eJournals PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL 30/2

PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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2941-0878
2941-0886
UVK Verlag Tübingen
0301
2019
302 GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.

„Da prallen zwei Welten aufeinander!“

0301
2019
Oliver Steeger
Rafaela Kraus
Hybride Ansätze gelten als Trendthema im Projektmanagement. Unternehmen bauen Brücken zwischen agilem und klassischem Projektmanagement. Sie stellen für ihre Zwecke die jeweils optimalen Methoden aus beiden Welten zusammen. Doch Fachleute setzen immer häufiger Fragezeichen hinter hybride Vorgehensweisen. Mag hybrides Projektmanagement zunächst pragmatisch und wie ein vernünftiger Mittelweg klingen, am Ende kann der Ansatz an unterschiedlichen Kulturen im Unternehmen scheitern. Prof. Rafaela Kraus von der Universität der Bundeswehr München warnt davor, Dinge zusammenzubringen, die sich möglicherweise widersprechen. Schlimmstenfalls behindern sich die beiden PM-Welten gegenseitig. Was dies für Projektmanager bedeutet, weshalb die Kultur so wichtig ist und wie Unternehmen mit kulturellen Schwierigkeiten umgehen können, dies erklärt sie im Interview.
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Hybride Ansätze - wirklich der Königsweg? Hybride Ansätze gelten als Trendthema im Projektmanagement. Unternehmen bauen Brücken zwischen agilem und klassischem Projektmanagement. Sie stellen für ihre Zwecke die jeweils optimalen Methoden aus beiden Welten zusammen. Doch Fachleute setzen immer häufiger Fragezeichen hinter hybride Vorgehensweisen. Mag hybrides Projektmanagement zunächst pragmatisch und wie ein vernünftiger Mittelweg klingen, am Ende kann der Ansatz an unterschiedlichen Kulturen im Unternehmen scheitern. Prof. Rafaela Kraus von der Universität der Bundeswehr München warnt davor, Dinge zusammenzubringen, die sich möglicherweise widersprechen. Schlimmstenfalls behindern sich die beiden PM-Welten gegenseitig. Was dies für Projektmanager bedeutet, weshalb die Kultur so wichtig ist und wie Unternehmen mit kulturellen Schwierigkeiten umgehen können, dies erklärt sie im Interview. Neuere Untersuchungen zeigen, dass hybrides Projektmanagement in Unternehmen auf dem Vormarsch ist und sich immer weiter verbreitet. Statt sich für klassisches oder agiles Projektmanagement zu entscheiden, vermischen Unternehmen die beiden Ansätze. Je nach Anforderungen ihrer Branche oder ihrer Projekte verwenden sie aus beiden Ansätzen die Methoden, die ihnen für ihre Zwecke am besten geeignet scheinen. Da existiert beispielsweise klassisches Risikomanagement oder Stakeholdermanagement neben Sprints aus Scrum. Dieses Patchwork scheint auf den ersten Blick pragmatisch, unideologisch und erfrischend vernünftig. Dennoch, Sie sind skeptisch und raten hinsichtlich der Freiheit bei der Methodenwahl zur Vorsicht. Weshalb? Prof. Rafaela Kraus: Aus meiner Sicht besteht die Gefahr, dass Dinge zusammengebracht werden, die sich eigentlich widersprechen. Stellen Sie sich ein Team vor, das nach der Scrum-Methodik selbstorganisiert in Sprints arbeiten soll. Es soll dabei intensiv kommunizieren, es gibt viele Abstimmungsrunden. Dann versucht jemand, diese aufwendige und komplexe Vorgehensweise in eine klassische Projektorganisation einzubetten, bei der von Beginn an festgelegt wird, welches Produkt am Ende herauskommen soll. Daraus ergibt sich ein starker Widerspruch zum agilen Gedanken. Ketzerisch gefragt - geht es da um den alten Streit, wer das Sagen hat und entscheiden darf? Nein. Der Kernpunkt agiler Methoden ist nicht, dass Mitarbeiter selbstorganisiert arbeiten dürfen. Bei agilem Management geht es um die Maximierung des Kundennutzens - dies allein steht im Vordergrund! Und dazu passt es nicht, wenn Manager nur aufgrund ihres Hierarchielevels auf Arbeitsergebnisse Einfluss nehmen. Die Verantwortung soll allein da liegen, wo die Fachkompetenz ist - nämlich beim Team, das die Kundenbedürfnisse meist besser kennt als der Manager. Mit dem agilen und dem klassischen Ansatz prallen also zwei Welten aufeinander; sie behindern sich gegenseitig. Einige Unternehmen müssen aber Wasserfall-Ansätze und agile Methoden kombinieren, weil die beteiligten Unternehmensbereiche nicht alle agil arbeiten. Augenblick! Kann man die Kombination von agilen und klassischen Methoden nicht auch anders sehen? Das Unternehmen baut Brücken, indem es diese zwei Welten zusammenbringt. Rafaela Kraus Prof. Dr. Rafaela Kraus ist Vizepräsidentin für Entrepreneurship und Angewandte Wissenschaften und lehrt Personalmanagement an der Universität der Bundeswehr München. Sie berät Unternehmen in den Bereichen Projektmanagement und Human Resources Management. Nach dem Studium der Betriebswirtschaftslehre promovierte sie in der Wirtschaftspsychologie. Sie ist Expertin für Leadership, Changemanagement und Eignungsdiagnostik. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen auf der Entwicklung von HR-Strategien, der Begleitung von Changemanagement-Prozessen und der Entwicklung von Personalauswahlverfahren. Foto: Universität der Bundeswehr München - Benjamin Mayer „Da prallen zwei Welten aufeinander! “ Autor: Oliver Steeger REPORT 05 projektManagementaktuell | AUSGABE 2.2019 Man trägt der agilen Welt Rechnung und stellt auch die zufrieden, die mit dem klassischen Management unterwegs sind ... Solche Brücken zu bauen ist nicht einfach. Zwei Beispiele: In einem Unternehmen arbeitet die Marketingabteilung mit langfristigen Kommunikationsplänen, um für neue Produkte oder Features zu werben. Auch der Einkauf muss wissen, was genau gekauft wird und wie teuer das Produkt sein wird. Für beide Bereiche ist langfristige Planung wichtig. Aber bei agiler Arbeitsweise in der Produktentwicklung ist die Lösung - also das Produkt und der Zeitpunkt der Fertigstellung - nicht von vorneherein definiert. KONSEQUENZ BEI AGILEN METHODEN Bei solchen hybriden Projekten kann es zu Irritationen auf beiden Seiten kommen? Ja, wahrscheinlich. Ein zweites Beispiel: In klassisch orientierten Bereichen geht man manchmal davon aus, dass agile Teams jederzeit schnell noch etwas an ihrem Projektergebnis ändern können. Man könne jederzeit in ein agiles Projekt Änderungen einbringen, sagt man. Deshalb sei das Projekt ja agil! So etwas ist natürlich Unsinn! Doch diese Flexibilität wird häufig von agilen Teams erwartet - auch dann, wenn dies überhaupt nicht dem agilen Ansatz entspricht! In den klassisch geführten Bereichen der Unternehmen meint man, es gäbe keine verbindliche Struktur in agilen Projekten. Deshalb sei alles möglich, und so werden überzogene Erwartungen an das agile Team herangetragen. Da verwechselt man strukturiertes agiles Vorgehen mit Laisser-faire- Management. Aus meiner Sicht kommt es bei hybridem Projektmanagement zwangsläufig zu kulturellen Brüchen und Spannungen. Deshalb empfehle ich beim Einsatz agiler Methoden eine gewisse Konsequenz. Sie sprechen von kulturellen Brüchen. Das heißt - nicht die unterschiedlichen Methoden stehen in Konflikt, sondern konträre Kulturen? Ich habe tatsächlich die Kulturen im Blick. Das klassische Projektmanagement kommt ja eher aus der Ingenieurwelt; die Methoden sind Ausdruck der Denkweise von Ingenieuren … … beispielsweise aus dem Anlagenbau oder den Automotive-Branchen … ... dagegen entstammt das agile Projektmanagement der IT-Branche. Wenn Sie beispielsweise einen Blick in das agile Manifest werfen, werden Sie schnell erkennen: Die Werte und Kulturen der Ingenieurswelt und der agilen IT-Welt unterscheiden sich sehr. ZWEI WERTE-WELTEN Inwiefern unterscheiden sie sich? Beim agilen Manifest geht es stark um Individuen und Interaktionen. Beim agilen Projektmanagement muss das Team schnell zu einem Produkt kommen. Das Team plant also nicht alles bis ins letzte Detail, sondern entwickelt das Produkt iterativ und interaktiv weiter. Das alles ist von den Menschen her gedacht. Völlig anders beim klassischen Projektmanagement: Dort stehen langfristige Pläne und Prozesse im Vorder- Agiles Management stellt Kundennutzen in den Vordergrund. Dazu passt es nicht, wenn Manager aufgrund ihres Hierarchielevels auf Arbeitsergebnisse Einfluss nehmen - allein, weil sie oben in der Hierarchie der Organisation stehen. Foto: Vlad Chorniy - stock.adobe.com projektManagementaktuell | AUSGABE 2.2019 06 REPORT grund, Werkzeuge, Spezifikationen, formulierte Dokumente. Hinter beiden Ansätzen liegen Prinzipien, die zu unterschiedlichen Werten führen. Versucht man, diese Werte unter einen Hut zu bringen, wird dies möglicherweise nicht funktionieren. Die agile Welt wird geschwächt, und auch die klassische Welt kann ihre Prinzipien nicht verwirklichen. Allein schon deshalb, weil die eine Welt die andere nicht versteht? Ich finde es bemerkenswert, dass die Prinzipien, die hinter den agilen Ansätzen stehen, häufig gar nicht verstanden werden. Der Begriff „agil“ weckt bei vielen eine „Mach mal“-Haltung. In der Praxis höre ich sehr häufig, dass „agile“ Führungskräfte ihre Mitarbeitenden einfach machen lassen - im Glauben, dass diese irgendwie zum Ziel kommen und Erfolg haben werden. Das ist grundfalsch! Hinter dem Ansatz, Verantwortung an das Team abzugeben, steht eine sehr strenge Prinzipienwelt mit anspruchsvollen Werten und einer eigenen Kultur. Bleiben wir doch bitte bei dieser Kultur. Ich benutze ungerne das Wort Paradigmenwechsel, doch in puncto Management und Führung kommt es derzeit zu einem gewaltigen Umbruch. Das klassische Management, so heißt es, stößt in der heutigen Welt vielfach an seine Grenze - fast überall, fast in jedem Unternehmensbereich oder jeder Branche. Für viele Unternehmen verändern sich Märkte und Kundenbedürfnisse in einer bislang unbekannten Geschwindigkeit. Man spricht von der VUCA-World. Die VUCA- Welt ist geprägt von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität. Was bedeutet dies für die Kulturen? Nehmen Sie als Beispiel die Unsicherheit vieler Märkte. Diese Unsicherheit bekommen Sie mit klassischem Risikomanagement kaum noch in Anders als beim klassischen (Projekt-) Management liegt bei agilen Ansätzen die Verantwortung allein dort, wo die Fachkompetenz ist: also bei Mitgliedern des Teams, die die Kundenbedürfnisse meist besser kennen als ein Manager. Foto: Vlad Chorniy - stock.adobe.com REPORT 07 Anzeige den Griff. Sie müssen, ob Sie wollen oder nicht, mit Unsicherheit leben. EXPERIMENTIEREN UND FEHLER FRÜH ERKENNEN Ich kann diese moderne Unsicherheit nicht „wegplanen“ - oder mit Plänen bewältigen? Früher war dieses Planen vielleicht sinnvoll. Man hat Projekte stark vom Produkt her gedacht. Heute indes geht man kundenzentriert vor. Die Kunden sind anspruchsvoller, der Wettbewerb ist stärker geworden und Entwicklungszyklen verkürzen sich. Die Kundenbedürfnisse sind ausdifferenzierter und unterliegen einem schnelleren Wandel. Die beste Lösung zu finden ist schwieriger geworden. Das würde heißen, man erarbeitet in einem Projekt mehrere Lösungen und schaut, welche am Ende passt. Richtig? Nein, genau dies versucht man durch clevere Produktentwicklungsmethoden zu vermeiden. Der Grundsatz besteht eher darin, zu experimentieren und Fehler frühzeitig zu erkennen. Im klassischen Projektmanagement versucht man, einen optimalen Lösungsweg zu antizipieren und den Weg zum Ziel detailliert zu planen. Doch diese optimale Lösung a priori zu definieren ist oft unmöglich. Man muss sich iterativ herantasten: testen, messen, lernen, ändern. Ist an diesem Punkt mit dem klassischen Management auch eine gewisse Ideologie verbunden? Klassisches Management mit seinen Führungsprinzipien gibt es - in seinen Grundzügen - schon seit vielen Hundert Jahren. Vielleicht wurden die Prinzipien der Hierarchie und klaren Abgrenzungen mit der Zeit aufgeweicht. Im Kern aber funktioniert es nach dem Leitsatz: Jemand gibt die Ziele vor und verteilt die Aufgaben. Andere wiederum führen die Aufgaben aus. Man unterstellt, dass alle Dinge detailliert geplant werden können, wenn die Führungskraft nur klug genug ist. Plant sie alles gut, dann bekommt sie auch alles in den Griff. Dann kann sie auch die Komplexität bewältigen. Dabei unterstellt das klassische Modell, dass der planende Manager mehr Fachwissen hat als derjenige, der die Planung ausführt. RADIKALE VERÄNDERUNG VON BRANCHEN Eine unmoderne Annahme ... Richtig! In welchem komplexen, interdisziplinären Projekt hat ein Projektmanager heute mehr und besseres Fachwissen als seine Spezialisten im Team? Das gibt es kaum noch ... ... was ja viele Projektmanager selbst erkennen und eingestehen. Charakteristisch für agile Führung: Führung wird nicht als Position verstanden, die an eine Person gebunden ist, sondern als eine Rolle, die man annimmt und auch wieder abgibt. Beispielsweise treten Mitarbeiter aus ihrem Team heraus, führen zeitweise und treten dann wieder in die Reihe zurück. Foto: Vlad Chorniy - stock.adobe.com projektManagementaktuell | AUSGABE 2.2019 08 REPORT Hinzu kommt: Vorhin haben Sie die Geschwindigkeit des Fortschritts angesprochen. Tatsächlich brauchen Unternehmen schnell Innovationen. Branchen verändern sich manchmal innerhalb weniger Jahre radikal - mit völlig neuen Mitspielern, die aus dem Nichts auftauchen. Beispielsweise Softwarekonzerne, die sich als Autohersteller versuchen … Wenn solch ein Unternehmen von der Seite in einen Markt einsteigt, müssen die angestammten Wettbewerber sofort reagieren. Sie brauchen die Bereitschaft und die Fähigkeit, sich sehr schnell anzupassen. Die Entscheidungsprozesse aus der Welt des klassischen Managements sind dafür zu langsam. Was genau wird in der agilen Welt anders gemacht? Die erste Führungstheorie basierte auf der „Great Man“-Idee. Einer Führungskraft wurden großartige Eigenschaften zugeschrieben. Führung lief auf eine Person zu, die alles plante und im Griff hatte. Diese Denkweise muss ersetzt werden durch Kollaboration. Man teilt Führung. Die Mitarbeitenden übernehmen Verantwortung und führen sich selbst. Entscheidungen werden dort gefällt, wo Menschen am besten entscheiden können, wo Mitarbeitende über das meiste Wissen verfügen, schnell sinnvolle Entscheidungen zu treffen. Die Position oder Funktion, die sie in der Hierarchie haben, spielt nur noch eine untergeordnete Rolle. BEDÜRFNISSE DES KUNDEN IM FOKUS Agiles Projektmanagement ermächtigt also diejenigen, die Wissen haben? Das stimmt nur zum Teil! Teams aus Spezialisten bewältigen gemeinsam eine Aufgabe. Dabei stehen jedoch die Bedürfnisse des Kunden im Mittelpunkt: das, was er will und braucht. Neues Wissen entsteht vor allem dort, wo eine Organisation Kontaktpunkte hat zur Umwelt, an den Außengrenzen der Organisation. Idealerweise wird der Kunde also in die Entwicklung einbezogen. In der agilen Welt wird also die Entscheidung an diejenigen delegiert, die die Kompetenz haben. Nicht die hierarchische Position ist entscheidend. Richtig? Ich verwende das Wort „delegieren“ ungerne in diesem Zusammenhang. Unter Delegieren wird häufig das Übertragen einer Aufgabe verstanden - und eine Kontrolle des Ergebnisses durch Führungskräfte. Doch aus meiner Sicht muss die komplette Verantwortung an diejenigen abgegeben werden, die evidenzbasiert kompetente Entscheidungen treffen können. Die Mitarbeitenden müssen sich selbst führen können - ohne Mikromanagement von oben. Dies hat mehr mit Empowerment zu tun als mit Delegieren. Einerseits bekommen die Mitarbeitenden alle nötige Freiheit, ihr Projekt zu gestalten. Andererseits ist agiles Management kein Laisserfaire-Ansatz, wie Sie vorhin gesagt haben. Also Freiheit - und doch wieder keine Freiheit. Wie passt dies zusammen? Man kann agiles Projektmanagement als eine Art Substitut für Führung betrachten, als Ersatz dafür. Dies heißt: Auch in agilen Teams gibt es Führung und damit Strukturen. Dies wird häufig missverstanden. Die erste Führungstheorie lief auf die sogenannte „Great Man“-Idee zu. Der Führungskraft wurden großartige Eigenschaften zugeschrieben. Sie plante und behielt alles im Griff. Jedoch: Diese Denkweise muss heute ersetzt werden durch Kollaboration. Foto: Vlad Chorniy - stock.adobe.com REPORT 09 projektManagementaktuell | AUSGABE 2.2019 Strukturen - zum Beispiel? Ein Scrum-Team folgt einem Gerüst von Artefakten und Instrumenten, das die Arbeit strukturiert. Beispielsweise die Kommunikation. In einem agilen Team muss sehr viel kommuniziert werden. Für diese Kommunikation gibt es feste und zwingende Strukturen, etwa tägliche Besprechungen, die „Daylies“. Das Team braucht jemanden, der über diese Kommunikation wacht und darauf schaut, ob das Team gewissenhaft dieser Struktur folgt - also einen Moderator, beispielsweise einen Scrum Master. DAS „WIE“ ALS LEITFRAGE DER FÜHRUNG Bei der Führung geht es also nicht um das „Was“, sondern um das „Wie“? Eine klassische Führungskraft gibt es in einem Scrum-Team nicht. Der Product-Owner hat zwei „Gesichter“. Er repräsentiert einerseits den Markt und die Kunden. Andererseits ist er verantwortlich für die technische Umsetzung. Dabei hat er aber nicht die Rolle eines „Chefs“. Und der Scrum Master sorgt für einen Rahmen. Er verhindert Chaos und wacht über Regeln. Entscheidend ist, dass die Verantwortung, die der Product Owner an das Team abgegeben hat, auch abgegeben bleibt. Auch wenn er Vorgesetzter seines Teams ist, hat er nicht die Aufgabe, Anweisungen zu geben oder sein Veto einzulegen. Er darf nicht die Selbstorganisation und Eigenverantwortung des Teams einschränken. Wir kennen Fälle, in denen Manager inhaltlich in ein agiles Projekt eingreifen, ohne die Hintergründe für Teamentscheidungen zu kennen oder an den Besprechungen teilgenommen zu haben. Sie sagen, sie wollen damit Fehlentscheidungen und Chaos vermeiden. Autonomie und Selbstorganisation sind nicht gleichbedeutend mit Chaos. Dies müssen Führungskräfte begreifen lernen. Die Prozesse müssen natürlich transparent sein. Man muss einen Überblick bezüglich des Projektfortschritts behalten. Deshalb wird dem Team beispielsweise vorgegeben, täglich fünfzehn Minuten zu einem Daily Scrum Meeting zusammenzukommen - und zwar mit Anwesenheitspflicht für alle. Oder es gibt Vorgaben, wie eine User Story formuliert werden muss. Dies sind Führungssubstitute. Diese Substitute setzen einen Rahmen und zwingen das Team, viel zu kommunizieren und kundenorientiert zu arbeiten. Dieses Bereitstellen geeigneter Strukturen ist ganz klar eine Führungsaufgabe. Das Team muss dann auch befähigt werden, dieser Struktur zu folgen. Es braucht Unterstützung und Vertrauen. VOM „GREAT MAN“ ZUM EMPOWERMENT Also Empowerment? Ja, Empowerment halte ich für eine wichtige Führungsaufgabe in der agilen Welt. Eine weitere agile Führungskompetenz besteht darin, dem Team den Sinn des Projekts zu erklären und ihm einen Kompass für seine Entscheidungen an die Hand zu geben. Nur so können die Mitarbeitenden ihre Entscheidungen richtig treffen. Die Führungskraft sollte diesen Kompass natürlich mit dem Team gemeinsam entwickeln, damit es die Vision mitträgt. Keine Great Men, Highlander oder Einzelkämpfer mehr? Nein, bestimmt nicht. Da verändert sich in der Tat viel. Welche weiteren Merkmale spielen bei agiler Führung eine Rolle? Wichtig ist Kollaboration, also die Zusammenarbeit über die Grenzen der eigenen Bereiche oder des eigenen Unternehmens hinaus. In vielen Unternehmen finden wir immer noch traditionelle Silos. Diese Silo-Strukturen verhindern es, Querschnittsthemen wie die digitale Transformation anzugehen; solche Themen betreffen ja sehr viele Bereiche im Unternehmen. Da brauchen wir Formate, die Zusammenarbeit und Austausch über die Grenzen dieser Silos ermöglichen - oder über die Unternehmensgrenze hinaus andere Marktteilnehmer in Projekte einbeziehen, etwa Kunden, Lieferanten, vielleicht sogar Wettbewerber. Ähnliches gilt für die Fehlerkultur. Die Mitarbeitenden brauchen den Raum, Dinge infrage zu stellen, Lösungen auszuprobieren und Experimente durchzuführen. Fehlschläge dürfen nicht sanktioniert werden. Sie sind ein Lernschritt und sollten sogar belohnt werden, wenn sie zu einer Entwicklung führen sollen. Da braucht es einen Kulturwandel. Die klassische Führungskraft gibt es in einem Scrum-Team nicht mehr. Dennoch braucht das Team Führung. Eine Führungsrolle hat der „Product Owner“. Er repräsentiert den Markt und die Kunden; auch ist er verantwortlich für die technische Umsetzung. Wichtig dabei: Der „Product Owner“ hat nicht die Rolle eines „Chefs“. Foto: Vlad Chorniy - stock.adobe.com projektManagementaktuell | AUSGABE 2.2019 10 REPORT VERHALTENSWEISEN, NORMEN UND WERTE Die Rolle der Kultur haben wir bereits vorhin angerissen. Sie haben eingangs festgestellt, dass beim hybriden Projektmanagement zwei Kulturen aufeinandertreffen. Halten wir doch bitte die Kultur im Auge. Weshalb ist sie überhaupt so wichtig? Die Kultur zeigt an, welche Verhaltensweisen, Normen und Werte geteilt werden. Zum einen können Sie die Kultur einer Organisation an Äußerlichkeiten erkennen: Wie sind die Menschen gekleidet oder die Arbeitsplätze gestaltet? Wie gehen die Menschen miteinander um? Zum anderen drückt sich Kultur in bestimmten Grundüberzeugungen oder Werten aus. Eine solche Grundüberzeugung kann sein, dass Projekte nur dann erfolgreich sein können, wenn sie bis ins kleinste Detail geplant wurden. Man darf nichts ausprobieren; alles muss vorher perfekt durchdacht und von allen beteiligten Bereichen genehmigt werden. Fehler dürfen dabei nicht gemacht werden. Kultur ist also - ein Hindernis? Nein, überhaupt nicht. Jede Organisation hat eine Kultur. Kultur sorgt für Zusammenhalt in einer Organisation. Sie gibt den Mitgliedern dieser Organisation wichtige Orientierung. Es ist sinnvoll, dass jede Organisation eine Identität ausbildet, in der die Mitarbeitenden ähnliche Werte haben und leben. Solch ein stabiles System schafft Verlässlichkeit - denn jeder weiß, was ihm droht, wenn er gegen die ungeschriebenen Gesetze seiner Organisation verstößt. Kultur ist also zugleich Sinnstiftung und Kontrollmechanismus. Sie macht Organisationen unverwechselbar, und sie kann sogar ein Wettbewerbsvorteil sein. Aber wenn Unternehmen sich schnell anpassen und verändern müssen, dann steht häufig die Kultur im Weg. Eben weil Kultur Ideologien umfasst, Vorstellungswelten, Sprachen, Verhaltensweisen und Denkmuster. Beispielsweise wurde bei Automobilherstellern über Jahrzehnte eine ausgeprägte Ingenieurskultur entwickelt und gepflegt. Der Fokus der Kultur liegt auf der Hardware. Nun wollen diese Unternehmen in die digitale Welt der Dienstleistungen aufbrechen. Sie wollen etwa Mobilitätskonzepte entwickeln. Doch Software muss flexibel entwickelt und dicht an Kundenwünschen produziert werden. Da treffen in einem traditionellen Unternehmen zwei Wertewelten aufeinander. Ein Beispiel: Vertrauen spielt bei der agilen, digitalen Führung eine große Rolle. Wer mit anderen kollaboriert, wer Verantwortung abgibt - der braucht Vertrauen. VERTRAUEN UND KOMMUNIKATION Vertrauen hat man in der klassischen Welt vermutlich nicht gelernt. Dort heißt es: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. An dieser Stelle bemerken Sie den Kulturbruch sehr deutlich. Schenken Projektleiter ihren Teams kein Vertrauen, hinterlaufen sie die agile Kultur. Vertrauen sie ihrem Team vorbehaltlos, Führung verändert sich - besonders für Führungskräfte. Beispielsweise wird Vertrauen immer wichtiger, ein emotionales Thema. Führungskräfte müssen sich selbst öffnen, wenn sie Vertrauen aufbauen wollen. „Sie müssen dabei vielleicht auch Schwächen zeigen, die sie lieber verschleiern würden“, sagt Prof. Rafaela Kraus. Foto: Vlad Chorniy - stock.adobe.com REPORT 11 brechen sie mit der vorherrschenden Unternehmenskultur des Ingenieurswesens. Ein weiteres Beispiel ist die Kommunikation. Auch beim Wasserfall-Modell stehen immer noch die Dokumente im Vordergrund; da wird viel über Spezifikationen und Pflichtenhefte kommuniziert. Agile Arbeit lebt aber von der Face-to-Face- Kommunikation im Team und mit dem Kunden, nicht von der Kommunikation via Dokumente. Man steht ständig persönlich in Verbindung, eine direkte, zeitnahe und tägliche Abstimmung. Das setzt nicht nur bei Projektmanagern, sondern auch bei Mitarbeitenden voraus, dass sie neue Werte und Verhaltensformen lernen. Die Schwierigkeit ist: Menschen verändern sich nicht von heute auf morgen. Eine neue Kultur entsteht sehr langsam. Einige Unternehmen versuchen, dieser Herausforderung mit externen Kräften zu begegnen, also Spezialisten, die aus einer ganz anderen Unternehmenskultur kommen. Ein Erfolg versprechender Ansatz? Nur bedingt. Kultur ist ein mächtiger Faktor. Sie setzt der Diversität in einem Unternehmen häufig Grenzen. Inwiefern Grenzen? Jeder Mitarbeitende, der in eine Organisation eintritt, passt sich langsam der dortigen Kultur an. Der Kultur entsprechendes Verhalten wird belohnt, ihr widersprechendes Verhalten sanktioniert, beispielsweise vermeintliches Fehlverhalten und Andersartigkeit. Da kann man durchaus von institutionalisierten Vorurteilen sprechen. Man teilt bestimmte Vorstellungen, etwa die, wie Führung, Aufgabenverteilung, Kommunikation, Kontrolle oder Zusammenarbeit auszusehen haben. Dies alles bewirkt, dass bestimmte Verhaltensweisen als unakzeptabel bewertet werden - selbst dann, wenn diese den Zielen des Unternehmens entsprechen und es voranbringen würden. VERÄNDERUNG DER KULTUR - ABER WIE? Sie sagten, dass die Veränderung einer Kultur schwierig ist. Wie kann man eine Veränderung starten? Dies ist die Aufgabe der Unternehmensleitung. Sie muss dafür sorgen, dass die klassische und agile Kultur zusammenwachsen. Konkret - was ist zu tun? Zum einen braucht das Unternehmen eine klare Vision, zum anderen eine entsprechende Wertorientierung. Schon bei der Strategie ist bei manchen Unternehmen vieles im Trüben. Gibt es überhaupt eine Digital Strategy, und wird diese Strategie auch gelebt? Existiert eine Strategie für die digitale Transformation, wie sind die Prioritäten gesetzt? Hat das Management überhaupt Verständnis, etwa für die Digitalisierung? Agiles Projektmanagement selbst ist Führung, ein „Substitut für Führung“, wie Fachleute sagen. Das heißt: Ein Scrum-Team folgt einem Gerüst von Artefakten und Instrumenten, also festen und zwingenden Strukturen wie etwa tägliche Besprechungen. Beispielsweise wacht der Scrum Master darüber, dass das Team diesen Strukturen und Regeln folgt. Foto: Vlad Chorniy - stock.adobe.com projektManagementaktuell | AUSGABE 2.2019 12 REPORT Da dürfte es bei nicht wenigen Unternehmen noch finster aussehen ... ... und diese strategischen Versäumnisse behindern den Kulturwandel. Die Kultur eines Konzerns muss ja nicht überall komplett einheitlich sein. Jedes Unternehmen hat seit jeher seine Subkulturen. Aber ich muss zumindest dafür sorgen, dass unterschiedliche Kulturen ihre Existenzberechtigung haben, funktionieren können und sich mit der Zeit auch angleichen. Sprechen wir bitte abschließend von den Führungskräften selbst. Aus allem, was Sie gesagt haben, klingt an: Wir brauchen für die agile Welt einen anderen Führungsstil. Neu ist es, Führung künftig als Rolle zu verstehen, nicht als Position, die man innehat. Diese Rolle kann und muss an das Team übertragen werden. Ich weiß nicht, ob dieses Rollenverständnis tatsächlich so neu ist. Schon früher wurde Führung als eine Rolle gedacht, nicht als feste Funktion, die an eine Position in der Hierarchie gekoppelt ist. Auch früher schon haben Mitarbeitende in einem Team geführt: Jemand hat die Führungsrolle übernommen, weil er in diesem Moment dafür die beste Fachkompetenz oder Sozialkompetenz hatte. Neu ist aber, dass man erkennt: Wir müssen dies alles aktiv fördern. Wir wollen, dass Führung dort stattfindet, wo auch das Wissen ist - und dass die Führung selbst sich wandelt. ZWEI WELTEN, ZWEI FÜHRUNGSSTILE Die Führung sich selbst wandelt - inwiefern? In der Organisationspsychologie kennen wir den Gegensatz zwischen transaktionaler Führung und transformationaler Führung. Transaktionale Führung gehört zur traditionellen, klassischen Welt. Dieser Führungsstil hat nach wie vor Berechtigung, wenn es darum geht, ein Austauschverhältnis reibungslos zu regeln. Bei der transaktionalen Führung gibt die Führungskraft etwas in die Organisation hinein … … eine Aufgabe in ein Team beispielsweise … … und erhält dafür ein Ergebnis. Die Führungskraft wird versuchen, die Prozesse so zu gestalten, dass möglichst wenig Reibungsverlust entsteht und die Arbeiten effizient verlaufen. Sie definiert also ein klares Ziel, vergibt klar formulierte Aufträge, grenzt die Aufgaben sauber voneinander ab, strukturiert alles und gibt Feedback zu den Ergebnissen. Emotionen spielen da eine geringere Rolle. Es geht darum, eine gute Struktur und gute Prozesse zu finden. Das ist manchmal wie Social Engineering. EMOTIONALE DIMENSION DER FÜHRUNG Wo liegt der Nachteil dieses Stils? Transaktionale Führung lebt von Zielen und Aufgabenklarheit. Doch wie soll man Ziele setzen und Aufgaben verteilen, wenn man in der VUCA- World den Weg eines Projektes noch gar nicht kennt? Dann wird das Team sich interaktiv und eher experimentell zum Ziel voranarbeiten. Dafür braucht es, wie vorhin gesagt, Vertrauen. Da sind wir bei einem sehr emotionalen Thema. Die psychologische Forschung zeigt, dass sich Führungskräfte selbst öffnen müssen, wenn sie Vertrauen aufbauen wollen. Sie müssen dabei vielleicht auch Schwächen zeigen, die sie lieber verschleiern würden. Sie müssen deutlich machen, dass sie aufrichtig am Wohlergehen von Mitarbeitenden interessiert sind, dass sie sich nicht nur für die Arbeitskraft interessieren, sondern auch für die Person. Führungskräfte müssen inspirieren, Mitarbeitende für ihre Vision gewinnen und Kreativität stimulieren. Sie ermuntern Mitarbeitende dazu, Gewohnheiten, sich selbst - und auch die Führungskraft - infrage zu stellen. Das alles sind sehr emotionale Themen, die sich mit transformationaler Führung verbinden! Geht es am Ende darum, Mitarbeiter zu verändern? Ja! Deshalb heißt dieser Führungsstil auch transformationaler Führungsstil. Man versucht, bei Mitarbeitenden eine innere Veränderung zu erreichen - und nicht nur eine Veränderung des Verhaltens. Zum Beispiel? Ein gutes Beispiel dafür ist das eben erwähnte Vertrauen. Einige Mitarbeitende haben Angst, die Verantwortung zu übernehmen, die ihnen mit einer Führungsrolle übertragen wird. Mitarbeitende befürchten möglicherweise zu scheitern oder nicht richtig zu führen. Dann geht es da darum, Mitarbeitenden die Angst zu nehmen und sie zu ermutigen. Das transformationale Führungsgeschick wird nicht jedem in die Wiege gelegt sein. Wie kann man diesen Führungsstil lernen? Der Benchmark für Ressourcenplanung Projektportfolio-Management Ressourcenplanung Zeit-/ Aufwanderfassung Kostenmanagement Projektplanung Die Testumgebung in der Cloud steht für Sie bereit Scheuring AG CH-4313 Möhlin � +41 61 853 01 54 www.scheuring.ch � info@scheuring.ch www.ressolution.ch Anzeige Zunächst brauchen transformational Führende bestimmte Persönlichkeitseigenschaften, etwa Offenheit und Empathie für andere. Sie sollten verträgliche Menschen sein und wenig neurotisch, etwa keine übertriebene Angst haben, wenn Dinge unvorhergesehen verlaufen. Die Führung selbst kann man trainieren - wobei der beste Weg immer das Lernen am Beispiel und durch ein Vorbild ist. Durch ein Vorbild? Ja! Merkt man, dass die eigene Führungskraft partnerschaftlich und respektvoll mit einem umgeht, dass sie wohlwollend, integer und verlässlich ist, dann ist mit dieser Erfahrung bereits ein guter Grundstein gelegt. Dann werden Mitarbeitende sich an ihrer Führungskraft orientieren, ihr Verhalten beobachten und erkennen, dass dieser Führungsstil funktioniert und erfolgreich ist. Dieses Lernen am Modell wurde in der Forschung als sehr wirksam erkannt - quasi Lernen vom Erfolg der Führungskraft.  REPORT 13 projektManagementaktuell | AUSGABE 2.2019