eJournals PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL 29/4

PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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UVK Verlag Tübingen
1001
2018
294 GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.

Der Projektmanager vor dem Orchester

1001
2018
Oliver Steeger
Gernot Schulz
Dirigenten und Projektmanager – auf den ersten Blick haben sie wenig gemeinsam. Doch der renommierte Dirigent, Musiker und Musikpädagoge Prof. Gernot Schulz sieht die Sache anders. Er macht Parallelen zwischen den beiden Berufen aus. Beispielsweise bei der Führung: Wie auch Projektmanager müssen Dirigenten ihr Team – das Orchester – für ihre Vision des Vorhabens gewinnen. Sie führen behutsam, fast sparsam, mit effizienten Mitteln. Sie geben Musikern Freiraum, fördern gegenseitige Wahrnehmung – und setzen am Pult stark auf Körpersprache. Prof. Gernot Schulz meint: Projektmanager und Dirigenten können voneinander lernen. Grund genug für die GPM, den international tätigen Dirigenten als Keynote Speaker zum kommenden PMO Tag (22. Oktober 2018, Nürnberg) einzuladen. Im Interview gibt er einen Vorgeschmack auf seinen Auftritt in Nürnberg.
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REPORT 17 projektManagementaktuell | AUSGABE 4.2018 Dirigent Prof. Gernot Schulz als Keynote Speaker auf dem PMO Tag Der Projektmanager vor dem Orchester Autor: Oliver Steeger Dirigenten und Projektmanager - auf den ersten Blick haben sie wenig gemeinsam. Doch der renommierte Dirigent, Musiker und Musikpädagoge Prof. Gernot Schulz sieht die Sache anders. Er macht Parallelen zwischen den beiden Berufen aus. Beispielsweise bei der Führung: Wie auch Projektmanager müssen Dirigenten ihr Team - das Orchester - für ihre Vision des Vorhabens gewinnen. Sie führen behutsam, fast sparsam, mit effizienten Mitteln. Sie geben Musikern Freiraum, fördern gegenseitige Wahrnehmung - und setzen am Pult stark auf Körpersprache. Prof. Gernot Schulz meint: Projektmanager und Dirigenten können voneinander lernen. Grund genug für die GPM, den international tätigen Dirigenten als Keynote Speaker zum kommenden PMO Tag (22. Oktober 2018, Nürnberg) einzuladen. Im Interview gibt er einen Vorgeschmack auf seinen Auftritt in Nürnberg. Herr Professor Schulz, manche Orchester verzichten heute gänzlich auf einen Dirigenten. Offenbar organisieren sie sich bei Auftritten selbst. Beginnt man in der Musik über neue Wege der Führung nachzudenken? Prof. Gernot Schulz: Es gibt tatsächlich einige Ensembles oder Orchester, die ganz ohne Dirigenten auftreten. Sie delegieren aber die Leitung der Probenarbeit - notwendigerweise - an einen oder mehrere Musiker. Das Orpheus Chamber Orchestra aus New York gehört dazu. Aber solche Orchester sind eher die Ausnahme. Beispielsweise für die Aufführung einer Oper braucht man einen Dirigenten. Sie haben einen großen Apparat von Sängern, Bühne und Orchester. Dieser Apparat kann sich nicht von allein zusammenhalten. Gleiches gilt für die Aufführung etwa einer Mahler-Symphonie, die ein sehr großes Orchester mit bis zu 90 Musikern braucht. Aber das heißt, Orchester können sich auch selbst führen? Sie sagen es richtig: Einige Orchester führen sich selbst. Das setzt voraus, dass es eine Art von Führung gibt. In diesen Orchestern übernimmt einer - zumeist der Konzertmeister - oder ein Gremium von mehreren Musikern quasi die Aufgabe des Dirigenten. Ganz ohne Führung geht es nicht in der Musik. Sogar in einem Duo wird einer der beiden Musiker - eventuell ja auch im Wechsel - buchstäblich den Ton angeben. Jemand muss beispielsweise bei den Proben festlegen, wo man anfängt und in welchem Tempo gespielt wird. Wenn eine Passage wiederholt wird: Warum? Was war nicht gut? Weshalb sollte eine Note kurz gespielt werden und eine andere etwas länger? Was ist etwa mit dem Crescendo, wie soll es gespielt werden? Es geht also auch um Entscheidungen? Ja! Als Dirigent habe ich für einen einzigen Takt in der Partitur manchmal bis zu vier oder fünf solcher Entscheidungen zu treffen. Und am Ende müssen alle diese Einzelentscheidungen in eine Richtung zeigen, damit aus der Partitur ein stimmiges Musikstück mit einem schlüssigen Konzept wird. Das hat durchaus Ähnlichkeiten mit der Führung, die Sie aus dem Projektmanagement kennen. NICHT EINMISCHEN, WENN ES GUT LÄUFT Sie haben mit Herbert von Karajan und den Berliner Philharmonikern zusammengearbeitet, mit Leonard Bernstein und Sir Georg Solti. Gestatten Sie mir eine Frage: Die Aufgabe des Dirigenten beschränkt sich ja nicht darauf, Entscheidungen über Takte zu treffen oder dafür zu sorgen, dass alle wirklich gemeinsam anfangen und im gleichen Tempo spielen. Gernot Schulz Prof. Gernot Schulz ist ein international renommierter Dirigent, Musiker, Musikpädagoge sowie Trainer (Blair Singer). Er vermittelt Unternehmen, was sie von einem Orchester und seiner Führung durch den Dirigenten lernen können. Gernot Schulz lässt sein Publikum die Inhalte interaktiv erleben - das ist das Besondere an dem Konzept „Dirigieren & Führen“, das auch die Grundlage seiner Trainings und Workshops für Führungskräfte- und Teamentwicklung ist. Gernot Schulz war langjähriges Mitglied der Berliner Philharmoniker, Assistent von Leonard Bernstein und Georg Solti sowie Hochschulprofessor in Hamburg. Er dirigierte unter anderem die Berliner Philharmoniker. Zudem ist er bei zahlreichen renommierten Orchestern in Europa, Südamerika und Asien ein geschätzter Gastdirigent. Foto: ARTIS - Uli Deck 18 REPORT projektManagementaktuell | AUSGABE 4.2018 Das mag zwar unspektakulär klingen, doch genau darin besteht ein Hauptteil der Arbeit. Was Sie zum Beispiel während eines Symphoniekonzerts hören und sehen, ist das Ergebnis eines langen Prozesses. Findet die Aufführung statt, sind bereits 95 Prozent meiner Arbeit erledigt. Manchmal brauche ich dann nur noch den Anfang eines Musikstücks vorzugeben. Das Orchester spielt dann wunderbar weiter. Die hohe Kunst des Dirigierens besteht ja darin, sich während der Aufführung nicht einzumischen, wenn es gut läuft. Aber - es kommt immer auf das Musikstück an. Gestatten Sie mir eine vielleicht naiv klingende Frage. Was genau ist Aufgabe eines Dirigenten? Komponisten haben uns ihre Werke als Partitur überliefert, also in der Schrift von Noten. In meinen Workshops halte ich gerne einmal eine Partitur hoch und frage: „Hört ihr etwas? “ Nein, vermutlich nicht … Damit möchte ich meinen Teilnehmern die Tatsache plastisch machen, dass klingende Musik zunächst „nur“ Schrift ist. Diese gedruckten Musikstücke sind geniale Werke, aber sie müssen zum Leben erweckt werden. Und wie alles, was schriftlich fixiert und gedruckt ist, ist auch der Notentext mehrdeutig. Ich kann die Partitur auf unterschiedliche Weise zum Klingen bringen, je nachdem, welche Bedeutung, welchen Sinn ich in dem Stück zu erkennen glaube. RÜCKSCHLÜSSE AUF DIE INTENTION DES KOMPONISTEN Es gibt quasi Interpretationsspielraum … Ja. Man kann einen auf Papier gedruckten Takt unterschiedlich verstehen; dann wird man ihn verschieden spielen. Doch ein seriöser Dirigent wird die Noten nicht beliebig oder allein in seinem eigenen Sinne deuten. Er wird immer versuchen, den Sinn und die Intention des Komponisten zu ergründen. Denn dessen Wunsch kann durch die Noten nicht so präzise ausgedrückt werden, dass es absolut eindeutig ist. Da bleibt immer Spielraum. Projektmanager kennen in gewisser Weise dieses Problem. Sie bekommen einen Auftrag mit Anforderungen. Die Anforderungen sind häufig ungenau - oder zumindest mehrdeutig. Der Projektmanager geht zum Kunden und fragt nach, was er genau mit seinen Anforderungen meint. Bestehen da Ähnlichkeiten? Ja, vielleicht. Der Dirigent aber kann die allermeisten Komponisten nicht mehr fragen. Man weiß einfach nicht, wie die sechste Symphonie von Beethoven bei der Uraufführung geklungen hat. Was tun? Es gibt Hinweise auf die Intention des Komponisten. Wir können Rückschlüsse ziehen aus dem Erforschen der Lebenswirklichkeit, der Bedingungen und Umstände der jeweiligen Zeit. Das fängt an mit der Gestalt der damaligen Instrumente und der Konzertsäle. Wir können in der Biografie und den Lebensumständen des Komponisten Hinweise finden. War er eher ein Mitläufer seiner Zeit oder ging er gegen die Zeitströmung? In welchem inneren Zustand hat er das Werk komponiert? Also eine aufwendige Recherche? Viele Hinweise finde ich in Büchern. Als Dirigent lese ich sehr viel und lerne etwas über Komponisten und ihre Zeit. So beschaffe ich mir möglichst umfassend Informationen, bevor ich beispielsweise eine Symphonie mit dem Orchester probe. Auf diese Weise versuche ich zu ergründen, was die gedruckten Noten aussagen sollen. Ein Dirigent hat zwei Pflichten. Die erste Pflicht ist es, sehr tief in die Partitur einzudringen und darüber nachzudenken. Das ist ein transformativer Vorgang. Als Dirigent brauche ich eine stimmige Idee, wie das Musikstück erklingen soll. Das ist die eine Pflicht des Dirigenten. Was ist mit der zweiten Pflicht? Dirigieren - eine echte Führungsherausforderung ... Foto: stokkete - Fotolia.com REPORT 19 projektManagementaktuell | AUSGABE 4.2018 Meine zweite große Herausforderung ist, meine Idee dem Orchester zu vermitteln - und zwar so, dass im Idealfall allumfassende Begeisterung dafür entsteht. DIE MUSIKER ÜBERZEUGEN Wo liegen da die Herausforderungen? Zunächst einmal muss mein Bild von dem Musikstück so stimmig sein, dass es auch die Musiker überzeugt. Jeder Musiker, jede Musikerin muss sich mit dem, was ich vorgebe, identifizieren können. Und zwar auch dann, wenn sie persönlich eine andere Vorstellung haben, anders über Details denken und die Noten anders lesen als ich. Ich muss ja davon ausgehen, dass jeder meiner Musiker im Orchester seine eigene, ganz persönliche Auffassung von der Partitur hat - und wahrscheinlich eine andere als ich. Aha? Inwiefern eine andere Auffassung? Musik ist ein sehr emotionales Medium. Musik löst immer etwas aus, was mit unserem inneren Zustand zusammenhängt. Trete ich also zur ersten Probe vor mein Orchester, so bin ich mir bewusst: In diesem Orchester gibt es zu unserem Musikstück genauso viele verschiedene Sichtweisen, wie wir Musiker haben. Jeder hat seine eigene Vision und Interpretation, die er nur ungerne oder gar nicht aufgeben will. Emotionale Dinge sind uns allen persönlich sehr wichtig. Bei der Musik gibt es nun einmal kein „richtig“ oder „falsch“ wie bei einer Mathematikaufgabe. Und glauben Sie mir, es ist auch für erfahrene Dirigenten eine enorme Herausforderung, diese persönlichen emotionalen Vorlieben der Musiker zu verändern. Eben das ist die schöne und schwierige Aufgabe des Dirigierens. Wie gehen Sie mit diesen unterschiedlichen Auffassungen um? Vielleicht Kompromisse aushandeln? Nein, Kompromisse aushandeln funktioniert nicht. Würden wir anfangen zu diskutieren, würde der Prozess zerfasern. Als Dirigent muss ich mit möglichst überzeugenden Argumenten die Menschen bewegen. Ich muss mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln meine Interpretation den Musikern übermitteln. „ICH BIN NEUGIERIG! “ Wie gelingt dieses Überzeugen? Es kommt darauf an, dass das vom Dirigenten vorgegebene Bild in sich schlüssig ist und dass die Kommunikation zwischen Dirigenten und Orchester gelingt. Damit gebe ich dem Orchester eine Chance, sich mit meiner Idee von der Musik zu identifizieren. Und identifiziert sich das Orchester mit meiner Interpretation, dann habe ich das Allerwichtigste am Dirigentenpult erreicht. Denn auf die Identifikation mit meiner Idee folgt die Bereitschaft, sich mit Haut und Haaren in diese Interpretation hineinzugeben. Also Energie und Begeisterung zu entwickeln. Erlauben Sie mir bitte eine Zwischenfrage. Dirigenten stehen nicht nur vor großen künstlerischen Herausforderungen, sondern auch vor schwierigen Führungsaufgaben. Wie wird man als Dirigent darauf vorbereitet? Ich kann nur von meinem Weg zum Dirigentenpult berichten, und der war etwas verschlungen. Er hing vielleicht damit zusammen, dass ich neugierig bin und immer gerne über meinen Tellerrand hinausschaue. Ich habe selbst im Orchester Violine gespielt. Doch ich habe immer den Drang gespürt zu erkennen, was die anderen Musiker um mich herum machen. Was beispielsweise ist mit dem Schlagzeuger, der - anders als die Violinen - hinten im Orchester als Solist spielt? Der Schlagzeuger ist in exponierter Stellung. Sein Spiel hat mich beeindruckt. Doch als Schlagzeuger hat man während eines Konzerts häufig längere Pausen. Nicht unangenehm, oder? Pausen heißt nicht, dass der Schlagzeuger untätig ist. Er bereitet sich auf den nächsten Einsatz vor. Er muss die Takte zählen, um diesen Einsatz nicht zu verpassen. Dieses Zählen fand ich lästig. Ich begann die Partituren zu studieren. So kannte ich die Stücke zumindest vom Ablauf her ziemlich bald auswendig. Ich musste also nicht mehr zählen. Die Beschäftigung mit der Partitur war ein weiterer Schritt, mich dem Dirigat zuzu- Agiles Projektmanagement einführen und etablieren Wir begleiten Sie! · Wir schulen und coachen Projektteams für ihr erstes agiles Projekt. · Wir unterstützen Projektteams, um effektiver zusammenzuarbeiten. · Wir befähigen und coachen Unternehmen bei der Integration agiler Methoden mit einem erprobten Vorgehen. Mehr Informationen unter 0641 98210-300 www.ibo.de/ projektmanagement Anzeige 20 REPORT projektManagementaktuell | AUSGABE 4.2018 wenden. Ich begann mich mehr und mehr für die Arbeit des Dirigenten zu interessieren; es war anfangs wirklich nur Neugier. Der Entschluss kam bei den Berliner Philharmonikern. Ich habe dort Herbert von Karajan noch erlebt. Seine Tätigkeit war für mich ein Mysterium. Ich habe also an Dirigierkursen teilgenommen, aber bewusst nur als passiver Zuhörer. Dann wurde ich von unserem Professor in die aktive Rolle gedrängt. Er wollte wirklich jeden Teilnehmer dirigieren sehen. Am Ende stand ich wirklich vor einem Orchester. Jeder Schritt war also mehr oder weniger getrieben von Neugier, und natürlich war auch Glück im Spiel. KARAJAN, BERNSTEIN, SOLTI In Ihrer Biografie fallen die Namen einiger großer Dirigenten, etwa Herbert von Karajan, Leonard Bernstein und Sir Georg Solti. Sie haben unter diesen Dirigenten gespielt oder ihnen assistiert. So verschieden diese großen künstlerischen Persönlichkeiten auch sind - was ist ihnen gemeinsam? Sie verfügten nicht nur über tiefe Kenntnisse der Partitur, sondern über ein wirklich allumfassendes Wissen. Diese kognitive Seite des Dirigierens ist bei großen Dirigenten extrem gut ausgeprägt. Sie ist eine Voraussetzung, aber nicht die hinreichende. Das eigentlich Große ist die Überzeugungskraft, mit der sie das Orchester begeistern oder begeistert haben. Es geht im Grunde um Charisma. Sie waren alle große charismatische Persönlichkeiten. Charisma liegt bekanntlich hinter dem gesprochenen Wort. Charisma steht in Verbindung mit nonverbaler Kommunikation … Genau darum geht es. Natürlich wird während der Proben gesprochen und erklärt. Doch die eigentliche Kommunikation, die zu Überzeugungskraft und Begeisterung führt, ist nonverbal. In der nonverbalen Kommunikation liegt das Geheimnis charismatischer Führungskraft. Inwiefern? Erkläre ich als Dirigent lang und mit vielen Worten, dann wird das Orchester ungeduldig. Die Musiker sagen sich: Zeig doch, was du meinst! Die Verständigung mit dem Orchester geschieht also häufig durch Gesten, Körperhaltung und Mimik. Fachleute gehen ohnehin davon aus, dass unsere Kommunikation zu über 90 Prozent nonverbal verläuft. Das sind unbewusste Vorgänge, und diese Kommunikation ist extrem ehrlich, authentisch. KÖRPERSPRACHE LÜGT NICHT! Man sagt, dass die Zunge lügen kann, der Körper allerdings nicht. Genau darum geht es! Wir können zumindest auf längere Zeit nicht unsere Mimik, Gestik oder Körperhaltung verfälschen. Und wenn Sie auf einem Dirigentenpodest stehen, werden Sie bemerken, wie sehr die Musiker Sie in Ihrer Körperhaltung, Mimik und Gestik lesen. Ob wir dies wollen und wissen - oder auch nicht. Orchester und Dirigent sind auf diese Weise sehr tief und authentisch miteinander verbunden. Wie darf ich mir diese nonverbale Kommunikation konkret vorstellen? Ich kann nur durch meine Gestik ein und dasselbe Musikstück völlig unterschiedlich spielen lassen. Nicht nur laut oder leise, langsam oder schnell, auch in ganz unterschiedlichem Charakter. Durch nonverbale Kommunikation bringe ich das Orchester also dazu, die Musik grundverschieden zu spielen. Ich spreche nicht ein Wort dabei. Dies könnten auch Sie ausprobieren! Ich verstehe nichts von Musik und Noten. Es geht nicht um Noten, sondern um Ihre nonverbale Kommunikation mit dem Orchester. Durch Gestik, Körperhaltung und Mimik bringen Sie das Orchester dazu, etwa eine Tonleiter weich oder akzentuiert, schnell oder langsam, laut oder leise zu spielen. Jedes Orchester auf der Welt wird Sie lesen und Ihre Botschaft verstehen. Die Stärke der nonverbalen Kommunikation nutzen wir beim Dirigieren konsequent aus. Vorhin haben Sie gefragt, was die großen Dirigenten gemeinsam haben. Authentizität, eine begnadet gute nonverbale Kommunikation und Begeisterungsfähigkeit sind sicherlich solche Führung hautnah erfahren beim Dirigieren: Prof. Gernot Schulz leitet Manager beim Dirigieren an. Foto: CAUSALES Berlin REPORT 21 projektManagementaktuell | AUSGABE 4.2018 Gemeinsamkeiten. Vielleicht noch etwas: Viele große Dirigenten wussten und wissen ihre Führungsimpulse zu minimieren. Also die Musiker nicht einzuengen durch Führung, sondern trotz der Klarheit an den notwendigen Stellen möglichst viel Freiheit, Entfaltungsmöglichkeit und Luft zum Atmen zu lassen. Herbert von Karajan war ein Meister darin. Inwiefern nicht einengen? Im richtigen Moment den Musikern - oder Mitarbeitern - Freiheit zu geben, das ist vielleicht die große Kunst der Führung. Dafür müssen Dirigenten ihre Musiker entwickeln. Da passt vielleicht der Begriff der transformationalen Führung. GEGENSEITIGE WAHR- NEHMUNG FÖRDERN Ich kann nicht ganz folgen … Orchester und Dirigent müssen sich sehr, sehr gut wahrnehmen. Die gegenseitige Wahrnehmung ist ein Kernelement guter Führung. Als Dirigent muss ich diese Wahrnehmung fördern, auch die Wahrnehmung der Musiker untereinander. Stellen Sie sich die Aufführung eines Klavierkonzerts vor! Sie haben einen hervorragenden Pianisten, einen Virtuosen. Er spielt seinen Part herausragend gut. Das Konzert aber wird nur gelingen, wenn das Orchester ihn sehr gut wahrnimmt - und umgekehrt, wenn der Solist die Musiker um sich herum wahrnimmt. Wie fördern Sie diese Wahrnehmung? Indem ich vom Dirigentenpult aus so wenig wie nötig vorgebe. Ich beschränke mich auf die Impulse, die absolut nötig sind. So bringe ich das Orchester dazu, sich durch gegenseitige Wahrnehmung selbst zu koordinieren; es führt sich also ein Stück weit selbst. Ich vermittle ihm, dass es sich untereinander wahrnehmen und abstimmen darf, soll - und muss! Anderenfalls müsste ich jede Kleinigkeit vorgeben, und ich würde unweigerlich beim Mikromanagement landen. Alle hätten das Gefühl, eingeengt zu sein. Und noch etwas ist wichtig: Die Musiker müssen ihre jeweilige Funktion erkennen in dem Musikstück. Beispielsweise hat die erste Geige sehr oft eine sehr wichtige Stimme. Alle anderen im Orchester müssen dies wissen. Sie unterstützen die erste Geige, dürfen sie nicht zudecken. Manchmal haben aber die Celli oder die Hörner die Hauptstimme. Dann haben die das Sagen und müssen sich entsprechend verhalten. Entsprechend verhalten? Indem sie sich unterordnen. Ein anderes Beispiel: An einer bestimmten Stelle im Musikstück gibt es ein Solo für eine Oboe. Dann ordnen sich alle anderen der Oboe unter und begleiten sie. Sie folgen dabei konsequent dem Solisten. Sie nehmen wahr, was und wie der Solist gerade spielt und reagieren darauf. Das aufmerksame Orchester weiß also genau, wer wann vorangeht, quasi die führende Stimme hat ... ... und wer dann folgt. Das kann sehr schnell wechseln. Dafür muss sich ein Gespür im Orchester entwickeln. Ein Großteil der Probenarbeit richtet sich genau auf diese Punkte, auf die Entwicklung der gegenseitigen Wahrnehmung und auf das Führen und Folgen untereinander. Natürlich gibt der Dirigent mit seiner Idee des Stückes den großen Zusammenhang vor, auf den sich jeder Musiker dann auch ausrichten muss. Doch vieles muss sich im Orchester selbst regeln. Stellen Sie sich die Symphonien von Mahler vor. Ein Orchester von neunzig oder hundert Musikern. Müsste ich während des Konzerts jedem Einzelnen Führungssignale geben - wie sollte dies möglich sein? MENSCHEN BEWEGEN Sie sagten einmal, dass am Pult Menschen gut aufgehoben sind, die andere bewegen können. (lacht) Das Zitat ist etwas länger. Man hat mich mal gefragt, was mir Freude am Dirigieren macht. Ich habe geantwortet, dass es mir Freude macht, Menschen zu bewegen: Ich bewege mich körperlich durch Gesten und Haltung, um die Musikerinnen und Musiker dazu zu bewegen, sich und ihr Instrument so zu bewegen, dass unser Publikum bewegt ist. Und ja, wer Menschen bewegen will, ist am Pult - wie in jeder anderen Führungsposition - an der richtigen Stelle. Führungsaufgabe Dirigieren: Muss der Dirigent eigentlich selbst ein Instrument beherrschen? Musiker reagieren hochsensibel auf Führungsimpulse. Foto: DeshaCAM - Fotolia.com 22 REPORT projektManagementaktuell | AUSGABE 4.2018 Ein oder mehrere Instrumente gut zu spielen, das ist sogar Pflicht. Bei der Aufnahmeprüfung an Hochschulen wird angehenden Dirigenten am Klavier einiges abverlangt. Da muss man spielen können. Das finde ich auch sinnvoll. Denn mit dem Klavier kann ich jeden Musiker und Sänger begleiten. Ich kann ihm zeigen, wie ich mir sein Spiel vorstelle. Das ist eine große praktische Hilfe. Neben dem Klavier gilt es noch, mindestens ein weiteres Instrument zu beherrschen. Vielleicht nicht virtuos, doch mit großem Können. SPEZIALIST UND GENERALIST Das heißt, Sie sind auch Spezialist für Instrumente? Als Dirigent sollte ich zwar möglichst gut über die Instrumente im Orchester Bescheid wissen. Aber: Ich sollte dies auf keinen Fall besser können wollen als die Spezialisten, also die Instrumentalisten selbst. Normalerweise spiele ich als Dirigent nicht eines der Instrumente des Orchesters so gut wie die Musiker selbst. Dies bedeutet für die Praxis? Ich sollte dem Musiker nicht vorschreiben, wie er etwas zu tun hat, sondern was das Ergebnis sein soll. Darauf kommt es an! Hilft es, selbst einmal Orchestermusiker gewesen zu sein? Mit Sicherheit! Dann haben Sie die Psychologie des Miteinanders im Orchester schon hautnah erfahren. Als Dirigent müssen Sie diese Psychologie nicht nur verstehen; Sie sind ja ein Teil von ihr. So legte mein damaliger Professor in Leipzig ganz bewusst Wert darauf, Studenten zu haben, die schon Engagements in professionellen Orchestern hatten. Bleiben wir bitte kurz bei Ihrer persönlichen Neugier, von der wir eben gesprochen haben. Ihre Neugier hat Sie nicht nur zum Dirigieren geleitet, sondern auch zum Thema Führung und Wirtschaft. Sie bieten beispielsweise Workshops speziell für Manager an. Meine Frage: Kann man Dirigieren und das Führen beispielsweise von Projektteams überhaupt miteinander vergleichen? Keine Frage, da gibt es eine Reihe von Unterschieden. Doch ich entdecke große Gemeinsamkeiten, etwa Parallelen bei der Führung. Auch in der Wirtschaft ist charismatische Führung gefragt. Nonverbale Kommunikation unterstützt den Führungsprozess. Es kommt auf gegenseitige Wahrnehmung an, auf Bewusstsein über Rollen, auf die Vermittlung einer vom Projektmanager vorgegebenen und von allen getragenen Vision. Mitarbeiter sollen den Sinn dessen verstehen, was sie zu tun haben; dies ist auch in der Wirtschaft wichtig. Sinngebung ist die Voraussetzung dafür, dass sich Menschen mit einem Vorhaben identifizieren, sei dies ein Musikstück oder ein technisches Projekt. Durch Sinngebung und Identifizierung bekommen Führungskräfte etwas unglaublich Wertvolles - nämlich die Hingabe ihrer Mitarbeiter. Für viele Workshop-Teilnehmer eine buchstäblich befreiende Erfahrung, dem Orchester Töne zu entlocken; Foto: CAUSALES Berlin REPORT 23 projektManagementaktuell | AUSGABE 4.2018 Mich interessiert dabei ein bestimmter Aspekt. Sie führen Ihr Orchester ohne direkte personelle Verantwortung oder disziplinarische Weisungsbefugnis. Diese Situation kennen besonders Projektmanager sehr gut. Sie müssen sich zumeist mit dem Team - so, wie es vor sie tritt - arrangieren. Das ist wahr! Insbesondere als Gastdirigent und freier Dirigent gehe ich meistens nur für eine Woche zu einem Orchester. Wir lernen uns gegenseitig kennen; wir proben einige Male und führen dann ein Musikstück auf. Um auf Ihre Frage zu antworten: Ich habe in der Tat keine Personalhoheit. Heute sind die meisten Orchester autark. Sie bestimmen selbst über ihre Mitglieder. FÜHREN OHNE WEISUNGSBEFUGNIS Man sagt, Orchester wie die Berliner Philharmoniker haben eine eigene Verfassung. Die Orchester entscheiden demokratisch über ihre personelle Zusammensetzung. Mitglieder werden buchstäblich von allen gewählt. Sogar der Dirigent hat nur eine Stimme unter vielen anderen. Die Berliner Philharmoniker waren Pioniere, was dies betrifft. Heute sind solche Verfassungen verbreitet. Viele Orchester wählen neue Musiker in ihre Reihen, sogar ohne Beteiligung eines Dirigenten. Sie führen die Assessments in Eigenregie durch. Mit anderen Worten: Ich kann als Gastdirigent nicht den geringsten Einfluss nehmen auf die Zusammensetzung des Orchesters. Ich kann nicht mit dem Intendanten beispielsweise über den Austausch der ersten Flöte reden, weil diese nicht nach meinem Geschmack spielt. Ich muss mit dem Personal, das im Orchester versammelt ist, arbeiten. Ein Nachteil? Nein, das kann sogar Vorteile haben. Die Autarkie des Orchesters kann große positive Effekte haben. Ich bitte Führungskräfte in meinen Workshops immer wieder, über solche Prinzipien nachzudenken. Inwiefern positive Effekte? Das Orchester - oder auch ein Projektteam - weiß, dass seine Mitglieder von allen anderen gewählt worden sind. Jeder sitzt an seiner Stelle, weil alle anderen ihn dort einsetzen wollten. Dadurch ist ein hohes Maß an Identifikation mit der Gruppe möglich. Auch das Gefühl der Selbstverantwortung steigt. WENN DER MANAGER VOR DEM ORCHESTER STEHT Niemand redet sich heraus, dass er in dieser Teamkonstellation nicht sein Potenzial entfalten konnte? Niemand zeigt auf den anderen, um seine Fehler zu entschuldigen? Ja, dies trifft durchaus zu. Daraus ziehen Führungskräfte meiner Ansicht nach große Vorteile. BERUFSBEGLEITEND ZUM MASTER OF ARTS (M.A.) PROJEKTMANAGEMENT • Studium in nur 21 Monaten • International anerkannter Abschluss • Zulassung u.U. ohne Erststudium • Mit Promotionsberechtigung • Kleine Gruppen INFOS & BERATUNG UNTER: business-school@tiba.de www.master.jetzt Anzeige 24 REPORT projektManagementaktuell | AUSGABE 4.2018 Eine Abschlussfrage: Sie führen erfolgreich Workshops mit Führungskräften durch. Sie holen Manager aus ihrer gewohnten Umgebung, stellen sie vor ein Orchester und lassen sie dieses Orchester führen. Ich verstehe nichts von Partituren, ich spiele kein Instrument … Das brauchen Sie in unseren Workshops auch nicht. Es ist sogar hilfreich, wenn Ihnen dieses Wissen fehlt. Ich sage immer zu Beginn: „Genießen Sie mal etwas zu tun, das Sie gar nicht können! “ Also angenommen, ich nehme an einem Ihrer Workshops teil. Welche Impulse könnte ich am Ende für meine Führung gewinnen? Das Schönste, was ich von einer Teilnehmerin nach ihren ersten Dirigiererfahrungen vor einem Orchester gehört habe, war: „Ich bin mir erstmals selbst begegnet.“ Das war echt stark und bewegend - sowohl für die Teilnehmerin als auch für mich. Sie hatte Tränen in den Augen. Was war geschehen? Die Führungskräfte erleben ihre Führung in einem ganz anderen Zusammenhang: unmittelbar, nonverbal, absolut authentisch, sehr stark mithilfe von Haltung, Mimik und Gestik. Wenn Sie vor einem Orchester stehen, können Sie nicht mit fünfzig Folien Ihre Ideen und Ziele präsentieren. Und daraus ziehen Sie Ihre Schlüsse für Ihre Führungspraxis. Das Orchester ist für dieses Training vermutlich instruiert? Nein, ist es nicht. Es reagiert ganz unmittelbar auf Sie wie auf einen professionellen Dirigenten. Es liest Ihre nonverbale Kommunikation. Dies erklärt, weshalb Sie beim Orchester auch dann Wirkung erzielen, wenn Sie von Musik nichts verstehen. Im Zusammenspiel mit dem Orchester erleben und spüren Sie dann Ihre Wirkung auf eine Weise, wie Sie Ihnen möglicherweise bisher noch nicht zugänglich gewesen ist. Trotzdem - ich wüsste nicht, wie ich von der Partitur die ersten zehn Takte von Beethovens sechster Symphonie dirigieren sollte. Wie sollte dies gehen? Wir arbeiten nicht mit Symphonien. Tonleitern, kleine Takte und Stückchen - das ist erst einmal alles. Es geht darum, dass Sie sich spüren: Sind Sie für das Orchester klar und präsent? Überzeugen Sie? Setzen alle Musiker gleichzeitig ein, oder kleckert jeder vor sich hin? Lassen Musiker gelangweilt den Blick schweifen, oder haben Sie allein durch Ihre nonverbale Kommunikation das Orchester erreicht und seine Aufmerksam gewonnen? Das sind ganz grundlegende Dinge, die einfach scheinen und doch sehr anspruchsvoll sind. Wie reagieren Manager auf diese grundlegenden Dinge? Zunächst einmal entdeckt Jeder, dass er in bestimmten kommunikativemotionalen „Räumen“ zu Hause ist und sich wohlfühlt. Es gibt aber auch Räume, die sich für ihn ungewohnt und fremd anfühlen, aus welchen Gründen auch immer. Manche Manager werden vor dem Orchester klein und schüchtern. Dann lassen wir sie unmittelbar erleben, dass sie durch eine große mutige Geste das Orchester zu einem kraftvollen Klang bewegen können. Das eigene, großartige Potenzial zu spüren, ein Orchester steuern können - das ist ein Urerlebnis. In vielen Fällen wirkt dies wie eine Befreiung. Auch können sie andere grundlegende Elemente der Kommunikation mit und vor dem Orchester erleben, so direkt und unmittelbar wie sonst nirgendwo. Dazu gehören beispielsweise Präsenz, Verbundenheit oder Authentizität. Dient das Orchester also als Spiegel des eigenen Führungsverhaltens? Schlagzeuger - die Partitur erkunden, um den Einsatz nicht zu verpassen; Foto: furtseff - Fotolia.com REPORT 25 projektManagementaktuell | AUSGABE 4.2018 Ja, es ist ein sehr elementares und eindringliches Erlebnis der unmittelbaren eigenen Wirksamkeit. So können Sie außerhalb des eigenen Unternehmens Dinge ausprobieren, die keine direkten Konsequenzen haben. Sie können spielerisch Ihre Wirksamkeit entdecken. Wie vorhin gesagt, wer auf dem Pult steht, gibt durch die nonverbale Kommunikation wirklich sein Inneres preis, und er bewegt durch diese Authentizität das Orchester. Für viele Teilnehmer ist dies ein starkes Erlebnis, das sie nie wieder vergessen. Es geht auf Ihren Workshops also um eine unbewusste Dimension des Führens? Ich weiß nicht, ob ich dies so nennen würde. Wichtig ist mir: Sachinformationen sind für ein Team bedeutsam, daran ändert sich nichts. Projektmanager reden selbstverständlich mit ihrem Team über Ziele, Pläne, Vorgehensweise, Ideen oder Lösungen. Dies steht weiterhin beim Management im Zentrum. Beim Dirigieren ist dies nicht anders. Ein Orchester merkt schnell, wenn ich von der Sache her nicht exzellent vorbereitet bin. Doch wir wissen auch, wie wichtig es ist, dass Manager ihre Mitarbeiter in der entscheidende Phase erreichen, mitnehmen und begeistern. Überspitzt gesagt: Wenn ein Projektmanager bei einer Präsentation einen von zehn Sachpunkten nicht vermittelt, kann er dies zumeist später noch nachholen. Indes, gelingt es ihm nicht, in diesem entscheidenden Moment seine Mitarbeiter emotional zu erreichen, sie für das zu begeistern, was zu tun ist, dann ist das Projekt gescheitert, bevor es begonnen hat.  Kommunikation ohne Worte: Das Orchester reagiert auf jede Geste des Dirigenten. Foto: privat