eJournals PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL 30/4

PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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2941-0878
2941-0886
UVK Verlag Tübingen
101
2019
304 GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.

Klimaschutz ist Chefsache

101
2019
Steffen Scheurer
Oliver Steeger
Wie bereits im Editorial dieser Ausgabe der PM aktuell beschrieben, liegt ein Schwerpunkt in diesem Heft auf der Betrachtung der Frage, welche Beiträge das Projektmanagement zum Klimaschutz leisten kann. Im Beitrag von Bernd Schott ist bereits deutlich geworden, wie eine Stadt über ein ganzes Portfolio von Projekten eine übergeordnete Klimaschutzstrategie auf kommunaler Ebene umsetzen kann. Ergänzend hierzu haben wir ein Interview geführt mit Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen. Er berichtet, welche Ziele er mit der Klimaschutzkampagne „Tübingen macht blau“ verfolgt, was man in Tübingen anders macht, welche Bedeutung die Stadt und er als Vorbilder für die Kampagne haben. Zudem wollten wir wissen, was bereits erreicht wurde – und wo Boris Palmer die Herausforderungen für die nächsten Jahre sieht.
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Politik im Klimawandel: Klimaschutz motivieren kann. Leider kommen von Bundes- und Landesebene zum Teil sehr widersprüchliche Signale und Regelungen. Dabei ist die Kommune auch die erste Ebene, die im Falle von klimawandelbedingten Katastrophen betroffen sein wird und handeln muss. Die kommunale Ebene soll zwar viel zum Klimaschutz beitragen, doch oft erhalten wir nicht die Freiheit, das zu tun, was richtig wäre. Wir brauchen viel mehr Spielraum für eigene Entscheidungen - beispielsweise im Baurecht oder im Verkehrsbereich. Zudem wirken sich bundesweit gültige Subventionen wie Pendlerpauschale, Dieselsteuer- und Dienstwagenprivileg kontraproduktiv aus, weil sie immer mehr Kfz-Verkehr erzeugen. Viele Städte versuchen derzeit zum Klimaschutz beizutragen. Was macht man in Tübingen anders? Als ich 2006 meinen Wahlkampf um die Stelle des Oberbürgermeisters führte, habe ich einen starken Schwerpunkt auf die kommunalen Möglichkeiten für mehr Klimaschutz gesetzt. Ich bin gewählt worden und seither ist Klimaschutz in Tübingen Chefsache. Dabei bin ich als Oberbürgermeister nicht nur Verwaltungschef, sondern zudem auch Aufsichtsratsvorsitzender der Stadtwerke Tübingen und der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft GWG. Dadurch habe ich Einfluss auf viele Bereiche des Stadtlebens. 2014 bin ich wiedergewählt worden. Wir sind in Tübingen also bereits im 13. Jahr kontinuierlich für den Klimaschutz aktiv. Projekte zu Klimaschutz versanden häufig. Ihr Programm „Tübingen macht blau“ läuft dagegen seit vielen Jahren. Wie schaffen Sie es politisch, die Beteiligten nachhaltig hinter Ihre Projekte zu bringen? Es hilft dabei, dass die stärkste Fraktion im Gemeinderat grün ist, wie der Oberbürgermeister auch. Ebenso wichtig sind immer wieder neue Ideen für konkrete Projekte, damit der Schwung nicht erlahmt. Und schließlich kommt es darauf Wie bereits im Editorial dieser Ausgabe der PM aktuell beschrieben, liegt ein Schwerpunkt in diesem Heft auf der Betrachtung der Frage, welche Beiträge das Projektmanagement zum Klimaschutz leisten kann. Im Beitrag von Bernd Schott ist bereits deutlich geworden, wie eine Stadt über ein ganzes Portfolio von Projekten eine übergeordnete Klimaschutzstrategie auf kommunaler Ebene umsetzen kann. Ergänzend hierzu haben wir ein Interview geführt mit Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen. Er berichtet, welche Ziele er mit der Klimaschutzkampagne „Tübingen macht blau“ verfolgt, was man in Tübingen anders macht, welche Bedeutung die Stadt und er als Vorbilder für die Kampagne haben. Zudem wollten wir wissen, was bereits erreicht wurde - und wo Boris Palmer die Herausforderungen für die nächsten Jahre sieht. Herr Oberbürgermeister, welche übergeordneten Ziele verfolgen Sie mit Ihrem Klimaschutzprogramm? Boris Palmer: Ich verfolge ein quantitatives und mehrere qualitative Ziele. Mein Ziel ist es, die energiebedingten CO 2 -Emissionen in Tübingen innerhalb von zwei Amtsperioden um 40 Prozent zu senken. Damit will ich zeigen, dass Klimaschutz auf kommunaler Ebene ein großes, nutzbares Potenzial hat. Und ich will eine Bürgerbewegung für den Klimaschutz, also dass die gesamte Stadtgesellschaft für den Klimaschutz und beim Energiesparen aktiv wird. Welche Rolle spielen Ihrer Ansicht nach Kommunen für einen wirksamen Schutz des Klimas? Wie können Bund und Länder die Kommunen bei ihren Bestrebungen unterstützen? Wir als Kommunen sind sehr nah dran an der Bürgerschaft und an den Unternehmen. Wir sind damit ein bereits bestehendes Netzwerk, in dem man voneinander lernen und sich gegenseitig für den Boris Palmer Boris Palmer schloss sein Studium der Fächer Mathematik und Geschichte 1999 mit dem 1. Staatsexamen ab. Bereits 1996 wurde er Mitglied von Bündnis 90/ Die Grünen, ab 1998 war er Mitglied im Kreisvorstand Tübingen. 2001 errang Boris Palmer als Kandidat der Grünen einen Sitz für den Wahlkreis Tübingen im Stuttgarter Landtag, wo er als umwelt- und verkehrspolitischer Sprecher wirkte. Nach seiner Wiederwahl in den Landtag im März 2006 in der Stadt Tübingen wurde Boris Palmer stellvertretender Vorsitzender der Fraktion Grüne im Landtag. Im Oktober 2006 wurde der damals 34-Jährige zum Oberbürgermeister von Tübingen gewählt. Im Oktober 2014 wurde Boris Palmer mit 61,7 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang wiedergewählt. Im Frühjahr 2009 ist Palmers erstes Buch mit dem Titel „Eine Stadt macht blau - das Tübinger Klimaschutzmodell“ erschienen. Quelle: www.tuebingen.de; Foto: Gudrun de Maddalena Autoren: Steffen Scheurer und Oliver Steeger Klimaschutz ist Chefsache projektManagementaktuell | AUSGABE 4.2019 36 REPORTAGE an, Klimaschutz mit anderen Zielen zu verzahnen, also wenn möglich Win-win-Situationen zu schaffen. Schulsanierungen haben viele Freunde: Eltern, Lehrer, Schüler. Radwegebau finden Radlerinnen und Radler gut. Geld verdienen mit einer Solarpflicht kann man durchaus erklären. Und die Skeptiker darf man nicht aus der Pflicht entlassen, das Thema kommt immer wieder mit Abstimmungen in den Gemeinderat, sodass immer wieder die Frage entsteht: „Machen Sie mit beim Klimaschutz? “ Darauf gibt es zwar oft zögernde Antworten, aber letztlich nie ein Nein. Welche Rolle spielen Sie als Bürgermeister in diesem Programm? Wie nehmen Sie diese Rolle wahr? Die Rolle des Oberbürgermeisters ist in der Gemeindeordnung von Baden-Württemberg sehr stark. Politische Initiativen, die nicht zu den Pflichtaufgaben gehören, sind ohne den OB praktisch zum Scheitern verurteilt. Von daher ist die Wahl des OB immer auch die Wahl von politischen Schwerpunkten und Zielen. Ich habe immer klargemacht, dass für mich der Klimaschutz vor Ort die wichtigste Aufgabe ist. Das kommt auch in der Bevölkerung an. Als Mathematiker würde ich sagen: Ich bin eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung. Bürger setzen Klimaschutz häufig mit Einschränkung, Verboten und Verzicht gleich. Wie haben Sie Ihre Bürger von Ihrem Programm überzeugt? Wie gelingt es Ihnen, Bürger zum Mitmachen zu bewegen? Glaubwürdigkeit, Empathie, Ausdauer, Kompetenz und Hartnäckigkeit ergeben zusammen die Mischung, mit der etwas zu erreichen ist. Ich investiere als Finanzbürgermeister und Aufsichtsratsvorsitzender viel in kompetente, motivierende Beratungsleistungen innerhalb der Verwaltung und bei den Stadtwerken, aber auch in Förderprogramme. Damit zeige ich: Klimaschutz ist mir etwas wert. Ich will nicht nur was von anderen, sondern ich gebe auch was. Sehr wichtig ist dabei, dass die Beratung passgenau und richtig ist, denn wer einmal schlecht beraten wurde, macht nicht mehr mit. Das Ganze glaubwürdig präsentiert und mit einer gewissen Ausdauer und Hartnäckigkeit verfolgt, trägt zum Erfolg von „Tübingen macht blau“ bei. Wie kann man Bürger und Wirtschaft für echte Einschränkungen gewinnen, beispielsweise für Restriktionen im Individualverkehr? Bei den echten Einschränkungen sind wir meines Erachtens noch nicht angekommen. Ein paar Parkplätze in der Tübinger Altstadt weniger sind noch keine Einschränkung, wenn es um die Altstadt herum vier, nicht völlig ausgelastete Parkhäuser gibt. Noch betreiben wir Klimaschutz mit guten Alternativen, guten Angeboten und dem Ausbau der erneuerbaren Energien. Doch angesichts der Herausforderung, die wir beim Schutz des Klimas zu leisten haben, werden wir um Einschränkungen nicht herumkommen. Ich setze dann auf Überzeugung, Beratung und Information. Wie trägt Klimaschutz zur Attraktivität von Tübingen bei? Welchen Einfluss haben die Programme auf die Wirtschaftspolitik? Ich bekomme öfters das Feedback, Tübingen ist eine Stadt, in der sich sehr vieles für den Klimaschutz bewegt, dass es eine positive Grundstimmung für den Umwelt- und Klimaschutz gibt. Das trägt zu einem guten Image der Stadt insgesamt bei. Mit „Tübingen macht blau“ setzen wir dabei vor allem auf lokale Netzwerke und Mitstreiter. Dabei geht es oft auch um Ersatzbeschaffungen. Zum Beispiel bei Förderprogrammen zum Kühlschranktausch oder zum Heizungspumpentausch. Oder um die Anschaffung von Pedelecs, um zur Arbeit mit dem Rad statt mit dem Auto zu gelangen. Wir wissen aus den Rückmeldungen der Händler und Fachbetriebe, dass wir damit nicht nur den Klimaschutz, sondern auch die lokale Wirtschaft fördern. Zudem haben wir inzwischen mehrere neue Unternehmensansiedlungen im Bereich Nachhaltigkeit wie beispielsweise Unternehmen in den Bereichen Lastenradlogistik, Gebrauchsgüterrecycling oder Mikromobilität. Welche Rolle spielen kommunale Behörden etc. dabei als Vorbild? Das Thema „Vorbildfunktion der Stadtverwaltung und ihrer Beteiligungsgesellschaften“ war von Anbeginn ein elementarer Bestandteil der Klimaschutzbemühungen. Seit 2015 ist die Vorbildfunktion Teil unseres energie- und klimapolitischen Leitbildes. Wir haben viel ausprobiert, viel gewagt, manches hat sich dabei auch als nicht umsetzungsreif herausgestellt, sodass wir es Dritten schon gleich gar nicht zu empfehlen brauchten. Aufgrund der Vorbildfunktion habe ich es auch gewagt, nach meinem Amtsantritt den von meiner Vorgängerin geerbten Dienstwagen eines baden-württembergischen Premiumherstellers gegen ein verbrauchsarmes Hybrid-Modell aus dem Ausland zu tauschen. Ich erntete einen Shitstorm. Etwas später habe ich dann den Dienstwagen zugunsten eines Dienst-Pedelecs ganz abgeschafft. Inwieweit versuchen Sie selbst ein Vorbild zu sein? Wie vermitteln Sie dies authentisch? Eine Kampagne, die auf freiwilliges Engagement setzt, kann man nicht betreiben, wenn man selbst das Gegenteil darstellt. Dass ich seit zehn Jahren keinen Dienstwagen mehr habe, in der Stadt fast immer mit dem Rad zu Terminen komme und eine Bahncard 100 benutze, ist allgemein bekannt und für die Glaubwürdigkeit meines ökologischen Engagements eine zwingende Voraussetzung. Welche wesentlichen Erfolge haben Sie durch Ihr Programm bisher erzielt? Welche Ziele haben sich als schwieriger zu erreichen herausgestellt? Sowohl im Stromals auch im Wärmesektor konnten wir relevant die CO 2 -Emissionen senken. Dies gelang sowohl durch die Reduktion des Bedarfs als auch durch den Umstieg auf CO 2 -ärmere Energiequellen. So konnte z. B. der Einsatz der erneuerbaren Energieträger im Wärmesektor vervierfacht werden und die Stadtwerke haben ihre Stromerzeugungskapazitäten aus Erneuerbaren innerhalb von fünf Jahren von 10 GWh auf 200 GWh pro Jahr ausgebaut. Sehr erfreulich ist auch, dass der spezifische Stromverbrauch in Tübingen von über 5.200 kWh/ EW auf rund 4.400 kWh/ EW gesunken ist. Das sind 15 Prozent weniger, obwohl gleichzeitig die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze in Tübingen um mehr als 10.000 gestiegen ist. Nur aus dem Verkehrssektor konnten wir allen Bemühungen zum Trotz noch keinen großen Klimaschutzbeitrag gewinnen. Welche Ziele setzen Sie sich für die Stadt Tübingen in den nächsten Jahren? Beim Verkehr treten wir nach wie vor auf der Stelle. Der Verkehrsbereich hat - obwohl wir deutliche Fahrgastzuwächse im ÖPNV erreichen konnten - noch nicht viel zu meinen Klimaschutzzielen beigetragen. Ich setze hier auf den „Ticketlosen Nahverkehr in Tübingen für alle“ und auf den Bau der Innenstadtstrecke der Regionalstadtbahn Neckar-Alb, die derzeit in ersten Teilabschnitten in der Region gebaut wird. Ebenso hat sich durch unsere Teilnahme am European Energy Award gezeigt, dass wir bei den kommunalen Liegenschaften noch nicht so vorbildlich sind, wie ich das gerne hätte. Auch hier müssen wir mit Sanierungsmaßnahmen, energetisch optimalen Neubauten und Nutzersensibilisierung nachlegen.  projektManagementaktuell | AUSGABE 4.2019 REPORTAGE 37