PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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UVK Verlag Tübingen
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GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.Jenseits des Hypes – Entwicklung und Nutzung hybrider Vorgehensmodelle in der Praxis
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2018
Oliver Linssen
Marco Kuhrmann
Jil Klünder
Michael Felderer
Eckhart Hanser
Masud Fazal-Baqaie
Software ist in nahezu allen Industriesektoren zu einem Treiber für Innovation geworden. Deshalb benötigen Unternehmen Methodenkompetenz zur Softwareentwicklung. Hier werden eine Vielzahl unterschiedlicher Prozesse, Methoden und Praktiken verwendet. Die HELENA-Studie untersucht empirisch die in der Praxis eingesetzten Softwareentwicklungsansätze. Es konnte gezeigt werden, dass sogenannte „hybride“ Entwicklungsansätze die Norm für die Software- und Systementwicklung werden. Dies sind Kombinationen von agilen und traditionellen (plangetriebenen) Ansätzen, die eine Entwicklungsorganisation nach eigenen Bedürfnissen anpasst.
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50 WISSEN projektManagementaktuell | AUSGABE 4.2018 Jenseits des Hypes - Entwicklung und Nutzung hybrider Vorgehensmodelle in der Praxis Autoren: O. Linssen, M. Kuhrmann, J. Klünder, M. Felderer, E. Hanser, M. Fazal-Baqaie Software durchdringt alle Industriesektoren und ist mittlerweile zu einem Treiber für Innovation durch Digitalisierung geworden. Dadurch müssen sich viele Unternehmen - auch die des „klassischen“ produzierenden Gewerbes - mit der Entwicklung von Software auseinandersetzen und ihre Softwareentwicklungskompetenz auf- oder ausbauen. Diese Kompetenz zur Softwareentwicklung umfasst neben handwerklichen Fähigkeiten auch eine Methodenkompetenz zur Softwareentwicklung. Gerade hier stehen viele Unternehmen vor der Herausforderung, passende Entwicklungsprozesse auszuwählen oder situationsspezifisch zusammenzustellen. Typischerweise werden hierfür Vorgehensmodelle als Beschreibung der Ablauf- und Aufbauorganisation von Projekten verwendet. Es kristallisiert sich heraus, dass Unternehmen eine Vielzahl unterschiedlicher Prozesse, Methoden und Praktiken verwenden [12, 13] - oft getrieben von Prozessanforderungen aus dem Spannungsfeld schneller, agiler, kundenzentrierter Entwicklung auf der einen Seite und Entwicklung sicherheitskritischer Systeme im regulierten Umfeld auf der anderen Seite. 2011 haben West et al. [10] ein Muster benannt, nach dem die Softwareentwicklung in Unternehmen stattfindet: Der „Water-Scrum-Fall“ beschreibt ein Vorgehen, bei dem das klassische Wasserfallmodell den Rahmen vorgibt, in bestimmten Phasen aber agile Ansätze zum Einsatz kommen. Unterschiedliche, über die Jahre durchgeführte Studien, z. B. [11, 14], konnten diese Beobachtung bestätigen. Allerdings zeigte insbesondere die Studie von Theocharis et al. [11] auch eine Lücke auf: Die aktuelle Forschung beschäftigt sich zwar aus- „Hybrid dEveLopmENt Approaches in software systems development“ und widmet sich der Untersuchung der in der industriellen Praxis eingesetzten hybriden Softwareentwicklungsansätze. Nach [2] definieren wir den Begriff „hybrider Softwareentwicklungsansatz“ als Kombination von agilen und traditionellen (plangetriebenen) Ansätzen, die eine Entwicklungsorganisation nach eigenen Bedürfnissen anpasst. Vereinfacht ausgedrückt wird beispielsweise eine traditionelle Vorgehensweise um agile Elemente, z. B. im Bereich der Qualitätssicherung, angereichert, um spezifische Rahmenbedingungen des Projekts zu erfüllen. Dies können Anforderungen im Unternehmen oder behördliche Auflagen sein. Ziel der HELENA-Studie ist es, Erkenntnisse darüber zu sammeln, welche Entwicklungsansätze in der Praxis eingesetzt werden, welche Entwicklungsansätze sich praktisch bewährt haben und wie sie in firmen- und projektspezifischen Entwicklungsansätzen kombiniert werden. Somit entsteht eine Hilfestellung, um Entwicklungsansätze auf einer empirischen Grundlage auszuwählen und zu kombinieren. Weiterhin sollen Faktoren identifiziert werden, die die Entwicklung hybrider Softwareentwicklungsansätze beeinflussen. Außerdem soll der Frage nachgegangen werden, welche Probleme in der Software- und Systementwicklung durch den Einsatz hybrider Softwareentwicklungsansätze gelöst werden können. Dieser Artikel fasst die Zwischenergebnisse der ersten Stufe der HELENA-Studie, basierend auf den Antworten einer in Europa durchgeführten Online-Umfrage [2], zusammen, und gibt einen Überblick über aktuell laufende Aktivitäten des HELENA-Projekts. Die bisher gesammelten Daten zeigen, dass die Kombination von unterschiedlichen Methoden und Praktiken in Unternehmen aller Größen und unabhängig von Industriesekto- >> Für eilige Leser Software ist in nahezu allen Industriesektoren zu einem Treiber für Innovation geworden. Deshalb benötigen Unternehmen Methodenkompetenz zur Softwareentwicklung. Hier werden eine Vielzahl unterschiedlicher Prozesse, Methoden und Praktiken verwendet. Die HELENA-Studie untersucht empirisch die in der Praxis eingesetzten Softwareentwicklungsansätze. Es konnte gezeigt werden, dass sogenannte „hybride“ Entwicklungsansätze die Norm für die Software- und Systementwicklung werden. Dies sind Kombinationen von agilen und traditionellen (plangetriebenen) Ansätzen, die eine Entwicklungsorganisation nach eigenen Bedürfnissen anpasst. führlich mit agilen Ansätzen, kümmert sich aber kaum um traditionelle Ansätze. Folglich ist es schwierig, Aussagen über die Entstehung von integrierten Ansätzen und praktisch relevanten Prozesskombinationen zu machen oder die Frage nach dem Einfluss von Standards auf den Einsatz agiler Methoden zu beantworten. Ebenso fehlen Daten zum Zusammenhang zwischen dem Einsatz kombinierter Softwareprozesse und der Firmengröße oder dem Industriezweig des Unternehmens, in dem ein Softwareprojekt stattfindet. Auf der Grundlage von [11] wurde daher die HELENA-Studie entworfen [1]. HELENA steht für WISSEN 51 projektManagementaktuell | AUSGABE 4.2018 ren auftritt. Dabei wurden bislang fünf Kombinationsmuster (Process Patterns) identifiziert, in welchen traditionelle Prozessframeworks wie das V-Modell den Integrationsrahmen für verschiedene agile Praktiken bieten und die gleichzeitig zeigen, dass auch agile Methoden wie Scrum zunehmend als Integrationsrahmen verwendet werden. 1 Das HELENA-Projekt Das HELENA-Projekt ist eine groß angelegte internationale Studie, an der sich 75 Forscher und Praktiker aus insgesamt 23 Ländern beteiligen. Im Projekt plant, moderiert und steuert ein Kernteam von acht Forschern das Gesamtprojekt, in dem die beteiligten Forscher und Praktiker die Datenerhebung und Auswertung weltweit durchführen. 1.1 Anatomie des HELENA-Projekts Die HELENA-Studie besteht im Kern aus zwei Teilen und kombiniert Online-Umfragen und darauf aufbauende Folgestudien (Abb. 1). Im ersten Teil wurden mit einer Online-Umfrage quantitative Daten zum praktischen Einsatz der unterschiedlichen Entwicklungsansätze in der Breite gesammelt. Im zweiten Teil sollen auf dieser Basis eine Reihe gezielter Folgestudien (z. B. Interviews) durchgeführt werden. Der erste Teil der HELENA-Studie wurde zweistufig ausgelegt. Daher handelt es sich insgesamt um einen dreistufigen Forschungsansatz [1], den wir im Folgenden erläutern: • Stufe 1 hat zum Ziel, eine initiale Version des Online-Fragebogens zu erstellen, erste qualitative und quantitative Daten zu sammeln, den Fragebogen zu testen, die Evaluationsinstrumente zu entwickeln und erste Analysen durchzuführen [1, 2]. • Stufe 2 hat zum Ziel, quantitative Daten zu dem Einsatz hybrider Entwicklungsansätze in der Breite zu sammeln. Hierzu wurde der Online-Fragebogen mit den Erkenntnissen der Stufe 1 verfeinert und weltweit verteilt. Hier befinden wir uns aktuell (zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Artikels), in der Phase der Datenanalyse. • Stufe 3 hat zum Ziel, die verdichteten Erkenntnisse aus Stufe 2 zu validieren. Hierzu sollen unterschiedliche Folgestudien durchgeführt werden, z. B. Interviews mit ausgewählten Teilnehmenden zur Vertiefung ausgewählter Themen oder weitergehende Befragungen zur Verbreiterung der Datenbasis. 1.2 Forschungsmethodik im HELENA-Projekt Ziel der HELENA-Studie ist es, den aktuellen Stand der Praxis in Bezug auf agile, hybride und traditionelle Entwicklungsansätze zu ermitteln und die Verbreitung unterschiedlicher Methoden zu analysieren [1, 2]. Darüber hinaus soll untersucht werden, mit welcher Motivation und mit welchen Zielen ausgewählte Methoden und Praktiken in den Entwicklungsprozess integriert werden. Grundsätzlich werden folgende Fragen untersucht: 1. Welche Entwicklungsansätze werden in der Praxis verwendet? 2. Wie werden die unterschiedlichen Entwicklungsansätze miteinander kombiniert? 3. Inwiefern beeinflussen Standards die Entwicklung hybrider Entwicklungsansätze? Dazu wurde eine Umfrage entwickelt, die unter Praktikern aus unterschiedlichen Domänen mit Bezug zur Softwareentwicklung verteilt wurde. Stufe 1 der HELENA-Studie wurde im Zeitraum Mai bis Juni 2016 vornehmlich in Europa durchgeführt. Zum Einsatz kam ein Online-Fragebogen mit bis zu 25 Fragen aus 5 Fragengruppen: 1. Demografie (max. 7 Fragen) - Diese Fragengruppe dient der Charakterisierung der Umfrageteilnehmer. 2. Verwendete Prozesse (max. 7 Fragen) - diese Fragengruppe dient der Ermittlung der verwendeten Entwicklungsansätze und untersucht die Implementierung agiler und traditioneller Entwicklungsansätze in den unterschiedlichen Disziplinen des Software Engineerings (z. B. Projektmanagement, Implementierung, Test). Ferner dient diese Fragengruppe der Ermittlung, wie ein konkreter hybrider Entwicklungsansatz entwickelt wurde. 3. Verwendete Prozesse und Standards (max. 4 Fragen) - diese Fragengruppe dient der Ermittlung, ob und welche externen Normen und Standards für das entsprechende Unternehmen relevant sind, etwa für die Entwicklung sicherheitskritischer Systeme. Abb. 1: Grundsätzlicher Aufbau der HELENA-Studie 52 WISSEN projektManagementaktuell | AUSGABE 4.2018 4. Verwendete Prozesse und Prozessverbesserung (max. 4 Fragen) - diese Fragengruppe dient der Ermittlung, wie ein hybrider Entwicklungsansatz in das organisatorische Prozessökosystem eingebunden ist, also ob etwa ein strukturiertes Prozessverbesserungsprogramm für die Entwicklung des hybriden Entwicklungsansatzes verwendet wurde. 5. Erfahrungen (max. 3 Fragen) - diese Fragengruppe dient der Sammlung von Erfahrungen und Problemen und Herausforderungen bei der Entwicklung/ Umsetzung von hybriden Entwicklungsansätzen. Die Anzahl der Fragen hing zum Teil von vorherigen Antworten ab und variierte deshalb. Insgesamt beantworteten 69 Teilnehmer der Online- Umfrage den Fragebogen vollständig. Für die Datenanalyse und die Auswertung kamen verschiedene Verfahren zum Einsatz. Deskriptive Statistik wurde verwendet, um die Ergebnisse als Ganzes zu erfassen. Für die Analyse von Methoden-Clustern und zur Ableitung von Process Patterns wurden statistische Clustering-Verfahren (Affinity Propagation Clustering und Spectral Clustering) verwendet und für Hypothesentests wurde Pearsons 2 angewendet. 1.3 Vergleichbare Studien Die HELENA-Studie hat sich aus unterschiedlichen Vorarbeiten, z. B. [11], heraus entwickelt. Gleichzeitig gibt es eine Anzahl an Studien, die über die Jahre den Einsatz und die Kombination unterschiedlicher Entwicklungsansätze untersucht haben. Bereits 2003 haben Cusumano et al. [12] 104 Projekte untersucht und dabei festgestellt, dass viele Projekte unterschiedliche Entwicklungsansätze kombinieren. Die Studie von Jones [13], die auf ca. 12.000 Projekten basiert, zeigt ähnliche Ergebnisse. Die Studie von Neill and Laplante [15] hat ergeben, dass circa 35 Prozent der Teilnehmer das Wasserfallmodell nutzen, aber auch, dass evolutionär/ inkrementelle Ansätze in bestimmten Projektphasen verwendet werden. Seit 2005 zeigen mehrere in Deutschland durchgeführte Studien [11] unabhängig voneinander, dass unterschiedliche Methoden und Techniken miteinander kombiniert werden. In 2015 haben Vijayasarathy und Butler [14] sowie Garousi et al. [16] gezeigt, dass klassische Ansätze wie das Wasserfallmodell verstärkt mit agilen Ansätzen kombiniert werden. Auch zu erwähnen sind die lang laufenden Studien wie der „State of Agile Report“ von Version Abb. 2: Überblick über die praktische Anwendung der unterschiedlichen Entwicklungsansätze; „M“ steht für Methoden, „P“ steht für einzelne Entwicklungspraktiken. WISSEN 53 projektManagementaktuell | AUSGABE 4.2018 One (http: / / stateofagile.versionone.com/ ) und die Studie „Status Quo Agile“ der Hochschule Koblenz (www.hs-koblenz.de/ en/ rmc/ fachberei che/ economics/ forschung-projekte-weiterbildung/ forschungsprojekte/ status-quo-agile-201617en/ ). Diese Studien sind jedoch nicht mit der HELENA-Studie vergleichbar, da sie einen klaren Fokus auf die Nutzung agiler Methoden legen, während die HELENA-Studie, ausgehend vom „Water-Scrum-Fall“-Prinzip, wertungsfrei nach allgemeinen Mustern der Prozesskombination und deren Nutzung sucht, ohne auf ein bestimmtes Entwicklungsparadigma im Besonderen einzugehen. 2 Bisherige Ergebnisse In diesem Abschnitt geben wir einen Überblick über die Ergebnisse, die in der ersten Stufe der HELENA-Studie erarbeitet wurden. Im Anschluss geben wir einen Einblick in die Zwischenergebnisse aus der zweiten Stufe, welche im Rahmen des 2. HELENA-Workshops, der im November 2017 in Innsbruck durchgeführt wurde [3], präsentiert wurden. 2.1 Ausgewählte Ergebnisse aus Stufe 1 In der ersten Stufe der HELENA-Studie wurden die eingesetzten Entwicklungsansätze quantitativ erfasst. Die Teilnehmer konnten alle in ihren Projekten eingesetzten Entwicklungsansätze aus einer Liste von 40 Methoden und Praktiken auswählen und weitere hinzufügen. Abbildung 2 (entnommen aus [2]) zeigt, wie häufig die einzelnen Entwicklungsansätze von den Teilnehmern eingesetzt werden. Schon hier ist erkennbar, dass die Teilnehmer in der Regel mehr als nur einen Entwicklungsansatz verwenden, das heißt sie kombinieren unterschiedliche Methoden und Praktiken. Eine Selbstevaluation der Teilnehmer hinsichtlich der Umsetzung der unterschiedlichen Aufgaben in einem Projekt hat gezeigt, dass die meisten Teilnehmer ein ausbalanciertes Vorgehen hinsichtlich traditioneller und agiler Elemente anstreben. Abbildung 3 (entnommen aus [2]) illustriert dies anhand der Kerndisziplinen des Software Engineering Body of Knowledge (SWE- BoK [18]). Die Umfragedaten zeigen, dass alle Unternehmen - unabhängig von der Unternehmensgröße - ein ausbalanciertes Vorgehen anstreben, wobei bestimmte Aufgaben in Projeksätzliches Muster angenommen werden kann. Auf der Grundlage der Antworten wurde bezüglich Anwendung und Kombination der unterschiedlichen Entwicklungsansätze eine Koinzidenzmatrix erstellt, welche die Kombinationen präziser beschreibt. Aus dieser Matrix konnten fünf Cluster abgeleitet werden [2], die zwei wesentliche Ausprägungen haben: In der ersten Ausprägung werden traditionelle Vorgehensmodelle mit agilen Methoden und Praktiken kombiniert, wobei das „klassische“ Vorgehen in der Regel den organisatorischen Rahmen bildet und die agilen Elemente die täglichen Arbeitsroutinen abbilden. In der zweiten Ausprägung dienen agile Methoden wie Scrum oder Skalierungs-Frameten (erwartungsgemäß) eher traditionell durchgeführt werden, wie etwa das Risikomanagement, während andere Disziplinen eher agil umgesetzt werden, insbesondere Aufgaben aus den Disziplinen Implementierung, Codierung, Test und Integration. Anhand der ausgewählten Entwicklungsansätze und der jeweiligen demografischen Daten wurde untersucht, ob es Abweichungen im Hinblick auf die Nutzung von Methoden und Praktiken gibt. Abbildung 4 (entnommen aus [17]) zeigt eine aggregierte Darstellung der Mittelwerte der Nutzung der unterschiedlichen Entwicklungsansätze. Unternehmen setzen unabhängig von der Größe des Unternehmens und vom Industriesektor hybride Entwicklungsansätze ein 1) . Die Abweichungen von den in Abbildung 4 gezeigten Mittelwerten bewegen sich hierbei im unteren einstelligen Prozentbereich, sodass hier ein grund- Abb. 3: Umsetzung der unterschiedlichen Projektdisziplinen (nach SWEBoK) aufgeschlüsselt nach Unternehmensgröße; die Skala reichte von 1 = „Disziplin wird vollständig traditionell implementiert“ bis 5 = „Disziplin wird vollständig agil implementiert“. 1) Für eine detaillierte Darstellung der einzelnen Datenpunkte sei an dieser Stelle auf [17] verwiesen. Für die statistischen Tests zu diesen Fragen verweisen wir auf [2]. 54 WISSEN projektManagementaktuell | AUSGABE 4.2018 works wie SAFe (Scaled Agile Framework) als Integrationsmittel, das heißt, agile Methoden und Praktiken werden miteinander kombiniert. Abschließend wurden die Teilnehmer befragt, wie die aktuellen Entwicklungsansätze entstanden sind (mehrere nicht exklusive Auswahloptionen). Hier gaben ca. 84 Prozent der Teilnehmer an, dass die hybriden Entwicklungsansätze über die Zeit und evolutionär aus Erfahrungen zurückliegender Projekte entstanden sind. Eine geplante und gesteuerte Entwicklung dieser Entwicklungsansätze haben lediglich ca. 20 Prozent der Teilnehmer angegeben. Es ist insbesondere auffällig, dass ca. 54 Prozent konkrete Entwicklungsansätze im Projekt nach Bedarf auswählen, wobei 25 Prozent der Befragten angeben, dass die Auswahl von Kundenanforderungen beeinflusst wird. 2.2 Zwischenergebnisse aus Stufe 2 Im Rahmen des 2. HELENA-Workshops [3] wurden vorläufige Ergebnisse aus der zweiten Stufe der Studie (Basis: 501 Datensätze; Stand: 15. August 2017) vorgestellt. Dabei gaben ca. 75 Prozent der Teilnehmenden an, dass sie unterschiedliche Entwicklungsansätze kombinieren. Tell et al. [4] präsentierten vorläufige Ergebnisse aus Dänemark basierend auf 22 Datensätzen. Dabei zeigte sich, ebenso wie in [3], eine deutliche Tendenz in Richtung agiler Ansätze (ca. 63 %), die nicht von der Unternehmensgröße und dem Industriesektor abhängt. Jedoch sind vor allem im Automobilsektor traditionelle Methoden verbreiteter. Teams mit weniger als zehn Angestellten scheinen ebenso „weniger agil“ zu arbeiten. Scott et al. [5] präsentierten vorläufige Ergebnisse aus Estland und verglichen diese mit Ergebnissen aus Schweden und weltweit. Basierend auf zwölf Datensätzen aus Estland (Stand: 20. Juni 2017) konnte eine deutliche Präferenz höhere Produktivität (57 %) und eine höhere Produktqualität (57 %) an. Paez et al. [8] werteten 53 Datenpunkte aus Argentinien aus. Dabei bezogen sich mehr als 40 Prozent der Datenpunkte auf mittlere Unternehmen. Es stellte sich heraus, dass die meisten genutzten Praktiken (u. a. Backlog-Management, Coding-Standards, Iterations-/ Sprint-Reviews) auf Methoden von Scrum, XP und Crystal zurückzuführen sind. Felderer et al. [9] fassten vorläufige Ergebnisse basierend auf 22 Datenpunkten aus Österreich zusammen. Dabei bot sich ein nahezu ausgeglichenes Bild zwischen agilen und traditionellen Best Practices. Iterative Development und Scrum sind in Österreich am weitesten verbreitet. Kanban, Wasserfallmodell und das V-Modell sind ebenso etabliert. Viele andere Prozessmodelle sind hingegen unbekannt oder werden nur selten genutzt. 3 Zusammenfassung und Ausblick Bislang zeichnen die bereits analysierten und die sich aktuell in der Analyse befindlichen Daten der Stufen 1 und 2 der HELENA-Studie ein deutliches Bild: Die Aussage von West et al. [10], dass hybride Entwicklungsansätze (aka „Water- Scrum-Fall“) die Norm für die Software- und Systementwicklung werden, kann bestätigt werden. Bereits in der ersten Stufe der HELENA- Studie konnte dies gezeigt werden, und es konnten vielfältige, zumeist organisatorische Einflussfaktoren identifiziert werden. Beachtenswert sind insbesondere die Indikatoren, die darauf hinweisen, dass solche hybriden Entwicklungsansätze nicht geplant entstehen, sondern in der Regel Ergebnis eines evolutionären Arbeits- und Lernprozesses sind. Ein grundsätzliches Bild zeichnet sich auch in der Nutzung der unterschiedlichen Entwicklungsvon wenigen agilen Frameworks ermittelt werden. Dabei wird Scrum in 58 Prozent aller Fälle genutzt, wobei zu berücksichtigen ist, dass nur drei Frameworks (Scrum, Wasserfallmodell und eXtreme Programming) allen Teilnehmenden bekannt waren. Auch in Schweden ist Scrum weit verbreitet, wurde jedoch nur in 8 Prozent der Fälle immer verwendet. Neben Scrum sind auch Iterative Development, Kanban und das Wasserfallmodell weit verbreitet. Extreme Programming hingegen wurde in 46 Prozent der Fälle „kaum” oder „selten” genutzt und niemals „meistens” oder „immer”. Von den Praktiken und Methoden fanden Coding Standards und Code Reviews in beiden Ländern die größte Anwendung. Nakatumba-Nabende et al. [6] lieferten einen Überblick über vorläufige Ergebnisse aus Schweden und Uganda. Dabei lag der Fokus auf der Identifikation der am wenigsten bekannten und der am weitesten verbreiteten Prozessmodelle in beiden Ländern. Es stellte sich heraus, dass Crystal in beiden Ländern entweder unbekannt ist oder sich nicht etabliert hat. DSDM (früher die Abkürzung für: Dynamic Systems Development Method) hingegen ist in Schweden recht unbekannt bzw. nicht etabliert, wird aber in Uganda vielfach genutzt. Bei Kanban zeigte sich das entgegengesetzte Bild: In Uganda ist es nicht verbreitet, in Schweden wird es hingegen vielfach angewendet. Klünder et al. [7] stellten vorläufige Ergebnisse für deutsche Organisationen vor. Basierend auf 95 Datensätzen zeigte sich, dass die meisten Unternehmen mit mehr als 2.500 Angestellten agile und traditionelle Ansätze kombinieren, um häufigere Auslieferungen zu ermöglichen (64 %), um die Flexibilität (64 %) oder die Produktivität (64 %) zu erhöhen. Kleine Unternehmen wollen in erster Linie die Zufriedenheit der Angestellten erhöhen (81 %). Sehr kleine Unternehmen mit weniger als zehn Angestellten streben eine Abb. 4: Anwendung der unterschiedlichen Klassen von Entwicklungsansätzen nach Unternehmensgröße und Industriesektor WISSEN 55 projektManagementaktuell | AUSGABE 4.2018 ansätze ab: Agilität hat sich im Mainstream etabliert, jedoch gehen Unternehmen die teilweise stark „gehypte“ agile Transformation sehr viel nüchterner an als erwartet. Tatsächlich scheinen Unternehmen bemüht, ein ausbalanciertes Vorgehen für die Software- und Systementwicklung zu implementieren, welches organisatorische Schnittstellen anbietet und damit den Anforderungen des klassischen Projektmanagements oder der Zertifizierung von Produkten Rechnung trägt, gleichzeitig aber auch große Freiheitsgrade für die Projektteams beinhaltet. In diesem Sinne lassen die bisherigen Ergebnisse aus der HELENA-Studie darauf schließen, dass sich Agilität zunehmend vom „Entwicklungsparadigma“ zu einer Kulturfrage für Unternehmen und Projektteams wandelt und dass aus Sicht des Softwareentwicklungsprozesses eher wieder der Pragmatismus Einzug hält. Am besten lässt sich dies illustrieren durch eine Antwort auf die Frage „Warum setzen Sie diese Prozesskombination ein? “, in welcher ein Teilnehmer lediglich angab: „Es ist das, was funktioniert.“ Die hier berichteten Ergebnisse der ersten Stufe der HELENA-Studie sowie die Einblicke in erste Daten der zweiten Stufe bilden nur einen kleinen Ausschnitt ab. Aktuell zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Artikels (Juni 2018) werden die vollständigen Daten der zweiten Stufe analysiert. Mit ersten Ergebnissen ist im Rahmen des 3. HELENA Workshops (https: / / helenastudy.word press.com/ helena-results/ 3rd-helena-workshopnovember-28-2018) zu rechnen, welcher am 28. November 2018, angegliedert an die Konferenz „PROFES 2018“ (https: / / profes2018.wordpress. com), in Wolfsburg stattfinden wird. Weitere und kontinuierliche Informationen zur HELENA-Studie sind über folgende Kanäle erhältlich: • Projektwebseite: https: / / helenastudy.wordpress.com/ • Forschungsergebnisse: www.researchgate.net/ project/ HELENA- SURVEY-Hybrid-dEveLopmENt-Approachesin-software-systems-development • Twitter: @helena_survey Literatur [1] Kuhrmann, Marco/ Münch, Jürgen/ Diebold, Phillip/ Linssen, Oliver/ Prause, Christian R.: On the Use of Hybrid Development Approaches in Software and Systems Development: Construction and Test of the HELENA Survey. In: Tagungsband Projektmanagement und Vorgehensmodelle 2016 (PVM 2016), Lecture Notes in Informatics P-236. ISSN 1617-5468, Paderborn 2016, S. 59-68 [2] Kuhrmann, Marco/ Diebold, Philipp/ Münch, Jürgen/ Tell, Paolo/ Garousi, Vahid/ Felderer, Michael/ Trektere, Kitija/ McCaffery, Fergal/ Prause, Christian R./ Hanser, Eckhart/ Linssen, Oliver: Hybrid Software and System Development in Practice: Waterfall, Scrum, and Beyond. In: Proceedings of the International Conference on Software and System Process (ICSSP 2017). Paris, France, 2017 [3] Kuhrmann, Marco/ Diebold, Philipp/ MacDonell, Stephen/ Münch, Jürgen: 2 nd Workshop on Hybrid Development Approaches in Software Systems Development. 2017, 10.1007/ 978-3- 319-69926-4_28 [4] Tell, Paolo/ Pfeiffer, Rolf-Helge/ Schultz, Ulrik Pagh: HELENA Stage 2 - Danish Overview. In: International Conference on Product-Focused Software Process Improvement. Springer, Cham 2017 [5] Scott, E./ Pfahl, D./ Hebig, R./ Heldal, R./ Knauss, E.: Initial Results of the HELENA Survey Conducted in Estonia with Comparison to Results from Sweden and Worldwide. In: International Conference on Product-Focused Software Process Improvement. Springer, Cham, 2017, S. 404-412 [6] Nakatumba-Nabende, J./ Kanagwa, B./ Hebig, R./ Heldal, R./ Knauss, E.: Hybrid Software and Systems Development in Practice: Perspectives from Sweden and Uganda. In: International Conference on Product-Focused Software Process Improvement. Springer, Cham, 2017, S. 413-419 [7] Klünder, J./ Hohl, P./ Fazal-Baqaie, M./ Krusche, S./ Küpper, S./ Linssen, O./ Prause, C. R.: HELENA Study: Reasons for Combining Agile and Traditional Software Development Approaches in German Companies. In: International Conference on Product-Focused Software Process Improvement. Springer, Cham, 2017, S. 428-434 [8] Paez, N./ Fontdevila, D./ Oliveros, A.: HELENA Study: Initial Observations of Software Development Practices in Argentina. In: International Conference on Product-Focused Software Process Improvement. Springer, Cham, 2017, S. 443-449 [9] Felderer, M./ Winkler, D./ Biffl, S.: Hybrid Software and System Development in Practice: Initial Results from Austria. In: International Conference on Product-Focused Software Process Improvement. Springer, Cham, 2017, S. 435-442 [10] West, Dave/ Gilpin, Mike/ Grant, Tom/ Anderson, Alissa: Water-Scrum-Fall Is The Reality Of Agile For Most Organizations Today. In: Technical Report, Forrester Research Inc., 2011 [11] Theocharis, Georgios/ Kuhrmann, Marco/ Münch, Jürgen/ Diebold, Philipp: Is Water- Scrum-Fall Reality? On the Use of Agile and Traditional Development Practices. In: International Conference on Product Focused Software Development and Process Improvement. Lecture Notes in Computer Science, Vol. 9459. Springer, Cham, 2015, S. 149-166 [12] Cusumano, M./ MacCormack, A./ Kemerer, C. F./ Crandall, B.: Software development worldwide: the state of the practice. In: IEEE Software, Vol. 20, Nr. 6, Nov. 2003, S. 28-34 [13] Jones, C.: Variations in software development practices. In: IEEE Software, Vol. 20, Nr. 6, Nov. 2003, S. 22-27 [14] Vijayasarathy, L./ Butler, C.: Choice of Software Development Methodologies: Do Organizational, Project and Team Characteristics Matter? In: IEEE Software, Vol. 33, Nr. 5, 2015, S. 86-94 [15] Neill, C. J./ Laplante, P. A.: Requirements engineering: the state of the practice. In: IEEE Software, Vol. 20, Nr. 6, 2003, S. 40-45 [16] Garousi, V./ Coskuncay, A./ Betin-Can, A./ Demirors, O.: A survey of software engineering practices in turkey. In: Journal of Systems and Software, 108, 2015, S. 148-177 [17] Kuhrmann, M./ Diebold, P./ Münch, J./ Tell, P./ Trektere, K./ McCaffery, F./ Garousi, V./ Felderer, M./ Linssen, O./ Hanser, E./ Prause, C. R.: Hybrid Software Development Approaches in Practice: A European Perspective. In: IEEE Software, 2018, in press [18] Bourque, Pierre/ Fairley, Richard E. (Hrsg.): Guide to the Software Engineering Body of Knowledge, Version 3.0. IEEE Computer Society, Washington, DC, USA, 2014 Schlagwörter agil, agile Vorgehensweise, Digitalisierung, empirische Untersuchung, Entwcklungsmethode, Fragebogen, hybrid, hybride Vorgehensweise, IT, Phasenmodell, Software, Softwareentwicklung, Vorgehensmodell Kompetenzelemente der ICB 4.0 3.04 Ablauf und Termine, 3.10 Planung und Steuerung 56 WISSEN projektManagementaktuell | AUSGABE 4.2018 Autoren Dr. Oliver Linssen war Softwareentwickler, Berater, Projektleiter und zwölf Jahre lang Geschäftsführer eines Dienstleisters im Bereich Softwareentwicklung. Heute gibt er sein Wissen als Professor für Wirtschaftsinformatik und in Seminaren weiter. Er ist Sprecher der Fachgruppe IT-Projektmanagement der GPM. Anschrift: FOM Hochschule für Oekonomie & Management, Hochschulstudienzentrum Düsseldorf, Toulouser Allee 53, 40211 Düsseldorf, E-Mail: Oliver.Linssen@fom.de Dr. habil. Marco Kuhrmann ist Privatdozent an der TU Clausthal und einer der Geschäftsführer am Institute for Applied Software Systems Engineering der TU Clausthal. Er forscht zur Methodik der Programm- und Systementwicklung und erarbeitet in enger Kooperation mit der Industrie agile Software- und Systementwicklungsmodelle in regulierten Umfeldern. Anschrift: Technische Universität Clausthal - Institute for Applied Software Systems Engineering, Wallstraße 6, 38640 Goslar, E-Mail: kuhrmann@acm.org Jil Klünder ist Promotionsstudentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Software Engineering der Leibniz Universität Hannover. Ihre Forschungsthemen sind agile und hybride Softwareentwicklung, Informationsflussanalyse und soziale Aspekte des Entwicklungsprozesses. Anschrift: Leibniz Universität Hannover, FG Software Engineering, Welfengarten 1, 30167 Hannover, E-Mail: jil.kluender@inf. uni-hannover.de Dr. Michael Felderer ist Professor für Software Engineering an der Universität Innsbruck sowie Gastprofessor am Blekinge Institute of Technology in Schweden. Er forscht in enger Kooperation mit Firmen, speziell in den Bereichen Softwarequalität und Entwicklungsprozesse und gibt sein Know-how auch als Berater und regelmäßiger Sprecher auf Praktikerkonferenzen weiter. Anschrift: Universität Innsbruck, Institut für Informatik, Technikerstraße 21a, 6020 Innsbruck, Österreich, E-Mail: Michael.Felderer@ uibk.ac.at Dr. Eckhart Hanser ist Professor für Software- Engineering an der Dualen Hochschule Baden- Württemberg (DHBW) in Lörrach. Er ist Leiter des Studienzentrums IT- Management & Informatik (SZI) der DHBW und Gründer und Leiter des Kompetenzzentrums für agile IT-Prozesse (KAP). Er ist Sprecher der Fachgruppe Vorgehensmodelle der GI. Anschrift: Duale Hochschule Baden-Württemberg Lörrach, Hangstraße 46-50, 79539 Lörrach, E-Mail: Hanser@dhbw-loerrach.de Dr. Masud Fazal-Baqaie ist Gruppenleiter beim Fraunhofer-Institut für Entwurfstechnik Mechatronik und stellvertretender Sprecher der Fachgruppe Vorgehensmodelle der GI. Zu seinen Themenschwerpunkten zählen bedarfsgerechte und agile Softwareentwicklungsmethoden für Software-intensive Systeme sowie Security-by-Design. Anschrift: Fraunhofer-Institut für Entwurfstechnik Mechatronik IEM, Abteilung Softwaretechnik und IT-Sicherheit, Zukunftsmeile 1, 33102 Paderborn, E-Mail: Masud.Fazal-Baqaie@iem. fraunhofer.de Beilagen in diesem Heft • 2 x GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V. • PLANTA Projektmanagement-Systeme GmbH Wir bitten um Beachtung.
