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UVK Verlag Tübingen
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2019
305 GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.

Vom einfachen Reiseagenten zum Erfinder der Kreuzfahrt - Albert Ballin

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2019
Oliver Steeger
Er sei nie richtig jung gewesen, bekannte Albert Ballin 1910 gegenüber einem Freund. Die Sorglosigkeit der Jugend habe er nie erlebt. Im wilhelminischen Hamburg bewunderte und beneidete man den umstrittenen Generaldirektor der Reederei Hapag, der Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt-Actien-Gesellschaft. Er galt als freundlich und gewinnend, aber auch schwierig. Einigen blieb seine angenehme Stimme in Erinnerung. Anderen prägte sich ein, wie der mittelgroße Mann häufig seinen Kopf nach vorne neigte und etwas schräg hielt. Albert Ballin kam aus kleinen Verhältnissen, er hatte nie eine richtige Ausbildung erhalten. Als 17-Jähriger wurde er ins kalte Wasser geworfen: Er musste 1874 nach dem Tod des Vaters dessen Reiseagentur weiterführen, ein Geschäft ohne rechte Zukunft. „Sink or swim“, wie man in England sagt. Ballin hielt den Kopf über Wasser. Wenige hätten dem „Hafenjungen“ zugetraut, später zu den ersten Kreisen Hamburgs zu gehören. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts baute er die Hapag zur weltgrößten Reederei aus mit 200 Seeschiffen, die auf 70 Routen rund um den Globus über 400 Häfen anliefen. 1947 benannte Hamburg eine seiner prächtigsten Straßen nach ihm, den Ballindamm an der Binnenalster.
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die Tausende Menschen, die aus ganz Europa in die Stadt kamen und weiterstrebten in die „Neue Welt“. Bei allen Verdiensten, viele große Hamburger Traditionsfamilien blieben ihm gegenüber reserviert. Sie hatten Umgang mit ihm, vielleicht respektierten sie ihn. Doch nur die wenigsten achteten Ballin. Für einige blieb er zeitlebens der „Hafenjunge“. „Eine leise Missachtung hat Ballin zeit seines Lebens gespürt“, sagt Daniel Jahn. Ballins Vater war das, was man in Hamburg Auswandereragenten oder Passageagenten nannte. Diese freien, höchst umtriebigen Agenten verkauften je nach Marktlage Passagiertickets an Auswanderer. Der Beruf galt als unfein, die Agenten als ruchlos, was häufig auch zutraf. Die Hamburger Reeder wollten nicht mit ihnen zusammenarbeiten, allen voran die hoch angesehene Hapag. Also schafften die Agenten Auswanderer nach England und vermittelten ihnen dort - unter Umgehung Hamburger Reedereien - günstige Passagen Richtung Amerika. Man glaubte die Auswanderer nie wiederzusehen; so wurden die zumeist armen Teufel in den Hafenstädten nach Strich und Faden ausgenommen: Passageagenten, Besitzer von Absteigen, Bordelle und Hafenkneipen beteiligten sich an dem üblen Geschäft. Als „Abschaum“ bezeichnete ein Reeder diese Agenten. Er sprach aus, was viele dachten. Die Passage-Agentur seines Vaters musste der junge Albert Ballin zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt weiterführen. Eine Wirtschaftsdepression ließ den Auswandererstrom zu einem Rinnsal verkümmern. Schlimmer noch: In England fiel der Passagepreis. Immer mehr und immer größere Schiffe ruinierten die Konditionen. Hinzu kam die Weigerung der Hamburger Schiffseigner zur Kooperation. Als junger Mann hatte Ballin wiederholt Auswanderer, denen er die Passage verkaufte, Er sei nie richtig jung gewesen, bekannte Albert Ballin 1910 gegenüber einem Freund. Die Sorglosigkeit der Jugend habe er nie erlebt. Im wilhelminischen Hamburg bewunderte und beneidete man den umstrittenen Generaldirektor der Reederei Hapag, der Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt-Actien-Gesellschaft. Er galt als freundlich und gewinnend, aber auch schwierig. Einigen blieb seine angenehme Stimme in Erinnerung. Anderen prägte sich ein, wie der mittelgroße Mann häufig seinen Kopf nach vorne neigte und etwas schräg hielt. Albert Ballin kam aus kleinen Verhältnissen, er hatte nie eine richtige Ausbildung erhalten. Als 17-Jähriger wurde er ins kalte Wasser geworfen: Er musste 1874 nach dem Tod des Vaters dessen Reiseagentur weiterführen, ein Geschäft ohne rechte Zukunft. „Sink or swim“, wie man in England sagt. Ballin hielt den Kopf über Wasser. Wenige hätten dem „Hafenjungen“ zugetraut, später zu den ersten Kreisen Hamburgs zu gehören. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts baute er die Hapag zur weltgrößten Reederei aus mit 200 Seeschiffen, die auf 70 Routen rund um den Globus über 400 Häfen anliefen. 1947 benannte Hamburg eine seiner prächtigsten Straßen nach ihm, den Ballindamm an der Binnenalster. „Albert Ballin hat vieles revolutioniert, nicht nur im Hafen“, erklärt Daniel Jahn, Referent bei der Hamburg Port Authority (HPA). Ballin erfand die Kreuzfahrt und war einer der Ersten, die sich moderner Mittel bedienten, etwa Public Relations oder die ganz unhanseatische Kooperation mit der Presse. Er dachte Märkte strategisch neu und setzte kühne Projekte auf: etwa die Errichtung der „BallinStadt“, eines Zentrums für Auswanderer am Hafen mit Massenunterkünften für Albert Ballin Vom einfachen Reiseagenten zum Erfinder der Kreuzfahrt Autor: Oliver Steeger nach England begleitet. Dort eignete er sich nicht nur perfektes Englisch an, sondern lernte auch viel über Schifffahrt und Passagiergeschäft. 1881 legte er sich mit den Hamburger Reedern an. Er tat sich mit dem Reeder Carr zusammen, der zwei Frachtschiffe zu Auswandererschiffen umbaute. Ballin sagte zu, ausreichend Passagiere für die Schiffe zu werben. Da ihm die Laderäume der Frachter für eine Passage unter Deck unzumutbar erschienen, entschied er sich zu einem aufsehenerregenden Schritt: Während der Überfahrt durften die Passagiere die Räume unter Deck verlassen und sich ohne Beschränkung auf dem Schiff bewegen. Dieses Recht galt traditionell nur für die teurere Kajütenklasse. Ballin ging noch weiter: Er verzichtete auf die Albert Ballin, der Erfinder der Kreuzfahrt, Foto: Hapag-Lloyd AG, Hamburg projektManagementaktuell | AUSGABE 5.2019 06 REPORT Die historische Hauptverwaltung der HAPAG an der Binnenalster, Foto: Hapag-Lloyd AG, Hamburg Kajüten und fokussierte das Geschäft ganz auf Auswanderer. Ballins Projekt wurde zum Erfolg. Bereits im zweiten Jahr meldete Ballin an Carr, dass er auf rund 11.000 Passagiere komme. Carr kaufte vier neue Schiffe. Dies war eine Kampfansage an die Hapag, die ohnehin wegen mangelnder Führung und schwerfälliger hanseatischer Gepflogenheiten in schlechtem Fahrwasser lief. Die Hapag ließ sich auf einen Preiskampf mit Ballin und Carr ein. Gespräche zwischen den Kontrahenten stockten; die Hapag blieb stur. Da setzte Ballin auf ein damals innovatives Instrument: Er setzte die Reeder mit Öffentlichkeitsarbeit unter Druck. Als Carr 1886 mit einem scharfen Rivalen der Hapag fusionierte und zum Entsetzen des Hapag-Direktoriums eine wöchentliche Dampfer-Verbindung nach New York ankündigte, brachte dies das Fass zum Überlaufen. Die Hapag-Aktionäre verlangten Abhilfe. Also Gespräche mit Ballin, schlimmstenfalls eine Fusion des Geschäfts. Aus dem Hafenjungen war ein bedrohlicher Konkurrent geworden. Die neue Gesellschaft seines Geschäftspartners verschmolz mit der Hapag, und Albert Ballin trat in die Hapag ein. Einunddreißigjährig wurde er einer ihrer jüngsten und vielleicht energischsten Direktoren. Mit geschickten Manövern hielt er die britische Konkurrenz in Schach. Vor allem gelang es ihm, den Auswanderern, den „Zwischendeckpassagieren“, mehr Komfort zuzubilligen. Neben den Massenquartieren gab es erste Kabinen im Zwischendeck, später stand sogar jedem Passagier ein eigenes Bett zu. Elektrisches Licht wurde installiert, und die Schiffskost übertraf manchmal das, was die Auswanderer von daheim kannten. Albert Ballin dachte strategisch über die reine Schiffspassage hinaus und entdeckte neue Märkte. Aus ganz Europa ergoss sich der Auswandererstrom nach Hamburg. Ballin begann, die Reise als Ganzes zu organisieren - vom lokalen Bahnhof der Auswanderer bis in die neue Welt zu „Ellis Island“. In über ganz Europa verteilten Hapag-Agenturen buchten Auswanderer das Komplettpaket. „Die Gesellschaft sorgte nicht nur mit Sonderzügen für die Anreise der Auswanderer, sondern übernahm auch Formalitäten und die medizinisch erforderliche Untersuchung“, erklärt Daniel Jahn. 1892 eröffnete die HAPAG erste Unterkünfte für die eintreffenden Auswanderer. 1901 folgten die berühmten Auswandererhallen, spezielle Bauten mit eigenem Gleisanschluss, mit Schlafsälen, Speisehalle, Wascheinrichtungen, Sanitäranlagen und sogar Musikpavillons. „Albert Ballin setzte Maßstäbe in puncto Sicherheit, Sauberkeit und Hygiene“, sagt Daniel Jahn, „und das tat er nicht nur aus Philanthropie, sondern auch aus Geschäftssinn.“ Komfort zog Passagiere an, dies hatte er als Passageagent erfahren. Zwar querten die meisten Auswanderer nur einmal den Ozean, doch sie waren wichtige Multiplikatoren. Ihre Erfahrungen gaben sie an die Daheimgebliebenen weiter, die sich ebenfalls mit dem Gedanken der Auswanderung befassten. Die Mund-zu-Mund- Propaganda zeigte Wirkung. Zwischen 1891 und 1914 brachen fast 1,9- Millionen Menschen vom Hamburger Hafen auf in eine neue Zukunft. Das war das Massengeschäft. Einen weiteren, weitaus exklusiveren Markt eroberte Albert Ballin eher durch Verlegenheit. 1888 lief ein neuer Hapag-Schnelldampfer vom Stapel, ein innovatives Doppelschrauben-Schiff, schnell, komfortabel wie ein schwimmendes Hotel - und vor allem flexibel. Der neue Dampfertyp Damals „Vergnügungsreise“ genannt: Werbung für luxuriöse Kreuzfahrten rund um die Welt. Foto: Hapag-Lloyd AG, Hamburg projektManagementaktuell | AUSGABE 5.2019 REPORT 07 Die Augusta Victoria, das erste Kreuzfahrtschiff, liegt vor New York, Foto: Hapag-Lloyd AG, Hamburg war so konstruiert, dass er nicht nur Menschen, sondern auch Fracht befördern konnte. Ballin ließ den neuen Doppelschrauben-Dampfer publikums- und pressewirksam auf den Namen der deutschen Kaiserin taufen: Augusta Viktoria. Damit verfolgte er ein Kalkül: Eine Verbindung zur Berliner Monarchie würde, wie er wusste, das Image der Hamburger enorm aufpolieren. Solche taktischen Marketing-Schachzüge wurden häufiger; wer Märkte erobert, muss seine Dienstleistungen vermarkten. Um 1890 etablierte er in seinem Unternehmen Abteilungen, die heute Public Relations oder Marketing heißen würden. Doch außerhalb der Saison, in den unwirtlichen Wintermonaten, blieb der neue Doppelschraubendampfer ungenutzt. Dies störte den Unternehmer Ballin. Er nahm sich vor, die Schiffe außerhalb der Saison mit betuchten Passagieren auf Vergnügungsfahrt zu entsenden. Das war ein revolutionäres Projekt: eine Reise nur zum Vergnügen - und um auf Landgängen ferne Länder zu erkunden. Das sahen auch einige seiner Vertrauten kritisch. Doch Ballin setzte sich durch: 1891 legte die Augusta Viktoria an einem kalten Wintertag ab, fuhr die vereiste Elbe hinauf und steuerte dem warmen Mittelmeer entgegen. Das Schiff war geräumig genug, um den Passagieren die Reise zum Genuss werden zu lassen. Dies machte die Hapag zur führenden Kreuzfahrt-Reederei - und zur Begründerin einer Tradition, die bis heute hält. 1892 und 1893 führten weitere Kreuzfahrten ins Mittelmeer, 1894 folgte die legendäre Nordlandreise. Albert Ballin kooperierte eng mit Reiseveranstaltern vor Ort, die Ausflüge organisierten und Rahmenprogramme auf die Beine stellten. Doch der Erfolg der Kreuzfahrten hatte eine Schattenseite: Mit wachsendem Erfolg waren die luxuriösen Schnelldampfer nun auch außerhalb der Wintersaison unterwegs. Die Schiffe fehlten im Liniendienst. Ballin gab den neuen Markt aber nicht auf. Er schob ein neues Projekt an - und ließ Kreuzfahrtschiffe bauen, die nur für die neuartigen Vergnügungsreisen eingesetzt wurden. Zehn Jahre nach der ersten Kreuzfahrt dampfte die „Prinzessin Viktoria Luise“ ab - mit 180 zahlungskräftigen Passagieren an Bord, die von über 160 Besatzungsmitgliedern umsorgt wurden. Albert Ballin überließ nichts dem Zufall. Er war als Perfektionist gefürchtet. Sein Notizbuch, in dem er bei der Reise auf seinen eigenen Schiffen Kritik und Verbesserungen festhielt, galt als furchteinflößend. Er hatte ein Auge fürs Detail, sogar die Größe der Butterdose war ihm eine Bemerkung wert. Für seine unnachsichtige Genauigkeit war er bekannt - und auch für seine Arbeitswut. Seine Gesundheit litt unter dem Druck, dem er ausgesetzt war und den er sich selbst machte. Es wird erzählt, dass seine Frau ihn abends in den Schlaf lesen musste. Eine rührende Fürsorglichkeit. Während sie las, hielt sie seine Hand. Entglitt ihr die Hand, so war er eingeschlafen. 1912 erreichte Ballin die Nachricht vom Untergang der Titanic. Die Hapag stand vor dem Stapellauf eines noch größeren Schiffs, der „Imperator“, 277 Meter lang, fast 1200 Besatzungsmitglieder und 4.500 Passagiere, jeder der drei Schornsteine ein Koloss, unter Deck vier Dampfturbinen, die 74.000 PS erzeugen. Nach der Tragödie der Titanic ordnete Ballin an, die Sicherheit des Schiffs zu verbessern. Vor allem ließ er Rettungsboote für wirklich alle Passagiere an Bord bringen. 1913 galt die Imperator als weltgrößtes Passagierschiff - und zeugte von der Kraft der deutschen Passagierschiffahrt. Doch Ballin sah, wie andere Zeitgenossen auch, dunkle Wolken aufziehen, die vom Ersten Weltkrieg kündeten. „Ein Verbrechen“, sagte er bei Kriegsausbruch, „der dümmste und blutigste Krieg, den die Weltgeschichte gesehen hat.“ Der Krieg zerstörte nicht nur Europa. Er vernichtete auch Ballins Lebenswerk. 1917, beim Kriegseintritt der USA, ahnte er, dass von der Hapag nicht viel bleiben würde. Die wilhelminische Welt ging unter. Mit ihr verlor die weltberühmte Hapag ihre Schiffe, ihr Geschäft - aber nicht ihren Ruf. Im November 1918, just in der Stunde, als in Berlin die Republik ausgerufen wurde, starb Albert Ballin in einem Hamburger Krankenhaus. Ob es Selbstmord war oder nicht, wurde nie zweifellos geklärt. Tipp: Das Auswanderermuseum BallinStadt Hamburg illustriert die Ein- und Auswanderungsgeschichte über vier Epochen hinweg. In insgesamt drei Häusern auf 2.500 qm zeigt es das Leben der Menschen mit all ihren Wünschen und Träumen, die sie auf ihren Weg in eine neue Heimat mitnahmen. Besucher begegnen dort auch dem Wirken von Albert Ballin, dem Gründer der damaligen Auswandererhallen in Hamburg. Weitere Informationen: www.ballinstadt.de Verlag und Herausgeber haben sich bemüht, alle Rechteinhaber der verwendeten Abbildung zu ermitteln. Berechtigte Hinweise auf übersehene Rechtsansprüche erbitten wir an die GPM e.V.  projektManagementaktuell | AUSGABE 5.2019 08 REPORT