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PROJEKTMANAGEMENT AKTUELL
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UVK Verlag Tübingen
101
2019
304 GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.

Hunderte Mieträder für den Klimaschutz

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2019
Oliver Steeger
Aufs Rad mit den Leuten! Das Leipziger Unternehmen nextbike vermietet auf clevere Weise Fahrräder – und will Menschen fürs Radeln gewinnen. Nicht nur, weil es gesund ist und das Klima schont. Sondern weil in vielen Städten das Fahrrad das schnellste Verkehrsmittel geworden ist. So auch in Bonn, wo das Unternehmen vor einem Jahr in einem groß angelegten Projekt sein Mietfahrradsystem aufgebaut hat. Schneller als erwartet nahmen die Bonner das Verleihsystem an. Per Smartphone ein Mietfahrrad in der Umgebung finden, an den in Bonn fast immer gegenwärtigen Staus vorbeiradeln – und den Drahtesel am Zielort einfach stehen lassen. Dass solche Projekte hervorragend zum Klimaschutz passen, ist für das Unternehmen ein willkommener Nebeneffekt. Wichtig für die Leipziger Rad-Enthusiasten ist: Rad fahren sollte der „Mainstream“ in Deutschlands Städten werden. Mareike Rauchhaus von nextbike berichtet im Interview über das Bonner Projekt, über die perfekte Fahrradstadt – und darüber, wie man Fahrräder unverkrampft unter die Leute bringt.
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Leipziger Projekt hilft Bonner Bürgern aufs Rad Aufs Rad mit den Leuten! Das Leipziger Unternehmen nextbike vermietet auf clevere Weise Fahrräder - und will Menschen fürs Radeln gewinnen. Nicht nur, weil es gesund ist und das Klima schont. Sondern weil in vielen Städten das Fahrrad das schnellste Verkehrsmittel geworden ist. So auch in Bonn, wo das Unternehmen vor einem Jahr in einem groß angelegten Projekt sein Mietfahrradsystem aufgebaut hat. Schneller als erwartet nahmen die Bonner das Verleihsystem an. Per Smartphone ein Mietfahrrad in der Umgebung finden, an den in Bonn fast immer gegenwärtigen Staus vorbeiradeln - und den Drahtesel am Zielort einfach stehen lassen. Dass solche Projekte hervorragend zum Klimaschutz passen, ist für das Unternehmen ein willkommener Nebeneffekt. Wichtig für die Leipziger Rad-Enthusiasten ist: Rad fahren sollte der „Mainstream“ in Deutschlands Städten werden. Mareike Rauchhaus von nextbike berichtet im Interview über das Bonner Projekt, über die perfekte Fahrradstadt - und darüber, wie man Fahrräder unverkrampft unter die Leute bringt. Wer das Klima schützen will, denkt automatisch auch an neue Mobilitätskonzepte. nextbike hat vor 15 Jahren begonnen, Fahrräder zu verleihen - und zwar auf innovative Weise. Radler mussten nicht länger Fahrräder in einem Geschäft ausleihen und dorthin wieder zurückbringen. Was machen Sie anders? Mareike Rauchhaus: Uns geht es in erster Linie darum, Fahrräder unter die Leute zu bringen und diese zum Radfahren zu bewegen. Unsere Räder sind über die Stadt verteilt, beispielsweise an Ausleihstationen an Haltestellen von Bahnen und Bussen. Oder man findet sie frei zugänglich an Straßen und Plätzen. Mit einer App kann man die Hunderte Mieträder für den Klimaschutz Autor: Oliver Steeger Mieträder finden, ausleihen - und in vielen Städten am Zielort einfach stehen lassen. Zum Beispiel: Man radelt vom Bahnhof aus nach Hause und stellt das Fahrrad einfach vor der Haustür ab. Das ist ein flexibles Angebot. Sie decken also die letzte Meile ab? Beispielsweise die Strecke zwischen Bahnhof und Büro? Das ist unsere Idee. Uns hat natürlich die Weiterentwicklung der Technik stark geholfen. Unsere Fahrräder sind mit GPS-Sendern ausgestattet. Radfahrer können sie mit ihrem Smartphone orten. Beispielsweise können sie genau sehen, wo in ihrer Nähe gerade ein freies Rad steht. Unsere App führt sie dorthin. Sie mieten das Rad über diese App; das Schloss am Rad öffnet sich - und sie können losfahren. nextbike wurde vor 15 Jahren gegründet. Der Klimaschutz stand damals längst noch nicht so prominent in der öffentlichen Diskussion wie heute … Klimaschutz ist für uns natürlich ein Thema. Doch für uns ist auch schlichtweg der Fahrspaß wichtig. Es macht Spaß, Rad zu fahren. Es ist gesund. Man umfährt den Stau in der Stadt, braucht keine Parkplätze zu suchen und bewegt sich geschmeidig auch dann fort, wenn im Berufsverkehr die Autos kaum vorankommen. Dass man nebenbei auch noch ökologisch sauber unterwegs ist, ist ein toller Nebeneffekt. PRAKTISCHE VORTEILE DES FAHRRADS Fahrräder sind in Städten das Verkehrsmittel für die schnellste Fortbewegung? Für kurze Strecken auf jeden Fall, und je nach Tageszeit gilt dies auch für mittlere und lange Distan- Mareike Rauchhaus Mareike Rauchhaus (40) leitet seit zehn Jahren die Kommunikationsabteilung bei nextbike. Als PR-Beraterin suchte sie damals ein Fahrradverleihsystem, auf dem man Werbung schalten sowie eine wirkungsvolle Kampagne initiieren konnte; sie stieß dabei auf nextbike. Die Leidenschaft fürs Fahrradfahren tat ihr Übriges und so stieg sie kurzerhand in das Start-up ein. Heute umfasst allein ihre Abteilung so viele Mitarbeiter wie damals das ganze Unternehmen. Mittlerweile ist nextbike in 26 Ländern vertreten. Foto: nextbike projektManagementaktuell | AUSGABE 4.2019 38 REPORTAGE Abb. 1: Unkompliziertes und komfortables Radfahren soll in Städten Spaß machen. Dies ist ein Ziel des Leipziger Unternehmens nextbike. Foto: nextbike- Abb. 2: Die „Brücke“ für die letzte Meile: das Rad als Verkehrsmittel zwischen Bahnhof und Zielort. Foto: nextbike zen. Die praktischen Vorteile des Fahrrads sind seit vielen Jahren die Basis für unsere Philosophie. Heute geht es unseren Kunden immer mehr darum, an Klimaschutz zu denken und CO 2 zu reduzieren. Im Vergleich zu Autos, aber auch zu E-Scootern sind Fahrräder ja ein gänzlich emissionsfreies Fortbewegungsmittel - das uns zudem gesund hält. Gerade diese E-Scooter gelten als der neue Trend in vielen Städten - und vielleicht auch als Konkurrent der Räder … Sie brauchen aber Strom. Auch sind die Akkus ökologisch nicht ganz unbedenklich. Und: Fahrräder haben im Vergleich zu diesen Scootern zudem eine viel längere Lebensdauer, dies schont Ressourcen. Wir haben noch Leihfahrräder in Betrieb, die schon über fünf Jahre alt sind. WACHSENDE ROLLE IN MOBILITÄTSKETTE Welche Rolle spielen Ihre Fahrräder in der Mobilitätskette? Mietfahrräder haben zwei große Vorteile. Sie sind öffentlich wie beispielsweise Busse und Bahnen. Man kann sich jederzeit ein Rad leihen. Zugleich sind sie individuell - also unabhängig von Fahrplänen und Haltestellen. Mit dem Mietrad fahren Sie, wann immer Sie wollen, von Tür zu Tür. So gesehen sind Mietfahrräder eine gute Ergänzung für den urbanen Nahverkehr. Wichtig ist, dass der ÖPNV mit dem Angebot an Mieträdern gut verzahnt ist. Dann wird das Konzept wirklich nachhaltig und permanent verfügbar. Sie fahren mit dem Rad zum Bahnhof, reisen mit dem Zug weiter und nehmen dann wieder ein Fahrrad zum Zielort. In Bonn haben wir beobachtet, dass Pendler in Köln zum Bahnhof radeln, mit dem projektManagementaktuell | AUSGABE 4.2019 REPORTAGE 39 Abb. 3: Erster Testlauf in Bonn 2017: Zur Weltklimakonferenz hatte nextbike vorübergehend 600 Mieträder für die Teilnehmer aufgestellt. Bis zu zweitausendmal pro Tag wurden die Räder ausgeliehen. Foto: nextbike Regionalzug nach Bonn und dort mit dem Mietrad zum Arbeitsplatz fahren. In Bonn haben Sie vor einem Jahr nextbikes eingeführt. Im September haben Sie rund 900 Räder in die Stadt gebracht und dann im Januar nochmals nachgelegt. Heute stehen die silber-blauen Räder an fast jeder Straßenecke. Bemerkenswert ist, dass Sie Ihr Projekt in Bonn zusammen mit den Stadtwerken Bonn vorangetrieben haben - also mit einem Partner, der den ÖPNV in Bonn verantwortet. Wie kam es zu diesem Projekt in Bonn? Der Anstoß für dieses Projekt kam von den Stadtwerken, den Verkehrsbetrieben in Bonn; die Politik hat also den Wunsch nach einem System für Mietfahrräder initiiert. Bonn war uns damals nicht unbekannt. Bereits zur Weltklimakonferenz 2017 hatten wir dort vorübergehend 600 Mieträder für die Teilnehmer aufgestellt, ein für die Teilnehmer kostenloser Testlauf. Zur Klimakonferenz wurden die Räder 2.000-mal pro Tag ausgeliehen, was ein ordentliches Ergebnis war. Kurz danach gab es eine Ausschreibung der Stadtwerke Bonn für ein dauerhaftes System. Wir haben uns an einem klassischen Vergabeverfahren beteiligt. Die Initiative für Bonn ging also gar nicht von Ihnen aus? Nein. Heute schreiben Städte solche Systeme aus, und wir beteiligen uns an den Ausschreibungen. Früher war dies anders. Damals mussten wir für unsere Idee häufig kämpfen und bei Lokalpolitikern, Verkehrsbetrieben, Universitäten und anderen möglichen Partnern „Klinken putzen“. Wir haben immer wieder die Vorteile von Bike Sharing erklärt und erläutert, wie Fahrräder den ÖPNV ergänzen und wie man Busse und Bahnen mit Rädern verzahnt. Heute dagegen weiß man in Lokalpolitik und Stadtverwaltungen, wie wichtig Mietfahrräder für die urbane Mobilität sind. Verkehrsbetriebe haben erkannt, dass Mietfahrräder die Attraktivität des ÖPNV steigern. Unsere Angebote werden vor allem zwischen 7 und 9 Uhr morgens sowie abends zwischen 17 und 19 Uhr genutzt. Das sind die typischen Zeiten des Berufsverkehrs, in denen auch die Busse und Bahnen voll sind. Wir haben es bei unseren Kunden in dieser Zeit ganz klar vor allem mit Pendlern zu tun. LOKALE PARTNER FÜR PROJEKTE Weshalb sind lokale Partner für Ihre Projekte so wichtig? Wenn wir ernsthaft neue Mobilitätskonzepte umsetzen wollen, müssen die verschiedenen Anbieter zusammenarbeiten. Da gehört der ÖPNV fest in dieses Konzept. Je enger wir mit den Anbietern von ÖPNV arbeiten können, desto besser wird am Ende die Verzahnung zwischen Bus, Bahn und Fahrrad. Darüber hinaus haben lokale Partner wie die Stadtwerke Bonn oder der Verkehrsverbund Rhein-Sieg für uns einen großen Vorteil: Sie kennen die Örtlichkeit und die Verkehrswege in der Stadt. Sie sind mit dem Bedarf vertraut und kennen beispielsweise sinnvolle Orte für Mietstationen. Sie haben Kontakte zu wichtigen Stakeholdern und können Türen für uns öffnen. Wir dagegen bringen unser Knowhow rund ums Bike Sharing ein. In der Praxis gibt es unterschiedliche Modelle der Kooperation. Einige lokale Verkehrsbetriebe sind Auftraggeber für uns. Sie bestellen bei uns Bike-Sharing-Angebote, und wir betreiben in ihrem Auftrag das Mietsystem. In anderen Fällen handelt es sich mehr um eine Partnerschaft ... ...eine Art Joint Venture? In etwa, ja. PARTNER IN BONN KENNEN STAKEHOLDER VOR ORT Die Vorbereitung für das Einführungsprojekt in Bonn war langwierig. Die politischen Entscheidungen haben sich über viele Monate hingezogen. Angesichts dieser schwierigen Starts - welche Vorteile hat diese Partnerschaft für Sie beim Projektmanagement? Die Zusammenarbeit mit Kommunen kann für uns anstrengend sein, das ist richtig. Auf der projektManagementaktuell | AUSGABE 4.2019 40 REPORTAGE anderen Seite erleichtern diese Partnerschaften auch das Projektmanagement. Denken Sie beispielsweise an das Stakeholdermanagement. Bürger, Presse, Verbände, Politik, Wirtschaft - solche Stakeholder müssen bei der Einführung einbezogen werden. Unsere Partner in Bonn verfügen über etablierte Kontakte und Verbindungen. Sie haben Zugang zu dem Netzwerk in Bonn, und dieser Zugang ist wichtig für uns. Dies betrifft auch das Marketing: Es ist von Vorteil, wenn sich lokale Spitzenpolitiker medienwirksam aufs Rad setzen und als Vorbild vorneweg radeln. Da können uns lokale Partner gut helfen, an solche Bilder zu kommen. Weshalb entscheiden sich lokale Partner für nextbike? Wir nehmen - wie in Bonn - normal an einer Ausschreibung teil. Offen gesagt, wir werden nicht zwingend darüber unterrichtet, weshalb die Wahl auf uns fällt. In Bonn mag es von Vorteil gewesen sein, dass wir im benachbarten Köln sowie im Raum zwischen Köln und Bonn aktiv sind. Diese Gegend versteht sich als Metropolregion. Was waren die Erfolgsfaktoren für das Projekt der Einführung von Bike Sharing in Bonn? Beim Projektmanagement müssen alle Prozesse ineinandergreifen: die Konzeption und Verhandlungen mit Partnern, die Lieferung der Fahrräder, der Aufbau der Servicestationen vor Ort, das Marketing. Hinter jeder Einführung steht auch die Produktion der benötigten Fahrräder. Die Produktion muss verzahnt sein mit dem Projekt. nextbike hat einen eigenen, robusten, alltagstauglichen und komfortablen Fahrrad-Typ entwickelt. Unlängst haben Sie 40.000 dieser Fahrräder bei einem Hersteller geordert. Wie sehr beziehen Sie die Nutzer in die Konstruktion der Räder ein? Wir berücksichtigen in unserer Entwicklungsabteilung natürlich das Feedback unserer Kunden. Doch wichtiger für uns ist die Rückmeldung unserer Servicemitarbeiter vor Ort, die die Fahrräder täglich aufsammeln, verschieben, warten und reparieren. In Bonn haben wir eine eigene Fahrradwerkstatt und ein mehrköpfiges Team, das sich um unseren Fuhrpark kümmert. IDEEN FÜR DIE ENTWICKLUNG DER „NEXTBIKES“ Welche Ideen kommen von Ihren Mitarbeitern? Ein Beispiel: Normale Räder haben eine Klingel mit Hebel. Viele Menschen kennen die Fahrradklingeln gar nicht anders. Doch diese Hebel sind bei unseren Rädern immer wieder abgebrochen, etwa beim Transport oder wenn die Räder hinfallen. Deshalb haben wir eine neue Klingeltechnik ohne Hebel entwickelt. Statt eines Hebels betätigt man ein Rädchen am Lenker, ähnlich wie bei der Gangschaltung. Ein anderes Beispiel: Das Rücklicht wurde komplett in den Rahmen eingelassen - und nicht wie sonst auf das Schutzblech aufgeschraubt. Durch solche Verbesserungen machen wir unsere Räder robust und sicher auch gegen Vandalismus. Auch bei den Stationen und ihren Ständern entwickeln wir ständig Neues, beispielsweise eine automatische Rückgabeerkennung mit Schließsystem. Dadurch wird das Rad doppelt gesichert. Bilden solche technischen Fragen die Herausforderung bei Ihren Projekten? Das Technische ist für uns heute ein Standardthema. Das haben wir gut im Griff. Trotzdem bildet es manchmal einen Kraftakt, den wir stemmen müssen. Wenn zum Start in einer Stadt wie Bonn Hunderte Fahrräder ausgebracht werden, braucht dies Zeit, Planung und Abstimmung mit unseren Partnern. Die Fahrräder kommen nicht komplett vom Lkw; sie müssen noch montiert werden. Auch die Stationen müssen dann einsatzbereit sein. Stationen - inwiefern ist dies schwierig? In Bonn haben wir nur wenige feste Stationen. In anderen Städten gibt es mehr davon. Doch auch für die vergleichsweise wenigen Stationen in Bonn haben wir uns vorher gemeinsam mit Mitarbeitern der Stadtplanung sowie Mitarbeitern des Verkehrs- und Tiefbauamts Standorte angeschaut. Da geht es um einfache, doch entscheidende Fragen: Kann man die Ständer für die Fahrräder direkt auf die Bodenplatten aufschrauben? Müssen wir fundamentieren, damit die Ständer standsicher sind? In Rahmen Abb. 4: Nachts sammelt das Serviceteam Fahrräder ein und bringt sie zur Wartung. Foto: nextbike projektManagementaktuell | AUSGABE 4.2019 REPORTAGE 41 eines Projekts werden zudem noch andere Aufgaben erledigt: die Anpassung von Apps an den lokalen Partner, die Entwicklung und Realisierung des Tarifsystems, die farbliche Anpassung der Räder, Entwicklung von Aufklebern, die an den Fahrrädern das Ausleihen und Zurückgeben erklären, der Aufbau des Services, wie er in unseren Service Level Agreements beschrieben ist. PROJEKTHERAUSFORDERUNG „FINANZEN“ Service Level Agreement? Was darf ich mir darunter vorstellen? Jeder Partner oder Auftraggeber erwartet von uns einen anderen Service. Manche Partner wollen, dass wir ständig Räder an den Stationen vorhalten. Wir bringen also laufend Räder dorthin und sorgen dafür, dass die Stationen nicht leerlaufen. Hinsichtlich des Service Levels gibt es sehr unterschiedliche Ausprägungen. Ähnliches gilt für das Tarifsystem. Wir empfehlen meistens, unser Tarifsystem zu übernehmen. Doch manchmal haben Städte ihre eigenen Ideen. So hat etwa Berlin individuell ein Dreitagesticket für Touristen eingeführt. Sie sagten, dass die technische Seite Ihrer Projekte kaum Schwierigkeiten macht. Wo liegen dann die Herausforderungen? Die Herausforderungen sind zumeist finanziell. Das Projekt muss vorfinanziert werden. Sie können die Mittel erst abrufen oder erst dann Rechnungen schreiben, wenn das System aufgebaut ist. Bis dahin muss man es vorfinanzieren. Daraus ergeben sich häufig Gratwanderungen. Inwiefern Gratwanderungen? Bei Projekten stellt sich uns die Frage, wie sehr man auf individuelle Wünsche etwa von Partnern eingehen kann - oder wo man Grenzen ziehen muss. Solche individuellen Wünsche müssen im Einzelfall abgewogen werden. Blutet man aus, wenn man beispielsweise dem Partner verspricht, dass wir zu jeder Zeit an jeder Station mindestens drei Fahrräder bereithalten? Kann man eine App stark für einen Partner individualisieren, oder kann man bei der Hotline neben deutscher und englischer Sprache auch etwa Arabisch oder Türkisch anbieten? So etwas schlägt sich in Arbeitsstunden und externen Kosten nieder. In der Anfangszeit unseres Unternehmens haben wir Kundenwünsche realisiert und wurden manchmal vom Aufwand und von den damit verbundenen Kosten überrascht. WACHSENDE PROJEKTE - UND IDEALISMUS DER GRÜNDERZEIT Daraus haben Sie bei Ihren Projekten gelernt? Natürlich! Unsere Projekte sind größer geworden, unser Unternehmen ist gewachsen. Da lernt man, an die Ressourcen zu denken, sich intensiver mit Anforderungen auseinanderzusetzen, vielleicht auch einmal Wünsche abzulehnen, wenn diese nicht finanzierbar sind. Wir haben uns viel Idealismus von der Gründerzeit bewahrt. Wir werden oftmals immer noch als Start-up bezeichnet, mit Verlaub, ein 15 Jahre altes. Diesen Spagat zwischen unserem Idealismus und finanziellen Sachzwängen - das meinte ich mit Gratwanderung. In Städten wie Paris und London ist das Radfahren erst durch Bike Sharing wieder populär geworden. Die Leute haben erkannt, dass das Rad nicht nur Schüler und Studenten vorwärtsbringt. Verändert da Bike Sharing auch gesellschaftlich etwas? Vielleicht, ja. In Paris hat man 2010 ein erstes, wirklich erfolgreiches Modell für ein öffentliches System aufgebaut. Dort hat man 10.000 Fahrräder stationsgebunden bereitgestellt. An zahlreichen Stationen konnte man Räder ausleihen und wieder abgeben. Da haben wir das erste Mal gesehen, was es für eine Stadt bedeutet, wenn man über eine kritische Masse von Mieträdern hinauskommt, wenn man so viele Fahrräder in die Stadt hineinbringt, dass sie wirklich für jedermann sichtbar werden und zum Straßenbild gehören. Der Effekt war: Die Leute haben wieder gelernt, Rad zu fahren. Sie sahen andere unterwegs mit den Rädern; viele überlegten sich, ob sie sie selbst nutzen können - und zwar weit über das Freizeitradeln hinaus. Das Projekt in Paris war ein Katalysator für ein Umdenken - einfach, weil mehr Radfahrer sichtbar waren. Ähnliches hat man auch in London beobachtet, als das Bike Sharing eingeführt wurde. KRITISCHE MASSE ERREICHEN Sie sagten, man sei über eine kritische Masse hinausgekommen. Was ist damit gemeint? Es kommt darauf an, dass man weder zu wenige noch zu viele Räder in die Stadt bringt. Auf der einen Seite dürfen es nicht zu wenige sein, sodass es zu Engpässen kommt … … solche Kritik hat es ja in Bonn gegeben. Dann, wenn man ein Rad brauchte, war keines da. Deshalb haben wir dort auch zügig, ein halbes Jahr später, Räder nachgeliefert. Wir haben aus anderen Projekten gelernt. Wenn wir zunächst unterhalb der kritischen Masse bleiben, dauert es lange, bis die Nutzung unserer Fahrräder in der Stadt für die breite Öffentlichkeit sichtbar ist. In Bonn und anderen Städten sind wir dies von vornherein anders angegangen. Wir sind mit einer großen Zahl von Rädern gestartet und haben sichergestellt, dass diese viel genutzt werden - etwa durch günstige Angebote für Kunden der Verkehrsbetriebe. Wir halten die Hemmschwelle, unsere Räder zu nutzen, bewusst sehr niedrig. Es dürfen aber bei solchen Einführungsprojekten aber auch nicht zu viele Fahrräder sein. Weshalb? Stehen zu viele Räder auf der Straße, sinkt die Akzeptanz. In der Vergangenheit haben einige asiatische Wettbewerber über Nacht in Innenstädten eine große Zahl von Fahrrädern ausgebracht. Diese Räder standen am Straßenrand, in Fußgängerzonen, in Parks oder vor Hauseingängen. Das war eindeutig zu viel, zumal dieser Fuhrpark anscheinend kaum gewartet und gemanagt wurde. SERVICETEAMS UNTERWEGS Dies machen Sie anders, etwa in Bonn? Wir haben die Zahl der Räder stufenweise erhöht. Je nach Bedarf haben wir aufgestockt, bis wir schrittweise die kritische Masse erreicht haben. Diesen sukzessiven Aufbau empfehlen wir übrigens auch unseren kommunalen Projektpartnern oder Auftraggebern. Was wir noch anders machen als viele Mitbewerber: Bei uns sind in den Städten unsere Serviceteams unterwegs, um die Fahrräder auf Pick-ups laden und dorthin zu bringen, wo sie gefragt sind. Wir verschieben mehrere Hundert Räder täglich. Ein Beispiel: In Bonn liegen die Universitätskliniken auf einer Anhöhe, dem Venusberg. Da möchte niemand hinaufradeln. Viele fahren mit projektManagementaktuell | AUSGABE 4.2019 42 REPORTAGE dem Bus hinauf, nehmen dann aber ein Leihfahrrad für den Weg hinab… … und genau da bringen unsere Servicemitarbeiter Räder auf den Venusberg, damit dort immer genug verfügbar sind. Außerdem haben wir eine eigene Werkstatt, in der unsere Servicemitarbeiter defekte Fahrräder zügig reparieren. In Bonn ist der Verkehrsraum beengt. Kürzlich ist die Stadt zur Stau-Hauptstadt Nordrhein-Westfalens gekürt worden, ein wenig schmeichelhafter Titel. Die Rivalität zwischen Radfahrern und Autofahrern gehört zum Alltag. Durch nextbike kommen nun noch mehr Radfahrer dazu. Wird dadurch das Radfahren noch gefährlicher? Nein, ganz im Gegenteil. Als ich vor Jahren in London Rad gefahren bin, war dies wirklich noch riskant. Dies ist dort heute anders, auch dank des Bike Sharings. Die Autofahrer gewöhnen sich an die Radfahrer. Man achtet gegenseitig auf sich. Ähnliches in Skandinavien. Dort ist in den vergangenen Jahren der Radverkehr stark gestiegen. Doch die Unfallquote ist nicht proportional mit angestiegen - obwohl mehr Radler unterwegs sind. Noch etwas: Wenn mehr Radfahrer unterwegs sind, heißt dies ja nicht, dass der Verkehr dichter wird. Ganz im Gegenteil! Viele Radler verzichten aufs Auto. Jeder Radler mehr kann ein Auto weniger bedeuten. Autoverkehr wird also aufs Rad verlagert. Dann kommen auch die Autofahrer besser durch, die auf ihr Auto angewiesen sind. Damit sind wir auch wieder beim Klimaschutz. STÄDTE HABEN CHANCEN ERKANNT Seit wann erkennen Städte, dass die Förderung von Radverkehr nicht nur Verkehrsprobleme löst, sondern auch zum Klimaschutz beiträgt? Die Erkenntnis ist nicht neu. Städte haben schon vor Jahren begriffen, dass sie den Radverkehr fördern müssen, wenn Klimaziele eingehalten werden sollen. Das heißt dann auch, den Umstieg aufs Fahrrad zu erleichtern. Wie kann man Bürger in den Sattel helfen? Durch kostengünstige Angebote! Beispielsweise in Bonn ist für Kunden des dortigen Verkehrsverbunds die erste halbe Stunde Nutzung von nextbike frei. In Hamburg und Norderstedt ist die erste halbe Stunde generell für jedermann frei. In Polen geht man noch weiter. Dort zahlen alle Städte für die Nutzung während der ersten halben Stunde. In Polen kann man sehr gut beobachten, wie sich das Verhalten der Menschen verändert. In Polen war Rad fahren für viele Jahre unüblich. Die meisten Polen hatten kein eigenes Rad. Jetzt sieht man deutlich mehr Radfahrer, auch mit eigenen Rädern. Mieträder haben dort zu einem Umdenken geführt - und zu klimafreundlichem Verhalten. Aus Sicht vieler Radfahrer müssten Städte noch mehr Projekte anstoßen, um das Radfahren attraktiv zu machen. Radwege, Parkhäuser für Radler, Schnellwege - die Liste der Ideen ist lang. Wie sehen Sie dies? Da ist was dran! Einfach nur Fahrräder in die Stadt zu bringen, dies hilft auf Dauer kaum weiter. Radfahrer müssen sich in der Stadt und im Straßenverkehr sicher fühlen. Dies schließt ein, dass Städte genug Radwege haben und diese auch pflegen, etwa durch Schneeräumen im Winter. Um die Verbesserung der Infrastruktur für Fahrräder wird man vermutlich nicht herumkommen, wenn man die Klimaziele erreichen will. „ECHTE VORBILDER“ FÜR RADVERKEHR nextbike hat Standorte in vielen europäischen Städten. Welche Stadt ist aus Ihrer Sicht Vorbild für sicheren und komfortablen Radverkehr? Kopenhagen gefällt mir sehr gut, obwohl wir nicht vor Ort sind. Dort finden Sie nicht nur klassische Fahrräder, sondern etwa auch Lastenräder, in denen Kinder oder Einkäufe transportiert werden. Die Infrastruktur für Radfahrer ist in Kopenhagen hervorragend durchdacht und geplant. Einige Radwege sind breiter als die Spuren für Autos. Manche Radwege haben mehrere Spuren, sodass man gefahrlos überholen und abbiegen kann. Es gibt Radschnellwege und Brücken ausschließlich für Radfahrer, beispielsweise eine, die den Hafen quert. Ampelschaltungen sind für Radfahrer optimiert. Was aber ebenso wichtig ist wie diese Infrastruktur: Die Menschen in Kopenhagen haben ein Bewusstsein für Radverkehr entwickelt. Autofahrer passen etwa beim Abbiegen oder Öffnen der Autotür auf. Und: Der Radverkehr trägt zur Steigerung der Lebensqualität in der Stadt bei. Ich habe Kopenhagen als bunt und vielfältig erlebt. Das Thema „Rad fahren“ war ja lange Zeit politisch geprägt. Viele Radfahrer rechnen sich dem links-grünen Spektrum zu. Rad fahren galt auch als politisches Statement. Das ist in Deutschland noch immer so. Diese alten Fronten spüren Sie noch in der Diskussion. Das Rad und das Auto werden als Kontrahenten gesehen, und dies wird politisch nach wie vor instrumentalisiert. In einer Talkshow habe ich mit einem Politiker diskutiert, der ebenfalls noch diesen Fronten verhaftet war. Auf der anderen Seite höre ich von Bürgermeistern, dass in ihren Städten Rad fahren längst nicht mehr politisch koloriert oder alternativ-links verortet ist. Da bewegt sich derzeit etwas - vielleicht auch angestoßen durch unsere laufende Klimadiskussion. Rad fahren wird normal für jedermann, also zum Mainstream: ein völlig normales Verkehrsmittel wie auch das Auto. Dies können Sie beispielsweise im Berufsverkehr erkennen. Da sind viele Menschen im Anzug und mit Aktentasche unterwegs. ARBEITGEBER KÖNNEN MITMACHEN Können da auch Arbeitgeber das Radfahren fördern? Warum nicht? Wir sind große Freunde der Idee, dass Arbeitgeber statt einer Gehaltserhöhung steuerfrei ein Mietrad finanzieren. Die Sächsische Staatskanzlei hat ihren Mitarbeitern Accounts bei uns gekauft. Die Mitarbeiter können auf unseren Fuhrpark in Dresden zugreifen. Gegen Aufpreis stellen wir Unternehmen sogar eine eigene Station vor die Tür. Versuchen wir doch bitte einen Ausblick auf die Zukunft. 20 Jahre weiter - wie hat sich für Sie der Radverkehr in Deutschland verändert, wenn Sie morgens auf dem Weg zur Arbeit sind? In einer idealen Welt stelle ich mir dies so vor: Es wird einen starken Zuwachs beim Radverkehr geben - nicht nur in Deutschland oder Europa, sondern weltweit. Ich fahre auf einem breiten Radweg zusammen mit vielen anderen Radfahrern. Zwischen uns sind Cargoräder mit Kindern oder auch Gütern. Wenn wir an Ampeln stehen bleiben, entdecke ich Bekannte und Nachbarn. Wir grüßen uns freundlich. Es ist genug Platz für alle da, ich kann beispielsweise ein langsames Lastenrad bequem überholen. Die Aggressivität, die wir aus dem Autoverkehr heute kennen, ist einem freundlichen, rücksichtsvollen Miteinander gewichen. projektManagementaktuell | AUSGABE 4.2019 REPORTAGE 43 Mit dem nextbike unterwegs in Bonn - ein Selbstversuch Klappt es wirklich mit den Mietfahrrädern in Bonn? Wir haben es ausprobiert. Erster Eindruck: Die Mieträder sind eine gute Alternative und Ergänzung - gleichwohl es auf Bonner Straßen für Radler nicht immer so hurtig vorangeht wie gewünscht. Abb. 5: Erster Eindruck: Die Räder sind erstaunlich stabil und gut zu fahren. Foto: Oliver Steeger Mein Smartphone weist mir den Weg zum nächsten Mietfahrrad. Vor dem Alten Rathaus in Bonn soll ein „nextbike“ stehen. Meine App sagt: Am Standort 4749 ist das Rad mit der Nummer 45423 frei, eines der wenigen in der Bonner Fußgängerzone. Ich bin am Hauptbahnhof, ein Fußweg dorthin von gut zehn Minuten. Offenbar bin ich nicht der Einzige, der um 10 Uhr morgens mit einem der blau-weißen Mieträder unterwegs sein will. An der Fußgängerampel hinter mir steht eine junge Frau mit „ihrem“ nextbike. Ich suche „meins“, sage ich ihr. „Keine Sorge“, ermuntert sie mich, „diese Räder gibt es überall.“ Sie habe sehr selten Probleme damit, eines zu finden. „Ich fahre damit zur Uni nach Poppelsdorf“, erklärt sie. Das sind doch höchstens zwanzig Minuten zu Fuß! „Na und? “, sagt sie, „es spart Zeit.“ Die Ampel schaltet auf Grün, und schnell ist die Radlerin im Verkehr verschwunden. Ich laufe zu meinem nextbike Nr. 45423. Doch am Rathaus angekommen finde ich es nicht. Ich aktualisiere die Karte. Oops, da war jemand schneller. Am Obelisken auf dem Marktplatz erspähe ich ein anderes Rad. Leider ist es nicht frei, wie mir die App mitteilt. Da hält jemand anders die Finger drauf. Ein dunkelhaariger Mittdreißiger schiebt sein nextbike durch die Fußgängerzone. „Die Mieträder sind sehr günstig“, rechnet er mir vor, „die erste halbe Stunde ist für mich frei wegen meines Abos beim Verkehrsverbund.“ Doch die meisten Radler, so habe ich gehört, schöpfen die erste freie halbe Stunde nicht einmal aus. Die Station „Friedensplatz/ Budapester Straße“ ist ebenfalls leer, Gleiches gilt für „Alter Friedhof“. Dann sehe ich ein einsames Rad gegenüber dem Landgericht, und es ist frei. Ich scanne die Nummer ein, das Schloss öffnet sich mit lautem Klacken. Mit einem Handgriff bringe ich den Sattel auf meine Höhe. Dann geht es los! Weiter geht’s durch den Hofgarten an der Universität. Obwohl das Fahrrad so massiv wirkt, fährt es sich leicht und sicher. Die Bremsen sind gut, die Klingel - durch ein Rädchen statt eines Hebels zu betätigen ist gewöhnungsbedürftig. Die Lampen sehen solide aus, das Rücklicht ist in den Rahmen eingelassen. Jemand sagt mir, dass er das Rad gerne nachts nutzt, wenn er von Partys heimfährt und kein Bus mehr geht. Abb. 6: Eine Radlerin unterwegs am Bonner Rathaus. Foto: Oliver Steeger Auf dem Münsterplatz am Beethoven-Denkmal will ich kurz Pause machen. Ich stelle das Rad ab und checke aus (einfach das Schloss schließen, dann wird es automatisch ausgebucht). Zehn Minuten später bin ich wieder da. Mein Rad ist weg. Jemand anders hat es gerade gemietet. Ich sehe ihm hinterher, als er davonradelt. Autor: Oliver Steeger  projektManagementaktuell | AUSGABE 4.2019 44 REPORTAGE