • UNSCHÄRFE • UNSICHERHEIT • KONFUSION • VAGHEIT • INTRANSPARENZ • SPIELRÄUME • ZWEIFEL • WAHLMÖGLICHKEITEN • PARADOXIEN • ÜBERSCHNEIDUNGEN • … • DYNAMIK • GESCHWINDIGKEIT • INSTABILITÄT • DISKONTINUITÄTEN • WACHSTUM • ÜBERRASCHUNGEN • VOLATILITÄT • VERBESSERUNG • CHAOS • … VERÄNDERLICHKEIT PM- KOMPLEXITÄT 42 WISSEN projektManagementaktuell | AUSGABE 3.2018 KOMPLEXITÄTSPOTENZIAL KOMPLEXITÄTSBEDARF Komplexitätskongruenz • Weniger ungenutzte Reserven • Weniger Redundanzen • Keine Überqualifikation • … • Verschlanken • Freezing • Weniger Iterationen • Work-in-progress limits • Entschleunigung • … + + - - • Empowerment • Training • IT-Infrastrukturen • Vertrauensbasis • Slack • Support • … • Alternativplanung • Beschleunigung • Höhere Anforderungen • Plan B • Termindruck • … wie z. B. Teamgröße, Leitungsspannen und Mehrdeutigkeiten (etwa hybride Vorgehensmodelle) aus den Managementprozessen „extrahiert“ werden, haben den Charakter einer eher lästigen Pflichtübung. Hier zeichnen sich zwei konträre Positionen ab: die Komplexitätsreduktion und die Komplexitätssteigerung. Dabei überwiegt die Komplexitätsreduktion, d. h. der Kampf gegen Komplexität: Man denke beispielsweise an Vereinfachungen durch Verschlankung (Lean Management, z. B. Minimum Viable Product) oder Leitideen wie das KISS-Prinzip (Keep It Short and Simple). Deutlich seltener wird eine Komplexitätsanreicherung praktiziert, etwa in Gestalt von Qualitätsmanagement (Zertifizierungen), transparenzförderlichen Compliance-Standards, Plädoyers für 360-Grad-Feedbacks (objektiviertes Rating von Projektleitern durch mehrere Beurteiler), mehreren Führungspositionen (z. B. Fach-, Macht-, Prozess- und Beziehungspromotoren bei Innovationsprojekten, Product Owner und Scrum Master), Programmmanagement oder Portfoliomanagement sowie komplexitätsbejahenden Devi- Ferner leiden die gängigen Handhabungsformen an Unausgewogenheit infolge einseitiger Bewertungen von Komplexität, wobei die negative Bewertung in Gestalt von Verschwendung, Parallelarbeit, Ballast, Übergröße, Überdosierung, Leerlauf und Wiederholungen überwiegt. Positive Bewertungen anhand von Vorteilen der Skalierbarkeit, Diversity, Wahlmöglichkeiten, Spielräumen oder Streitkultur werden deutlich seltener propagiert. Einseitige Bewertungen gehen Hand in Hand mit einer systematischen Unterbzw. Überschätzung des Werts eines komplexitätsfokussierten Managements. 4 Simplexity: Kombinierte Vereinfachung und Anreicherung 4.1 Simplexity als Leitidee Als übergeordnete Zielsetzung der Komplexitätshandhabung dient die Kongruenz von Komplexitätsbedarf und Komplexitätspotenzial (zur Deckung des Bedarfs), wie aus Abbildung 2 hervorgeht. Das Potenzial setzt sich aus quantitativen Komponenten (Kapazitäten) und qualitativen Komponenten (Kompetenzen) zusammen. Die Kongruenz-Zone beheimatet gewissermaßen die „gute“ Komplexität. Die Inkongruenz-Zonen sind hingegen durch schlechte Komplexität gekennzeichnet, weil hier die vorhandenen Potenziale überbzw. unterfordert werden. Vereinfachen (Simplex-Prozeduren: „-“) und Anreichern (Complex-Prozeduren: „+“) fungieren als Vorgehensweisen zur Annäherung an die Komplexitätskongruenz. Insgesamt stehen vier Handhabungsformen zur Verfügung. Die Vereinfachung durch Reduktion des Komplexitätsbedarfs repräsentiert die am weitesten verbreitete Handhabungsform. Auch die Vereinfachung des Komplexitätspotenzials durch Abbau von Überschusskapazitäten kann als konventionell gelten. Demgegenüber gelingt das Anreichern des Potenzials durch Investitionen in Komplexitätskompetenzen und -kapazitäten, z. B. integrative Infrastrukturen wie IT-Netze oder Vertrauen. Schließlich dient das Anreichern des Komplexitätsbedarfs der effizienteren Nutzung vorhandener, aber brachliegender Ressourcen. Hierzu zählen unter anderem die leistungsstimulierende Erhöhung des Anspruchsniveaus sowie die Beschleunigung von Projektprozessen. Bei keiner der vier Handhabungsformen handelt es sich um eine grundsätzlich überlegene Strasen (z. B. It takes three to tango). Die Polarität der skizzierten Handhabungsformen signalisiert eine Orientierungslosigkeit in Sachen komplexitätsbewusstes Projektmanagement. Erschwerend kommt hinzu, dass es gerade den impliziten Handhabungsformen an Ganzheitlichkeit mangelt, weil sie auf (untauglichen) punktuellen Komplexitätsarchitekturen aufbauen. Verantwortlich dafür zeichnet eine mangelnde Kenntnis der Architektur von Komplexität (Abb. 1): Einige dieser punktuellen Ansätze erweisen sich insofern als kontraproduktiv, als sie anstelle einer Reduktion faktisch eine Steigerung von Komplexität bewirken: So ruft eine strengere Projektplanung (z. B. anhand einer Balanced Project Scorecard) ein Reaktanzverhalten hervor, also Aktivitäten der kreativen Suche nach Ausweichmöglichkeiten und Schlupflöchern. Zudem induziert der punktuelle Kampf gegen eine lokale Komplexitätsvariante an anderen Stellen eine unkontrollierte Komplexitätsentwicklung: Kleinere Projektumfänge vereinfachen zwar die Intraprojektkoordination, komplizieren jedoch gleichzeitig die Interprojektkoordination. Abb. 2: Zusammenspiel von Komplexitätsbedarf und Komplexitätspotenzial WISSEN 43 projektManagementaktuell | AUSGABE 3.2018 tegie. Vor dem Hintergrund der einzelnen Stärken-Schwächen-Profile bietet sich deshalb heuristisch als Alternative zu den einseitigen Handhabungsmustern der Komplexitätsvereinfachung bzw. der Komplexitätsanreicherung deren Kombination an. Die offensichtlichen Schwächen einer Vorgehensweise lassen sich dabei durch die Stärken der anderen (zumindest teilweise) ausgleichen. Der ausgewogene und konstruktive Ansatz nutzt die Vorteile einer Kombination von Vereinfachung und Anreicherung, ohne dass sich die „Minus“- und die „Plus“-Operationen dabei neutralisieren würden. Als prägnante Kurzbezeichnung für diese Simplex-Complex-Kombination von Vereinfachung („Simplicity“) und Anreicherung („Complexity“) hat sich Simplexity etabliert, wobei sich allerdings noch keine einheitliche Sicht der Kombinationsformen durchgesetzt hat [9, 10]. Im Kern unterstützt dieser kombinierte Ansatz die komplexitätsbewussten Projektmanager mit mehreren Simplexity-Strategien, wie die nachfolgend erläuterten Beispiele zur Komplexitätsoptimierung aus verschiedenen Sparten des Projektmanagements veranschaulichen. Die Beispiele konzentrieren sich auf die operative Optimierung des Komplexitätsbedarfs (Abb. 2), die in beiden Richtungen ohne größere Investitionen bzw. Desinvestitionen machbar ist. 4.2 Optimierte Dynamik Die Veränderlichkeit (Dynamik, Wandel, Veränderungstempo) im Projektmanagement setzt sich zusammen aus a) der Projektdynamik (z. B. Reaktionen auf Manpower-Engpässe) und b) der Managementdynamik (z. B. Übergang auf agile Verfahren, webbasiertes Management, Software- Upgrades). Im Mittelpunkt der Komplexitätsoptimierung steht dabei die „kanalisierte“ Pace der Veränderung, nicht die allseits bekannte Eigendynamik von Projekten, die beispielsweise durch Fluktuation in der Projekt-Manpower, Gruppendynamik (Forming, Storming, Norming, Performing), Egotrips dominanter Teammitglieder, Lernprozesse [11] oder auftraggeberinduzierte Änderungen der Anforderungen und Userstorys hervorgerufen wird. Die Vereinfachungskomponente einer Simplexity- Strategie steht hier für eine Verstetigung, etwa nach dem Vorbild des kontinuierlichen Verbesserungsprozesses oder dem „Flow“ im Kanban- Modell. Vereinfachung mündet letztlich in eine rhythmische und damit weniger hektische Anpassung an Veränderungsbedarfe (z. B. Up- (Time Pacing) und „Rot“ erfordert möglichst direkte Reaktionen (Event Pacing), etwa wenn Spezialisten (z. B. Juristen für das Contracting) nur zu fixierten Zeitpunkten für die Projektarbeit zur Verfügung stehen. 4.3 Optimierter Standardisierungsgrad Standardisierung dient der Vereinfachung und fungiert dabei als Sammelbezeichnung für normierte Phasenmodelle, Stellenbeschreibungen (für Product Owner, Lenkungsausschüsse oder PMO), Dokumentationen (Burndown Charts, Gantt Charts, Formulare, Storycards), von generischen berufsständischen Standards (z. B. ISO 21500, ICB 4.0 oder PMBOK) wie auch hausgemachten Standards sowie für Pauschalierung, z. B. eine gleichmäßige Umlage von PMO-Gemeinkosten auf die Projekte. Die Stärken liegen in der Gleichbehandlung und der Effizienzsteigerung, etwa in Lernkurveneffekten durch routinisierte Vorgehensweisen und weiteren Varianten einer „Industrialisierung“ der Dienstleistung „Projektmanagement“. Im Schwachstellenkatalog dieser Simplex-Prozedur finden sich Gleichmacherei, Uniformierung, Rasenmäherprinzip bei Budgetkürzungen, Rigidität, Bürokratisierung und „08/ 15-Lösungen“. Ein umgekehrtes Stärken- Schwächen-Profil zeichnet die Komplexitätsanreicherung in Gestalt einer Individualisierung aus. Hier reicht das Spektrum von Ad-hoc-Maßnahmen über die personalisierte Kommunikation in den unterschiedlichen Muttersprachen der beteiligten Projektmitarbeiter und Auftraggeber bis zu maßgeschneiderten Lösungen. Individualisierte Maßnahmen besitzen zwar einerseits eine geringe Kosten- und Zeiteffizienz infolge der einmaligen Anwendbarkeit. Sie besitzen jedoch andererseits ein hohes Akzeptanzpotenzial, wenn man einmal vom Willkür-, Diskriminierungs- und Entsolidarisierungsrisiko solcher Einzelfalllösungen absieht. Ein Ausgleich der Schwächen durch die Stärken kann zunächst durch eine kombinierte Standardisierung-Individualisierung nach dem Vorbild der Mass Customization gelingen [13]. Dabei werden beispielsweise einzelne Komponenten von PM-Maßnahmen einer Standardisierung unterzogen. Hierzu greifen Projektmanager z. B. auf Bausteine von Verträgen (Klauseln), Konfliktlösungen (z. B. für das Nachforderungsmanagement) oder Templates zurück. Individualisierung wird durch eine fallspezifische Konfiguration dating, Reorganisationen), was als Time Pacing bezeichnet wird [12]. Zu den Stärken zählt die bessere Akzeptanz von Veränderungen, etwa infolge einer Stressminderung durch Entschleunigung. Positiv ist auch die verbesserte Zeit- und Kosteneffizienz zu beurteilen. Als nachteilig erweist sich die verzögerte Anpassung. Im Gegensatz dazu sorgt die Anreicherungskomponente für eine hohe Veränderungsrate pro Zeiteinheit. Derartige Diskontinuitäten in Gestalt von Sprüngen („Jumping“ im Gegensatz zu „Flowing“) oder Strukturbrüchen werden üblicherweise als „transformational“, „disruptiv“ oder „revolutionär“ bezeichnet. Sie basieren auf einem Event Pacing, also der zeitnahen Reaktion auf Veränderungsimpulse (z. B. Personalengpässe, Server-Downtime, Mitmachen bei PM-Hypes wie Projektmanagement 4.0). Auf der Stärkenseite findet sich die Reaktionsschnelligkeit, die Schwachstellen liegen hingegen in der fraglichen Umsetzbarkeit infolge von Widerständen. Im äußerst breit gefächerten Spektrum von Simplexity-Strategien findet man zunächst die sequenzielle Mischung von Phasen der kontinuierlichen und der diskontinuierlichen Veränderung mit unterschiedlichen Abfolgevarianten: So erfolgt beispielsweise beim Einstellungswandel gegenüber traditionellen, stringent disziplinierten Vorgehensmodellen zuerst eine komplexitätssteigernde Verunsicherung (Unfreezing) und Veränderung (Move), an die sich mit dem Refreezing (der positiven Einstellung zu agilen Vorgehensmodellen) eine komplexitätsmindernde Stabilisierung anschließt. Bei Veränderungen nach dem Vorbild des Intervalltrainings wird umgekehrt dem komplexen Veränderungsprozess eine stabilisierende „Atempause“ vorangestellt. Auch bei Migrationsstrategien im Software-Bereich (z. B. von Web-1.0auf Web-2.0-Infrastrukturen oder auf hybride Clouds) sowie bei Übergangsregelungen, also der zeitlichen Überlagerung von altem und neuem Konzept, handelt es sich um einen Simplexity-Ansatz: Die Kombination von Vereinfachung (verlängerte Gültigkeit der alten Regelung) und Anreicherung (paralleles Inkrafttreten der neuen Regelung) schafft temporär Wahlmöglichkeiten, die Widerstände abschwächen. Gewissermaßen die Krönung der Simplexity- Strategien bildet das kombinierte Event Pacing und Time Pacing. Änderungsbedarfe werden hierbei mithilfe eines Ampelsystems differenziert: „Grün“ bedeutet, dass keine Anpassung notwendig ist, „Gelb“ wird mit Anpassungen zum nächsten regelmäßigen Planungstermin beantwortet 44 WISSEN projektManagementaktuell | AUSGABE 3.2018 dieser Standardkomponenten bewerkstelligt. Das zugrunde liegende Baukastenprinzip setzt allerdings voraus, dass die jeweiligen Konzepte modularisierungsfähig sind. Auf einer weiteren Kombinationsform von Standardisierung und Individualisierung basiert das Project Contracting mit fixen und variablen Entgeltkomponenten. Dabei ergeben sich die fixen Entgeltbestandteile (z. B. garantierter Maximalpreis bei Bauprojekten) aus pauschalierten Kostenansätzen. Die variablen Komponenten (z. B. in einem Bonus- Malus-Modell) werden hingegen auf die jeweilige individuelle Projektperformance bemessen. Typisierung bildet eine dritte Simplexity-Strategie. Sie basiert auf einer graduellen Differenzierung, stellt also einen Mittelweg zwischen Individualisierung und Standardisierung dar: Hierbei werden Maßnahmen auf unterschiedliche Projekttypen zugeschnitten Die Typenbildung orientiert sich an Kategorien von Stakeholdern (z. B. Auftraggeber), von Projektaufgaben (z. B. Produktentwicklungs-, IT-Implementierungs-, Bau-, Change- oder M & A-Projekte) und/ oder Komplexitätsmerkmalen (z. B. Budgetvolumen, Heterogenität der Stakeholder). 4.4 Optimierte Orientierung Wie kann man bei den Projektverantwortlichen eine adäquate Verhaltensorientierung im Spannungsfeld zwischen rigider Fixierung von Vorgaben und liberaler Flexibilisierung herbeiführen? Wie lassen sich klare Orientierungsdaten formulieren und gleichzeitig eine Vorbereitung auf das Unvorhergesehene („schwarze Schwäne“, „Unkown Unknowns“ [14]) bewerkstelligen? Zur Beantwortung dieser Fragen plädiert die Vereinfachungsstrategie dafür, Orientierungsdefizite in Gestalt von Mehrdeutigkeit und Unschärfe abzubauen. Diesem Anliegen dienen beispielsweise detaillierte Pflichtenhefte, das Freezing von Kundenanforderungen, strukturierte Vorgehensweisen (Wasserfall-Methode, Fixierung von Projektetappen, etwa Quality Gates), Feinplanung (z. B. auf Basis von Netzplänen und möglichst präzisen Performance-Indikatoren gemäß dem Projektcontrolling-Grundsatz „No Management Without Measurement“ oder einer kombiniert progressiven und retrograden Terminplanung), Formulierung eindeutiger Ursache-Wirkungs- Zusammenhänge, Zuschreibung von Erfolg und Misserfolg auf individuelle Akteure sowie die Gesamtplanung des Projekts. Die Stärken liegen in der Transparenz und Eindeutigkeit klar defizentrierten Projekthäusern) erkennbar. Das Interaktionsspektrum erstreckt sich insgesamt auf die Intraprojekt-, die Interprojekt- und die Extraprojektarena (Projekt-Linie, Projekt-Netzwerk [17]). Zur Optimierung der Interaktionsmuster via Vereinfachung oder Anreicherung stehen zwei Parameter zur Verfügung: Die Vereinfachung der Zusammensetzung der Akteure kann über die Umwandlung von Vollzeitin Teilzeitinvolvierung einzelner Teammitglieder (Reduktion des Kernteams), die Reduktion der Anzahl der Akteure (vor allem über eine Delegation der Außenvertretung an einen Teamsprecher) oder über eine Assimilierung der Akteure (z. B. möglichst homogene Konfiguration durch gleiche Abteilungszugehörigkeit oder Berufsgruppe) erfolgen. Spiegelbildlich vollzieht sich die komplexitätssteigernde Anreicherung über eine Vermehrung von Akteuren (vor allem durch Einbeziehung von Moderatoren, Compliance-Verantwortlichen, Mediatoren, PMO- Mitarbeitern oder Programmmanagern) oder eine heterogene Teamkonfiguration (Klassiker: interdisziplinäre Zusammensetzung). Die auf die Interaktion fokussierten Bemühungen um Vereinfachung reduzieren die Anzahl der Schnittstellen (z. B. mithilfe zentralisierter sternförmiger Interaktionsmuster) bzw. deren Intensität, etwa vom vertrauensbasierten Bonding zum weniger integrierten Bridging. Alle Vereinfachungsaktivitäten münden in multibilaterale Interaktionen, etwa bei der Budgetierung im Multiprojektmanagement zwischen Lenkungskreis und einzelnen Projektleitern oder bei Parallelverhandlungen mit Service- Providern. Für die vereinfachten Interaktionsmuster spricht die schnelle Konsensfindung. Als Schwachstellen sind die verringerte Dichte und Reichweite zu nennen, die die Performance der Ideenfindung und die Reichweite des Interessenausgleichs mindern. Demgegenüber sorgt eine Anreicherung für mehr direkte Verbindungen, d. h. netzwerkförmige Interaktionsmuster mit möglichst integrationsbasierten Schnittstellen, wie sie für Project Ecosystems, einen Scrum of Scrums oder Communities of Practice typisch sind. Diese Multilateralität fördert den Wissenstransfer, besitzt jedoch nur eine bescheidene Effizienz („Marathon-Meetings“ als typische Schwachstelle). Ferner kommt es eher zu „faulen“ Kompromissen (auf dem niedrigen Niveau des gemeinsamen Nenners einer Vielzahl von Parteien) sowie Problemen beim Schutz sensibler Daten. Da die beiden Interaktionsmuster inverse Stärken und Schwächen aufweisen, kann grundsätzlich nierter Prognosen, Erwartungen, Maßnahmen und Vorgaben. Dem stehen Schwächen in Gestalt von Inflexibilität („Detailitis“) und das Risiko der Fehlorientierung von Maßnahmen gegenüber. Umgekehrt besteht das Anreichern in der Schaffung von Ambiguität durch Beschränkung auf Grobplanung (z. B. Rahmenhefte, Meilensteinpläne), Sensibilität für weiche Signale (etwa Spekulationen über Auftragsänderungen), Rücktrittsklauseln in Verträgen, verzweigte Abläufe, Alternativpläne, Zielsteuerung anstelle von Maßnahmensteuerung, explizites Abwägen von Pro und Kontra (z. B. Argumentenbilanzen), kurze Planungszeiträume (Sprints) bzw. späte Fixierung von Maßnahmen (Postponement, Just-in-time- Strategien). Ferner ist Ambiguität das Resultat von Informationsasymmetrien, die man beispielsweise durch Maßnahmen der Datensicherung (z. B. Zugangsregelungen) erzeugen kann. Für die Anreicherung von Ambiguität spricht die erzielbare Flexibilität, dagegen das Risiko der Orientierungslosigkeit und das Konfliktpotenzial infolge unterschiedlicher Informationsstände bei den involvierten Projektakteuren. Ein Klassiker auf dem Gebiet der kombinierten Simplexity-Orientierung ist die rollierende Planung: Hier kombiniert man eine Feinplanung (bis zum nächsten Meilenstein oder Quality Gate) und eine Grobplanung (bis zum Projektendtermin). Moderne Simplexity-Ansätze finden sich in Gestalt von hybriden Vorgehensmodellen [13, 15]. Hierzu zählen etwa der Leagile-Ansatz als Kombination von Vereinfachung durch Lean Management und Anreicherung durch Agiles Management. Dieselbe Simplexity-Strategie liegt dem Water-Scrum-Fall-Modell aus der Software- Entwicklung [16] zugrunde, bei dem die vereinfachenden Disziplinierungen in der Phase der Projektspezifikation sowie der Test- und Release- Phase eine Rahmenorientierung schaffen, in die die agilen Scrum-Prozesse in der Designphase mit ihrer kurzfristigen Orientierungsleistung eingebunden sind. 4.5 Optimierte Interaktionsmuster Durch die Komplexitätsbrille wird in der Projektarbeit sowohl ein Zuviel an Interaktion (z. B. Attribuierungsprobleme oder Meetingitis: Kick-offs, tägliche Stand-up-Meetings, Sprint Review Meetings, Scrum of Scrums) als auch ein Zuwenig (etwa Kommunikations-, Koordinations- und Partizipationsdefizite, geringe Reichweite infolge rein physischer Präsenzinteraktion, z. B. in räumlich kon- WISSEN 45 projektManagementaktuell | AUSGABE 3.2018 durch eine Kombination eine Kompensation der Schwächen durch die Stärken gelingen. Hier kann sich eine komplexitätsoptimale Project Governance an prominenten Vorbildern wie etwa demokratischen Gesellschaftssystemen orientieren, die bekanntlich die indirekte Demokratie (vereinfachte Interaktionsmuster) und die direkte Demokratie (angereicherte Interaktionsmuster) miteinander kombinieren. Differenziert nach dem Zweck der Interaktion bieten sich Netzwerkmodelle für das Sharing von generischem Know-how an. Hingegen eignen sich multibilaterale Modelle eher für den projektspezifischen Interessenausgleich, etwa beim Überschreiten von vereinbarten Endterminen oder beim Verdacht auf Diskriminierung bei Ausschreibungen. Eine zweite Simplexity-Strategie basiert auf sogenannten multiplexen, mehrschichtigen Interaktionen, bei denen die Beteiligten gleichzeitig zwei (oder mehr) Rollen übernehmen. Hier kann man eine netzwerkförmige Binnenkoordination in der Intraprojektarena mit einer bilateralen Außenkoordination in der Inter- oder Extraprojektarena kombinieren, wenn ein Teammitglied als Linking-Pin fungiert, also in Personalunion sowohl teaminterne als auch teamübergreifende Funktionen übernimmt. Als dritte Simplexity-Strategie kommen sequenzielle Kombinationsmuster in Betracht. Man denke etwa an eine vereinfachte Phase der Bearbeitung von Aufgaben (Arbeitspakete, Tickets) mit anschließender Zusammenführung in einem „Plenum“ (z. B. Projektteam) oder an subsidiäre Kopplungsmuster, bei denen zentralisierte Ansätze dann zum Einsatz kommen, wenn dezentrale Ansätze mangels Kooperationsbereitschaft gescheitert sind. 4.6 Optimierte Projektformate Projektformatierung, also die Bestimmung des Aufgaben-, Ressourcen- und Stellenumfangs eines Projekts, stellt nicht zuletzt deshalb eine herausfordernde Managementaufgabe dar, weil das evidente 1: 1-Verhältnis zwischen einem Problem (Auftrag, Sonderaufgabe) und einem Projekt die eher seltene Ausnahme bildet. Realistischer sind einerseits 1: n-Konstellationen, bei denen ein Problem (z. B. Unternehmenswandel, Produktentwicklung, Systemgeschäft) nur über mehrere Projekte gelöst werden kann. Andererseits sind n: 1-Konstellationen typisch, bei denen mehrere ähnliche Probleme (z. B. von unterschiedlichen Klienten, Entwicklung von Gleichteilen über mehrere Baureihen, Aufbau einer Knowhow-Basis) mit einem einzigen Projekt gelöst werden können. Bezüglich des Formats oder Umfangs der zu bearbeitenden Projekte (vor Beginn der eigentlichen Projektarbeit) mündet die Vereinfachung in mehrere kleinformatierte Projekte, die sich jeweils auf eine Funktionalität und möglichst wenig Akteure beschränken und/ oder auf eine überschaubare Kalenderzeiteinheit („Kurzstrecken“) erstrecken. Die Stärken dieser punktuellen Komplexitätshandhabung liegen in den günstigen und schnell erreichbaren Erfolgsaussichten für Teillösungen. Die Schwächen resultieren aus der schwierigen Zusammenführung dieser Teilerfolge zu einer Gesamtlösung: Die ermittelten Partialoptima sind oft untereinander nicht kompatibel, teilweise infolge des verengten „Tunnelblicks“ bzw. der „Kurzatmigkeit“ der Kurzstreckenakteure. Selbst wenn eine Kompatibilität zustande kommt, stimmt aufgrund der Abhängigkeiten zwischen den Teilerfolgen die Summe der Teillösungen nicht mit der Gesamtlösung überein. Folge: Der überschaubare Aufwand für die Intraprojektkoordination wird dann durch den beträchtlichen Interprojekt-Koordinationsaufwand zunichtegemacht. Demgegenüber läuft eine Anreicherung auf großformatierte Projekte hinaus, die möglichst viele betroffene Stakeholder und Anforderungen im Simultaneous Engineering-Modus gleichzeitig abdecken und auf der Zeitachse umfangreichere Zeitabschnitte („Timeboxes“) umfassen. Die Machbarkeit der hierbei angestrebten möglichst ganzheitlichen Lösung muss allerdings mit einem Fragezeichen versehen werden, einmal mit Blick auf die beschränkte Modularisierungsfähigkeit der Gesamtaufgabe, zum anderen auf die erhebliche Intraprojekt-Koordinationslast. Die kombinierte Simplexity-Lösung für die komplexitätsoptimalen Konfliktformate hat den Charakter eines „ganzheitlichen Stufenkonzepts“. Ein zentrales Anliegen ist die Optimierung der gesamten Koordinationskosten, die sich aus den gegenläufigen Kostenblöcken der Intraprojektkoordination und der Interprojektkoordination zusammensetzen. Die Projektbearbeitung beginnt an zwei weit auseinanderliegenden Startpunkten: Der Simplex-Pfad startet mit einem kleinformatierten Projektfragment eines Gesamtprojekts (z. B. Produktentwicklung), z. B. mit leicht zu erfüllenden Funktionalitäten und/ oder im Sprint-Modus, was für günstige Aussichten auf Teilerfolge sorgt. Dann wird ein weiterer Mosaikstein hinzugezogen und geprüft, ob sich für das aufgebohrte Projektformat, d. h. für die zusammengelegten beiden Teilprojekte, kompatible Lösungen („Increments“) finden lassen. Parallel hierzu wird auf einem Complex-Pfad versucht, das Gesamtprojekt in mehrere Segmente aufzuteilen. Im Unterschied zur Fragmentierung generiert die Segmentierung „Puzzleteile“, zwischen denen weniger Interdependenzen bestehen. Einem verminderten Aufwand für die Interprojektkoordination stehen allerdings hohe Anforderungen an die Kapazitäten und Kompetenzen für die Intraprojektkoordination (sowohl im Selbstals auch im Fremdkoordinationsmodus) gegenüber. Durch dieses ganzheitliche, am Gesamtprojekt orientierte Vorgehen lassen sich die Teillösungen für die einzelnen Segmente leichter zu einer Gesamtlösung zusammenfassen. Eine komplexitätsoptimale Formatierung eines Projekts ist also erreicht, wenn - bildhaft ausgedrückt - die Mosaiksteine sich weitestgehend mit den Puzzleteilen decken: Dann stimmt die Summe der Teillösungen tendenziell mit der Gesamtlösung überein. Gelingt dies nicht, muss vermutlich für jedes Teilprojekt eine neue Lösung gefunden werden, falls Änderungen an einer einzigen partiellen Lösung vorgenommen werden. 5 Ausblick Zweifellos muss in die Fundierung von Simplexity-Strategien noch investiert werden. Als erfolgsrelevant erweist sich zunächst das jeweilige „Feintuning“ von Vereinfachung und Anreicherung, etwa das quantitative Verhältnis von Episoden der kontinuierlichen und diskontinuierlichen Entwicklung. Als Ergänzung zu den skizzierten Strategien der Optimierung des Komplexitätsbedarfs werden ferner Strategien zum Aufbzw. Abbau von Komplexitätspotenzial benötigt (Abb. 2). Angesichts von Widerständen und nur mit Verzögerung erzielbaren Performance- Verbesserungen handelt es sich hierbei um einen zeitaufwendigen Prozess des Wandels. Der Erfolg eines Simplexity-Ansatzes hängt letztlich von der Kongruenz zwischen dem Komplexitätsbedarf einerseits und den Kapazitäten und Kompetenzen in Sachen Komplexitätshandhabung andererseits ab. Zu den Kapazitäten zählen diverse Formen von organisatorischen Reserven („Slack“), z. B. Puffer oder Stellvertretungsregelungen. Die erforderliche Anpassung der Komplexitätskompetenz erstreckt sich sowohl auf informationstechnologische Kompetenzen, z. B. Big Data Analytics, auf organisatorische und planeri- 46 WISSEN projektManagementaktuell | AUSGABE 3.2018 sche Potenziale (z. B. Support durch Komplexitätsmanagementservices) als auch auf personelle Kompetenzen. Die hierfür eingesetzten Trainingsmaßnahmen richten sich grundsätzlich auf das entsprechende Empowerment der Mitarbeiter und Manager in Sachen Komplexitätsmanagement. Sie sollten noch besser in den jeweiligen Entwicklungsprogrammen verankert werden. Literatur [1] Bakhshi, J./ Ireland, V./ Gorod, A.: Clarifying the project complexity construct: Past, present and future. In: International Journal of Project Management 34, 7, 2016, S. 1199-1213 [2] Maylor, H./ Turner, N.: Understand, reduce, respond: project complexity management theory and practice. In: International Journal of Operations & Production Management 37, 8, 2017, S. 1076-1093 [3] Rolstadås, A./ Schiefloe, P. M.: Modelling project complexity. 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II, Keplerstraße 17, 70174 Stuttgart, E-Mail: Michael.Reiss@bwi.uni-stuttgart.de Beilagen in diesem Heft • GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V. • Oose Innovative Informatik eG • PLANTA Projektmanagement-Systeme GmbH Wir bitten um Beachtung.
