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UVK Verlag Tübingen
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GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e. V.Die letzten drei Prozent Reserve wecken
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Oliver Steeger
Projektmanagement braucht Spitzenkönner. Doch wer Spitzenkönner werden will, muss mehr als nur seine Disziplin üben. Ein Gespräch mit dem Performancetrainer Mirko Sellner zeigt: Topperformance setzt sich aus Dutzenden einzelner Bausteine zusammen, darunter scheinbar simple Punkte wie Atmung, Ernährung, Stressmanagement, mentale Haltung oder Management von Leistungskurven. Wie aus exzellenten Könnern Topperformer werden (und was Projektmanager davon lernen können) – dies erklärt Mirko Sellner im Interview.
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Performancetrainer Mirko Sellner erklärt das Geheimnis von Topleistung Die letzten drei Prozent Reserve wecken Autor: Oliver Steeger Sellner, kennen Sie als Sportcoach so etwas auch aus Wettkämpfen im Spitzensport? Mirko Sellner: Ja, sehr gut sogar! Ich habe vor einiger Zeit mit einer Eishockey-Mannschaft zusammengearbeitet. Sie hat hart gearbeitet und trainiert. Die Spieler haben hervorragend ihr Leistungspotenzial entfaltet und sich mit der Silbermedaille belohnt. Doch die nächste Meisterschaft war umso schwieriger. Die Mannschaft hat dann verloren? Nein. Sie kannte die Gefahr. Sie hat den Silber-Sieg gefeiert - und sich dann sofort auf die nächste Meisterschaft vorbereitet. Sie hat noch mehr gearbeitet als vorher. Nach dem Spiel ist vor dem Spiel, wie man im Sport sagt … … wobei Sportler nach einem Sieg noch mehr für Projektmanagement braucht Spitzenkönner. Doch wer Spitzenkönner werden will, muss mehr als nur seine Disziplin üben. Ein Gespräch mit dem Performancetrainer Mirko Sellner zeigt: Topperformance setzt sich aus Dutzenden einzelner Bausteine zusammen, darunter scheinbar simple Punkte wie Atmung, Ernährung, Stressmanagement, mentale Haltung oder Management von Leistungskurven. Wie aus exzellenten Könnern Topperformer werden (und was Projektmanager davon lernen können) - dies erklärt Mirko Sellner im Interview. Manche Teams machen enorme Fortschritte bei ihrem Projekt - und dann plötzlich zerrinnt ihnen der Erfolg zwischen den Fingern. Das Team kann die Erfolgsserie nicht fortsetzen. Es ist, als sei die Luft heraus aus dem Team. Herr Rundumsicht im Simulator, Foto: www.kraeling-foto.de Mirko Sellner Mirko Sellner ist Performance- und Mentaltrainer sowie Sportprojektmanager. Seit 23 Jahren ist er im Personal-Coaching tätig. Seit 12 Jahren coacht er Rennfahrer und hat viele Meistertitel im Profi-Rennsportbusiness unterstützt, dabei auch mit einem eigenen Formel-Rennsimulator. Er war vier Jahre lang Team-Mentaltrainer in der ersten Bundesliga DEL und hat zwei Vizemeistertitel unterstützt (Saison 2014/ 2015 und 2015/ 2016). Mirko Sellner ist außerdem erfolgreicher Sportmentalcoach für verschiedene Einzelsportarten. E-Mail: -info@mirkosellner.de projektManagementaktuell | AUSGABE 5.2019 38 WISSEN (Fast) wie auf der Piste: Mirko Sellners Rennsimulator wird für professionelles Training genutzt, Foto: www.kraeling-foto.de Mirko Sellner im Gespräch mit einem Rennfahrer, Foto: Raimo Hübner das nächste Spiel trainieren müssen. Sportler sollten lernen, die Spannung beizubehalten. Beim Eishockey finden die Spiele hauptsächlich Freitag und Sonntag statt. Die Mannschaft reist beispielsweise freitags spätabends von der Spielstätte wieder ab. Auf der Heimfahrt - auch nach erfolgreichen Spielen - beginnt die Analyse für die Nachbereitung, um daraus eine Vorbereitung für das kommende Sonntagsspiel zu generieren. Also nicht nur um der Analyse willen, sondern auch um ein Signal zu senden: „Wir müssen hart weiterarbeiten. Der nächste Erfolg wird umso schwieriger! “ Ein guter Trainer erkennt die Leistungszyklen seiner Sportler. Nach einem Sieg zeigt er der Mannschaft, dass sie nicht abheben darf. Sie muss sich noch intensiver als bisher auf das nächste Spiel vorbereiten. Denn nach einem Sieg sind Sportler anfällig dafür, sich von einer Erfolgswelle getragen zu sehen. Sie starten in den nächsten Wettkampf mit dem Gefühl, dass ihnen der erneute Sieg sicher ist - obwohl sie noch nicht am Ziel sind. Während des Spiels gibt es erste Teilerfolge. Die Sicherheit nimmt zu. Alles läuft perfekt. Der Sieg scheint greifbar, so, als ob er schon erreicht wäre. Dann kommt die fatale Wendung: Die Leute fühlen sich unschlagbar. Es läuft ja so großartig! Sie wähnen sich unbesiegbar. Vielleicht ist dies nur ein Gedanke, ein Gefühl. Doch in diesem Moment lässt die Spannung nach. Sie werden unachtsam. Sie geben nicht mehr alles für die Spitzenleistung. DIE SPIELER „EINFANGEN“ Die Sportler sehen sich nicht mehr auf dem Spielfeld, sondern schon auf der Siegerstraße? Genau. Dann sinkt die Leistungskurve. Zuerst lässt die Leistung ein bisschen nach; es kommt zu kleineren Fehlern. Dann kommen die Einschläge näher. Manche Sportler erschrecken und versuchen panisch, das Steuer herumzureißen. Doch plötzlich ist der Flow weg. Ihr Spiel kommt ins Stolpern. Die Niederlage ist dann häufig vorprogrammiert. Die Aufgabe des Trainers ist es, dieses Gefühl der Unschlagbarkeit in einer Mannschaft zu erkennen und schnell und wirksam gegenzusteuern. Er muss die Spieler wieder einfangen, damit sie weiterarbeiten. Wo genau liegt das Problem mit dieser Spannung, von der Sie sprechen? Wenn die Spannung nachlässt, sind wir nicht mehr zu 100 Prozent fokussiert auf das, was wir tun. Wir schöpfen unser Leistungspotenzial nicht mehr vollständig aus. Zunächst kommt es zu vielleicht verzeihlichen Flüchtigkeitsfehlern. Dann wird es schlimmer. Versuchen Sportler dann, das Steuer herumzureißen, sind sie häufig nur noch bei 65 bis 70 Prozent ihrer Leistungsfähigkeit. Dann kommt vielleicht nochmals neuer Kampfgeist, doch man erreicht nur noch maximal 80 Prozent seiner normalen Leistungsfähigkeit. Bei der Krisenbewältigung kann die Mannschaft gar nicht mehr alle Kräfte wecken, die in ihr stecken. GEFÜHL FÜR LEISTUNGSZYKLEN Sie sprechen vom Mannschaftssport. Gilt dies auch für Einzelne? Selbstverständlich! Wenn Sie zu einem Topperformer werden wollen, brauchen Sie dieses projektManagementaktuell | AUSGABE 5.2019 WISSEN 39 Gefühl für Ihre Leistungszyklen. Sie benötigen eine gute Intuition dafür, wann die Spannung nachlässt und Sie beginnen, sich für unbesiegbar zu halten. Das ist häufig ein Seiltanz, dies gebe ich zu. Man fragt sich: Muss jetzt diese Anspannung wirklich sein? Man hat ja bewiesen, dass man es kann ... Genau! Man war ja auf dem Gipfel! Weshalb jetzt noch mehr arbeiten? Spitzensportler haben gelernt, sich recht gut gegen diese Versuchung zu schützen. Manche nennen dies Respekt vor dem Sport und dem Kampf. Andere sprechen von Demut, wieder andere von Dankbarkeit. Dankbarkeit und Demut sind vielen Spitzenkönnern zu eigen. Ich habe Rennsportler beobachtet, die nach dem Rennen vor ihrem Wagen in die Knie gegangen sind und ihm gedankt haben. Das war für viele Zuschauer irritierend. Was macht der Rennfahrer da? Er kniet vor dem Auto nieder und dankt ihm. Doch dies ergibt Sinn! Im Motorsport sind Fahrer und Wagen stark verbunden. Die Fahrer entwickeln eine exzellente, innige Verbindung zu dem Wagen. Sie spüren alles, was der Wagen ihnen mitteilt. Dadurch kommen sie in einen Flow-Effekt während des Rennens. Und dabei entsteht Dankbarkeit gegenüber der Technik, die den Sieg ermöglichte. Diese Demut und Dankbarkeit sind Tugenden, die alle lernen sollten, die sich auf den Weg zu Spitzenleistungen machen. STARKE EIGENMOTIVATION Sie haben viel Erfahrung damit, Menschen zu Höchstleistung zu bringen. Was unterscheidet Ihrer Beobachtung nach Spitzenkönner von denen, die „nur“ gute Leistungen erbringen oder über Mittelmaß gar nicht hinauskommen? Was den Sport betrifft: Genetik und Talent sind wichtig für Topperformance. Bei Topläufern beispielsweise passen Größe und Statur des Körpers perfekt zueinander. Die Beinlänge und die Länge des Rumpfes harmonieren. Doch Genetik und Talent sind nicht alles. Da kommt noch einiges hinzu, zum Beispiel der eigene Antrieb, die Motivation. Manche Sportler, die mit mir zusammenarbeiten wollen, haben dank ihrer starken Eigenmotivation bereits einen Großteil ihrer Leistungsfähigkeit erschlossen. Ihnen geht es darum, die letzten drei Prozent Reserve zu wecken. Die letzten drei Prozent? Wirklich? Das ist meine Aufgabe: die letzten drei Prozent zu mobilisieren, die exzellente Sportler von Topperformern trennt. Drei Prozent klingt recht wenig. Diese zu wecken bedeutet aber manchmal sehr, sehr viel Arbeit. Und dafür ist diese intrinsische Motivation unerlässlich. Inwiefern viel Arbeit? Viele Sportler beklagen sich, dass sie nicht weiterkommen - obwohl sie viel trainieren, topfit sind, ihre Sportdisziplin gut beherrschen, technisch ausgefeilte Sportgeräte haben und von einem guten Team begleitet werden. Sie stoßen an eine Art gläserne Decke. Wo setzen Sie an? Wie machen Sie aus exzellenten Sportlern Spitzenperformer? Bei der Technik und anderen harten Faktoren kann ich mit meinen Sportlern vielleicht noch an Kleinigkeiten feilen. Beispielsweise Tennis: Wir können vielleicht nochmals den Schläger optimieren und die Bespannung auf den Sportler und das Match einstellen. Doch dieses Potenzial ist schnell ausgeschöpft. Da ist eigentlich nicht mehr viel zu holen. Wir kommen dann zu den weichen Faktoren - zum Menschen selbst. Ein Beispiel: Ich habe viel mit jungen Sportlern zu tun, die in ihre Sportarten sehr erfolgreich hineinwachsen. Häufig stehen ihre Eltern im Hintergrund, die die Sportlerkarriere ihrer Kinder pushen. Manchmal merke ich im Coaching, dass die Eltern den Erfolg mehr wollen als die jungen Sportler selbst. Dann fällt es den Sportlern schwer durchzustarten. Da kommt man auf Loyalitäten und viele andere mentale Faktoren zu sprechen. BLOCKADEN IM KOPF LÖSEN Etwa durch mentales Training? Nicht nur durch mentales Coaching. Allein mentale Techniken reichen manchmal nicht aus, um Blockaden im Kopf zu lösen, Selbstbewusstsein oder Motivation zu entwickeln. Neben dem Mentalen gibt es noch viele andere wichtige Dimensionen. Wir wollen den Erfolg auf ein sehr breites Fundament stellen. Wie darf ich mir dies genau vorstellen? Jeder Mensch hat Bedürfnisebenen, von einfach erscheinenden Dingen wie Ernährung und Schlaf bis hin zur Sinnsuche und zu einem erfüllenden Leben. Beim Sportcoaching gehen wir die Bedürfnispyramide stufenweise durch, von unten nach oben. Wir optimieren jeden einzelnen Punkt. Zum Beispiel? Denken Sie an die Ernährung! Es gibt viele gute Regeln für gesunde Ernährung. Doch die für Sie optimale Ernährung hängt davon ab, welcher Stoffwechseltyp Sie sind. Welche Lebensmittel tun Ihnen gut - und welche nicht? Viele Sportler befolgen allgemeine Ernährungsempfehlungen. Das ist gut, reicht aber nicht aus. Zusammen mit anderen Experten stelle ich sie auf typgerechte Ernährung um. Daran schließt sich eine Der Motorsport erfordert höchste physische und mentale Leistung, Foto: Raimo Hübner projektManagementaktuell | AUSGABE 5.2019 40 WISSEN weitere Frage an: Wie sieht es mit der Vitaminversorgung aus? Menschen, die Leistung erbringen wollen, brauchen beispielsweise Vitamin D, das Sonnenvitamin. Ist die Mikronährstoffversorgung schlecht, kann ein Sportler an seiner mentalen Fitness arbeiten, wie er will. Er wird nicht vorankommen. Noch ein Beispiel: Bei der ganzheitlichen Körperanalyse - in Form von unterschiedlichen Messungen - stellen wir oft fest, dass der Sportler zu wenig Wasser im Körper hat. Drei Prozent zu wenig Wasser im Körper kann dazu führen, dass Sie nur noch 65 Prozent Ihrer Energie abrufen können. Wir brauchen Wasser beispielsweise für den Transport von elektrischen Signalen im Nervensystem. Man sagt, man soll täglich 30 ml je Kilogramm Körpergewicht trinken - unter normalen Umgebungsbedingungen. Für jemanden mit 80 Kilogramm Körpergewicht sind das 2,4 Liter. Trinken Sie so viel? Offen gesagt, nein. Ich bin aber auch kein Sportler! Ich beziehe dies alles nicht nur auf Sportler, sondern auf jeden, der Topleistungen erbringen will. Von Spitzensportlern können Sie lernen, wie Sie ganzheitlich Ihre Leistungsfähigkeit ausschöpfen. Wir alle wollen ja nicht nur Leistung erbringen, sondern auch in dem Beruf, den wir ausüben, noch eine Weile tätig sein. Deshalb ist auch die Regeneration so wichtig. Also Pause und Auszeit? Pause und Auszeit braucht man, keine Frage. Doch ich gehe an dieses Thema noch viel detaillierter heran. Ich spreche beispielsweise mit Sportlern über die Atmung. Atmung? Für Regeneration? Atmung trägt enorm zur Regeneration Ihres Organismus bei. Beim Einatmen beschleunigt sich die Herzfrequenz leicht, beim Ausatmen fällt sie. Beim Einatmen werden Sie auf vielleicht 80 oder 85 Schläge kommen, beim Ausatmen vielleicht auf 70 - je nachdem, wie trainiert Sie sind. DAS RICHTIGE ATMEN Sie meinen den Puls, den man mit einer Sportuhr misst? Sportuhren ermitteln nur den Durchschnittswert. Sie zeichnen nicht diese leichte Wellenbewegung in der Herzfrequenz auf, die durch das Atmen verursacht wird. Lernen Sportler das richtige Atmen, dann erhöht sich die Frequenz beim Einatmen, und die Frequenz beim Ausatmen sinkt weiter. Manche Sportler haben eine Frequenz von über 100, wenn sie einatmen - und unter 50 beim Ausatmen. Das Herz-Kreislauf-System kann sich dadurch viel besser regenerieren. Dafür aber muss man das richtige Atmen lernen. Ich hätte eher vermutet, dass mentales Training oder Meditation zur Regeneration führen. Das eine schließt das andere nicht aus. Wichtig ist, dass wir überhaupt an die Regeneration denken. In unserem autonomen Nervensystem gibt es zwei Spieler: den Sympathikus und den Parasympathikus. Der Sympathikus ist quasi unser Gaspedal. Er gibt unserem Organismus Energie. Drücke ich aber nur aufs Gaspedal und aktiviere nur den Sympathikus, dann kommt die Regeneration zu kurz. Für diese Regeneration ist der Parasympathikus zuständig. Wir müssen lernen, ihn zu aktivieren; er ist gewissermaßen die Bremse. Viele leistungsorientierte Menschen können aber nicht bremsen. Sie meinen, Regeneration besteht darin, nur einmal kurz vom Gas zu gehen. Sie wissen gar nicht, wie man richtig bremst. Arbeiten Sie mit Sportlern viel an dieser Bremse? Ja! Anderenfalls würden sie sich verschleißen. Die richtige Atmung ist ein Beispiel dafür; sie wirkt ja direkt auf das autonome Nervensystem. Wir setzen aber auch anders an. Wir trainieren, zu einer Art inneren Frieden zu finden. MEDITIEREN UND GEDANKEN BETRACHTEN Zum inneren Frieden finden - was ist damit gemeint? Einige Sportler meditieren. Sie lernen es, Gedanken nur zu betrachten und weiterziehen zu lassen. Ein Sportler geht dafür in die Berge, ein anderer ans Meer; manche brauchen nur eine Zimmerecke. Beim Meditieren stellt man fest: Ein Gedanke kommt, beschäftigt einen - und er geht auch wieder, wenn man sich von ihm nicht ergreifen lässt. Manche Sportler sind überrascht von der Kraft, die durch solch einen inneren Frieden ermöglicht wird. Früher haben sie sich über Kleinigkeiten aufgeregt; heute lassen sie Gedanken weiterziehen, die sie früher aus der Fassung gebracht haben. Dies ermöglicht Regeneration ... ... und vermutlich auch Stressbewältigung? Meditation und andere mentale Übungen machen uns resistenter gegen Stress. Stress fällt ja nicht vom Himmel. Er hat Auslöser, sogenannte Stressoren. Die Stressoren lösen eine Stressreaktion aus, was allerdings ein sehr individueller Vorgang ist. Durch unsere Erfahrungen sind wir geprägt, auf bestimmte Stressoren zu reagieren. Manche fühlen sich beispielsweise unter Stress gesetzt, weil sie nie gelernt haben, Nein zu sagen und sich abzugrenzen. Wenn wir solche Hintergründe kennen und wissen, weshalb wir auf einen Stressor mit Stress reagieren, dann sind wir einen Schritt weiter. Wir können also die Weise, wie wir auf Stressoren reagieren, verändern. Wir können lernen, anders mit Stressoren umzugehen. Augenblick! Jeder kennt das Gefühl, unter Zeitdruck zu stehen. Wir spüren den Stress geradezu körperlich und sehr tief in uns, oder? Genau in dieser tiefen, körperlichen Wirkung liegt die Gefahr von Stress. Stress zwingt uns zu instinktiven Verhaltensweisen aus grauer Vorzeit: Flucht, Verteidigung oder Totstellen. Solche Reaktionen würden uns wirklich helfen, wenn es um Leben oder Tod ginge. In einer Stresssituation wird blitzartig unser limbisches Gehirn aktiviert: Der Blutdruck steigt. Unsere Arme und Beine werden mit Blut versorgt, damit wir im Notfall weglaufen oder uns verteidigen können. Das rationale Denken hat darauf keinen Einfluss. Ganz im Gegenteil, es wird gedämpft. In Stressreaktionen folgen wir mehr den Automatismen als klarer Überlegung. Wir stehen unter Strom - und können trotzdem unser Leistungspotenzial nicht abrufen. Beim Boxsport ist dies ein ganz großes Thema. Da dürfen Stressgefühle nicht überkochen; sie würden den Sportler aus dem Flow bringen. Ähnliches habe ich auch im Rennsport beobachtet. STRESSREAKTION BEEINFLUSST KONZENTRATION Im Rennsport? Stellen Sie sich einen Rennfahrer vor, der in einer Runde mit 250 Stundenkilometern auf eine projektManagementaktuell | AUSGABE 5.2019 WISSEN 41 90-Grad-Kurve zufährt. 150 Meter vor der Kurve bremst er scharf ab und meistert danach die Kurve problemlos, wie im Flow. Ein Ingenieur aus seinem Team sagt ihm, er könne auch 30 Meter später bremsen. Doch der deutlich kürzere Bremsweg setzt den Fahrer unter starken Stress. Die Auswertung der Runden zeigt dann: Er ist zwar schneller auf die Kurve zugefahren, doch in der Kurve selbst hatte er dann Probleme. Die Stressreaktion hat seine Konzentration massiv beeinträchtigt. Viele Sportler wissen hinterher nicht mehr, wie sie genau in Stresssituationen gehandelt haben. Unter Stress schaltet unser Gehirn in einen Betriebsmodus, der uns aus dem Hier und Jetzt herausholt. Unter diesen Bedingungen ist Topperformance nicht mehr möglich. Wie gehen Sportler mit solchen akuten Stresssituationen um? Wir setzen stark auf „Separatoren“, die quasi einen Keil zwischen den Stressor und die Stressreaktionen treiben. Haben Sie schon einmal Menschen beobachtet, die sich stark erschrocken haben? Manche schlagen sich mit der flachen Hand auf die Brust. Das ist solch ein Separator, ein Trick, aus der Stresssituation herauszukommen. Der Schlag auf die Brust fährt den Körper wieder herunter. Andere versuchen, ihre Zehen zu bewegen, um wieder ins Hier und Jetzt zu gelangen. Oder jemand anderes holt sie etwa mit einem Schlag auf die Schulter heraus. Es gibt da durchaus wirksame Strategien. SELBSTVERTRAUEN UND INNERE BALANCE Sprechen wir bitte über weitere mentale Einflussfaktoren für Spitzenleistungen. Was gehört Ihrer Erfahrung auf die Liste der wichtigsten Faktoren? Selbstvertrauen und Selbstsicherheit sind sehr wichtig; beides hängt übrigens auch mit der inneren Balance und dem inneren Frieden zusammen. Ein weiterer Faktor ist die Balance zwischen dem Sport und dem Rest der Lebens; im Arbeitsleben wird dies auch als Work-Life-Balance bezeichnet. Ein weiterer Faktor: Selbstannahme und Selbstliebe. Selbstliebe? Mit Selbstliebe ist die Anerkennung der eigenen Person gemeint, das Einverständnis damit, wie man ist. Die Frage, ob man sich selbst ein guter Freund sein kann. Was gehört noch auf die Inventarliste mentaler Faktoren? Man braucht Partner auf Augenhöhe. Für Spitzensportler heißt dies, selbst die Augenhöhe zu halten und nicht abzuheben. Damit hängt dann auch die Verbundenheit zusammen: Fühlt man sich denen verbunden, mit denen man zusammen am Erfolg arbeitet? Verbunden etwa mit der eigenen Mannschaft, dem Trainer, anderen Teammitgliedern? Bei Meisterschaften können Sie häufig beobachten, dass zur Siegesfeier auch die aufs Feld geholt werden, die im Hintergrund an dem Sieg mitgewirkt haben oder nicht direkt auf den Erfolg Einfluss nehmen konnten. Diese Verbundenheit mit wirklich allen Beteiligten ist enorm wichtig. Sie haben bei Ihrem Vortrag auf dem Projektmanagement Forum im vergangenen Jahr den Begriff „unbewusste Kompetenz“ verwendet. Was ist damit gemeint? Angenommen, ein Sportler startet mit einer für ihn völlig neuen Sportart. Er stößt natürlich schnell an seine Grenzen. Er kommt nicht voran. Dies ärgert ihn; vielleicht hat er auch Angst zu versagen. Er ist in dieser Phase inkompetent, und er weiß nicht einmal genau, welche Kompetenz ihm fehlt. Er ist unbewusst inkompetent - ein völlig normaler Startpunkt für den Lernprozess. Dann fragt der Coach, weshalb sich der Sportler ärgert und Angst empfindet. Er redet mit dem Sportler; die Angst vergeht, und der Sportler entdeckt langsam, welche Kompetenzen ihm fehlen. Die Inkompetenz ist ihm jetzt bewusst. Und diese Inkompetenz löst jetzt keine starken Gefühle mehr aus. Der Sportler kommt aus einer Problemzone heraus und kann sich entwickeln. Er wird befähigt zur Leistung. Er verbessert sich. Aus der bewussten Inkompetenz wird langsam bewusste Kompetenz. UNBEWUSSTE KOMPETENZ ALS SCHLÜSSEL Welchen Nachteil hat diese bewusste Kompetenz? Der Sportler muss beispielsweise seine Bewegungen noch bewusst steuern. Er denkt viel nach - und das kostet Energie und Zeit. Dies ändert sich erst, wenn er allmählich unbewusst kompetent wird. Unbewusste Kompetenz ist das Ziel des Lernprozesses und des Trainings. Nach langem Training kommt der Sportler dazu, Bewegungen unbewusst auszuführen, quasi automatisch. Die unbewusste Kompetenz hat drei Vorteile: Sie funktioniert zuverlässig, unglaublich schnell - und sie spart sehr viel Energie. Unser Bewusstsein ist, verglichen mit dem Unbewussten, langsam und energieraubend. Jeder Spitzensportler will des- Gemeinsames Auswerten des Rennens, Foto: www.kraeling-foto.de projektManagementaktuell | AUSGABE 5.2019 42 WISSEN halb immer aus seinem Unbewussten heraus Leistung erbringen … … diese schlafwandlerische Sicherheit, von der immer wieder gesprochen wird ... Ja, genau darum geht es. Man sagt, dass man eine Bewegung - etwa einen Schlag im Tennis - eintausendmal wiederholen sollte. Dann beherrscht man sie unbewusst, und es entstehen diese Floweffekte, die im Hochleistungssport so wichtig sind. Der Sportler scheint sich auf dem Feld selbst vergessen zu haben. Er agiert und reagiert schlafwandlerisch. In diesem Flow sind die Sportler wirklich authentisch und in ihrem Element - so, als wären sie ein anderer Mensch. Ein anderer Mensch? In der Tat? Ich kenne Kampfsportler oder Rennfahrer, die der ideale Schwiegersohn wären. Freundlich, mitfühlend, zuvorkommend. Auf der Matte oder der Rennbahn verändern sie sich völlig. Sie nehmen eine ganz andere Identität an. Sie sind dann nicht mehr die Person, die man vielleicht aus dem Privatleben kennt. Vor dem Wettkampf ziehen sich manche Sportler zurück und finden sich bewusst in diese Identität ein. Kehren sie nach dem Wettbewerb wieder in ihre alte Identität zurück, sind sie von ihrer Topleistung abgeschnitten. Die Spitzenleistungen erzielen sie nur in ihrer Sportler-Identität. FLOW-ZUSTAND Was geschieht während dieses Flow-Zustands, in dem Sportler ihre „andere“ Identität haben? Das ist schwierig zu beschreiben. Die Sportler stehen unter Strom. Ihr Körper ist extrem aktiviert. Die Sportler sind vollständig präsent und können unbegrenzt auf ihre körperlichen und mentalen Ressourcen zugreifen. In diesem Moment ist auch die unbewusste Kompetenz aktiviert. Der Sportler denkt nicht darüber nach, was er gerade macht. Seine Abläufe sind vollkommen in sich automatisiert. Für einen Tennisspieler gibt es dann beispielsweise keine Zuschauer mehr, sondern nur noch den Ball und den Schläger, den er in der Hand hält. Seine Beine und Arme arbeiten von allein. Der Sportler ist allein damit beschäftigt, seinen Fokus zu halten. In diesem Flowzustand arbeitet sein Körper sehr sparsam und schonend. Er benutzt beispielsweise nur die Muskelgruppen, die er wirklich braucht. Fragt man den Sportler, wie er den Sieg erzielt hat … … dann kann er häufig diese Frage nicht beantworten. Er wird vielleicht antworten, dass für ihn die Dauer eines einstündigen Wettkampfs gefühlt zu drei Minuten geschrumpft ist - und er sich bei aller Anstrengung hervorragend gefühlt hat. Eine Abschlussfrage. Sie gehen beim Sportcoaching ganzheitlich vor. Sie drehen an über dreißig verschiedenen Stellschrauben, um die letzten drei Prozent des Leistungspotenzials zu heben. Kann man auf diese Weise wirklich zu einem Topperformer werden? Eine Garantie gibt es nicht! Auch viele Sportler stellen mir diese Frage. Ich antworte dann: Theoretisch, ja! Doch der Mensch ist eine Wundertüte ... ERFOLG UND LEISTUNG NICHT VORPROGRAMMIERBAR Eine Wundertüte? Es gibt einige wirklich gute Trainingsprogramme, beispielsweise eines aus Finnland, das ursprünglich in Russland für die Raumfahrt entwickelt wurde. Das Tool weist genau an, was wie an welchem Tag zu trainieren ist. Doch das ist keine Garantie. Sie können Erfolg und Leistungsentfaltung nicht vorprogrammieren. Ich kann einem Sportler nicht sagen, wann er seine Leistungsfähigkeit zu 100 Prozent erreicht und an der Spitze stehen wird. Da gibt es viele Unwägbarkeiten. Unwägbarkeiten - inwiefern? Stellen Sie sich einen Tennisstar vor: Er hat alles getan und wurde von einem Team von Coachs, Trainern, Medizinern und anderen Experten vorbereitet. Zu dem Match seines Lebens steht er auf dem Feld. Er ist hoch konzentriert, in bester Form. Dann, mitten im Match, klatscht jemand zu einer unpassenden Zeit. Diese kleine Störung irritiert den Sportler völlig. Er verliert für einen Augenblick seine Spannung und seinen Flow. Mit etwas Glück kommt er nach einigen Minuten wieder in den Flow. Doch für den Sieg ist es zu spät. Ich will damit sagen: Wenn Sie hart an sich arbeiten, die letzten Prozentpunkte Ihres Leistungsvermögens erschließen - dann ist das keine Garantie für den Erfolg. Aber ohne diese entschlossene, ganzheitliche Arbeit würden Sie vermutlich nie ein Topperformer werden. Preisausschreiben für Leser der Projektmanagement aktuell - „Open Day“ für Projektmanager mit Mirko Sellner Am 28. März 2020 laden wir fünf Leserinnen und Leser der Projektmanagement aktuell ein, einen Tag lang mit dem Topexperten Mirko Sellner zu arbeiten. Sie gehen im einzigartigen Rennsimulator an ihre persönlichen körperlichen und mentalen Grenzen. Sie werfen einen Blick hinter die Kulissen des Leistungssports. Sie kommen ihrer eigenen körperlichen und mentalen Fitness auf die Spur: Wie rufen Spitzensportler ihre Leistungsfähigkeit ab? Was lernen Projektmanager von ihnen? Welche Erfolgsfaktoren helfen, die eigene Performance nachhaltig aufzubauen? Wie halten Sie auch unter großem Druck Ihre Leistungsspitzen? Wir verlosen die Teilnahme am „Open Day“ mit dem Performance- und Mentaltrainer in Lengede (Nähe Hannover/ Braunschweig). An der Verlosung nehmen Sie teil, indem Sie uns eine E-Mail schreiben und uns mit drei Sätzen Ihre Motivation beschreiben: Weshalb wollen Sie am „Open Day“ dabei sein? Für die Gewinner ist die Teilnahme an der Veranstaltung frei; sie kommen für ihre individuelle Anreise nach Lengede und ggf. Übernachtung in einem Hotel vor Ort auf. Bei den Teilnehmern ist eine körperliche Grundfitness wünschenswert, aber keine Voraussetzung. Außerdem erklären sie sich damit einverstanden, dass wir über den „Open Day“ mit Mirko Sellner in Wort und Bild in der Projektmanagement aktuell berichten. Senden Sie Ihre E-Mail bis 30. Januar 2020 an: leseraktion@ pmaktuell.de - Alle bis zum Einsendeschluss eingegangenen E-Mails nehmen an der Verlosung teil. Über die Gewinner entscheidet das Los. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. projektManagementaktuell | AUSGABE 5.2019 WISSEN 43